Rezension von: Löwenfeld, L[eopold] ›Die psychischen Zwangserscheinungen‹ (1904-006/1904)

Über das Werk

Freud rezensierte 1904 Löwenfelds Band über Psychische Zwangserscheinungen und war zugleich selbst in gewisser Weise Beiträger: Der Text über die Freudsche Psychoanalytische Methode ist eine „Mitteilung des Autors“, wie in Klammern im Untertitel angeführt wird, und wurde von Freud selbst verfasst. Zuvor erschien 1901 Freuds Schrift Über den Traum in der Reihe Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, welche von Leopold Löwenfeld und Hans Kurella herausgegeben wurde. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis] der Reihe zeigt die thematischen und personellen Verschränkungen auf dem Gebiet von Traumforschung, Sexual- und Psychopathologie, aus welchen sich die Psychoanalyse konsolidierte.

Das Journal für Psychologie und Neurologie wurde von August Forel und Oskar Vogt seit 1902 herausgegeben und führte anfangs zusätzlich noch die Bandzählung der Vorgängerzeitschrift unter dem Titel Zeitschrift für Hypnotismus am Titelblatt. Hier hatte Freud bereits 1893 den Artikel Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über die Entstehung hysterischer Symptome durch den „Gegenwillen“ veröffentlicht. Tögel zufolge kannten sich Forel und Freud seit 1889. Er verweist auf das Netzwerk einflussreicher Schweizer Psychiater um August Forel, das Freud bewogen haben soll, seine Besprechung in einer Zeitschrift aus diesem namhaften Kontext zu publizierten (Tögel, Bd. 9, S. 131 ). Unter Forels Leitung der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (sog. „Burghölzli“) - Forel war Eugen Bleulers Vorgänger - hatte eine Gruppe von Schweizer Psychiatern begonnen, sich mit Psychoanalyse zu beschäftigen.

  • Herausgegeben von
  • Diercks, Christine
  • Rohrwasser, Michael
  • Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen, Referenzsystem
  • Diercks, Christine
  • Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie
  • Blatow, Arkadi
  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
  • Technische Umsetzung der Datenbank und der digitalen Instrumente
  • Roedelius, Julian
  • Datenexport aus Drupal und TEI Serialisierung
  • Andorfer, Peter
  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Rezension von: Löwenfeld, L[eopold] ›Die psychischen Zwangserscheinungen‹ (1904-006/1904). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1904-006__1904.xml
§ 1

REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE.

§ 2

Löwenfeld. Die psychischen Zwangserscheinungen. J. F. Bergmann, 1904.

§ 3

Das vorliegende Werk von Löwenfeld, das unter dem Titel „Die psychischen Zwangserscheinungen“ einen ansehnlichen Ausschnitt aus der Klinik und Symptomatologie der Neurosen behandelt, vereinigt von neuem alle die Vorzüge, durch welche die zusammenfassenden Darstellungen des Münchener Neuropathologen allen Fachgenossen wertvoll, ja unentbehrlich geworden sind. Die ganz außerordentliche Beherrschung der Literatur des Gegenstandes, der Reichtum an eigenen Beobachtungen, die Klarheit des Stils sollen aber den Leser nicht vergessen lassen, daß der Hauptwert des Buches nicht in diesen Eigenschaften des Kompilators, sondern in der unparteiisch besonnenen Kritik und in der durchaus selbständigen Auffassung des Autors gelegen ist. Als besonders dankenswert erscheint mir, daß Löwenfeld nicht seine Arbeitskraft an die Darstellung eines schon ungezählte Male behandelten Gegenstandes gewandt, sondern ein noch wenig erforschtes Gebiet ordnend und sichtend in Angriff genommen hat.

§ 4

Die Schwierigkeiten, die sich unter solchen Umständen dem Bearbeiter entgegenstellen, sind von nicht gewöhnlicher Art. Alle Definitionen sind schwankend, über die Abgrenzungen ist Einigkeit noch nicht erzielt worden. Was Löwenfeld als „psychischen Zwang“ behandelt, geht weit über den Umfang der sog. Zwangsvorstellungskrankheit hinaus und schließt noch die Phobien, einen Teil der Abulien und sämtliche neurotische Angstzustände, auch die Anfälle von „inhaltsloser“ Angst, mit ein. Für den Leser des Buches ergibt sich so ein unerwarteter Gewinn, für den Autor aber stellt sich die Unmöglichkeit her, über Mechanismus, Ätiologie und Verlauf der „psychischen Zwangserscheinungen“ etwas allgemein Zutreffendes auszusagen, da die in ihrem Wesen disparaten Affektionen sich auch in all diesen Momenten weit von einander entfernen.

§ 5

Löwenfeld hält seine, nach des Ref. Meinung künstliche, Einheit durch die Definition des psychischen Zwanges zusammen, als dessen Grundcharakter er die „Immobilität“, den Mangel der Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse betrachtet. Aber er anerkennt auch — gewiß mit Recht — Zwangsempfindungen und Zwangsaffekte, während wir gewohnt sind, von unserer normalen Willenstätigkeit nur die Verdrängung von Vorstellungen und Vorstellungskomplexen, nicht auch die Aufhebung von Empfindungen oder Gefühlen zu fordern. Wer an einem Angstanfall leidet, pflegt zu klagen, daß er sich so schlecht fühlt, nicht aber sich zu verwundern, daß er einen „Zwang“ nicht beseitigen kann. Bei konsequenter Anwendung seines Kriteriums hätte der Autor übrigens auch ein gutes Stück der hysterischen Symptomatologie mitbehandeln müssen, welchem der Charakter der Immobilität, der Unverdrängbarkeit durch Willenseinflüsse in ausgeprägtester Weise zukommt.

§ 6

Es war daher vielleicht nicht zweckmäßig, den Begriff „Zwang“ in seinem logischen Sinne zur Abgrenzung zu benützen. Es ist aber schwierig, derzeit etwas Besseres an die Stelle zu setzen. In Wirklichkeit ist die innere Verschiedenheit der vom Autor zusammengefaßten Affektionen leichter zu ahnen und aus gewissen Anzeichen zu erraten als klarzulegen. Die richtigen Unterscheidungen dürften sich erst angeben lassen, wenn der psychologische Mechanismus der einzelnen Formen genauer bekannt geworden ist. Im Mittelpunkte aller auf die Auffassung der Zwangsphänomene bezüglichen Fragen steht das Problem der neurotischen Angst. Mit der Aufklärung, woher diese Angst stammt, und unter welchen Bedingungen sie auftritt, wäre der Schüssel zum Verständnis der Psychoneurosen gewonnen. Ref. kann nur bedauern, daß der Autor auch diesmal der von ihm [Ref.] aufgestellten Formel nicht beigetreten ist, welche aussagt, daß die neurotische Angst somatischer Herkunft ist, aus dem Sexualleben stammt und einer verwandelten Libido entspricht. Die Richtigkeit oder wenigstens den heuristischen Wert dieser Aufstellung versuchte Ref. seinerzeit [1895] an dem Beispiel seiner „Angstneurose“ zu erweisen. Löwenfeld wendet gegen diese Ableitung der Angst ein, daß sich sexuelle Schädlichkeiten nicht in der Ätiologie aller Fälle von Angstneurose, sondern nur bei etwa 75% nachweisen lassen. Ref. akzeptiert diese Zahl; er möchte sich aber gegen den naheliegenden Vorwurf verwahren, daß er einer Theorie zuliebe gegen die Beobachtung verblendet wurde. Ref. hat die Fälle von Angstneurose ohne sexuelle Ätiologie bereits 1895 gekannt und gewürdigt, denn er sagt ausdrücklich in dem erwähnten Aufsatz über die Angstneurose: „Die letzte der anzuführenden ätiologischen Bedingungen scheint zunächst überhaupt nicht sexueller Natur zu sein. Die Angstneurose entsteht, und zwar bei beiden Geschlechtern, auch durch das Moment der Überarbeitung, erschöpfender Anstrengung z. B. nach Nachtwachen, Krankenpflegen und selbst nach schweren Krankheiten.“ Diese Stelle pflegen Kritiker im Interesse der Vereinfachung zu übersehen.

§ 7

Wenn die Theorie des Ref. trotzdem die neurotische Angst ganz allgemein [also auch in diesen Fällen] von der Libido ableitet, so scheint entweder eine Inkonsequenz des Ref. oder ein Mißverständnis seiner Kritiker unausweichlich. Es ist nicht schwer, das letztere aufzuzeigen. Ref. hat Ätiologie und Mechanismus begrifflich scharf geschieden, was seine Kritiker nicht tun. Er meint, bei der Angstneurose sei die Ätiologie des Krankheitsfalles nicht durchwegs eine sexuelle Schädlichkeit, wohl aber betreffe der Mechanismus der Störung regelmäßig die Sexualität. Diese Unterscheidung läuft auf die gewiß nicht unwahrscheinliche Annahme hinaus, daß die organisch-sexuellen Vorgänge ebensowohl durch Schädlichkeiten aus dem Sexualleben selbst wie auch durch tiefgreifende allgemeine Noxen eine Störung erfahren können, ähnlich wie z. B. die Vorgänge der Verdauungstätigkeit einerseits von den Ingesten aus, andererseits durch allgemeine toxische Erkrankungen, Kachexien und Blutveränderungen krankhaft verändert werden können.

§ 8

Ref. kennt auch die von Löwenfeld gegen ihn angeführten Fälle von Angstneurose mit erheblicher Steigerung anstatt einer Abnahme der Libido; er weiß aber, daß bei diesen nichts anderes als ein Oszillieren zwischen libidinöser und in Angst (teilweise) verwandelter Erregung vorliegt.

§ 9

Unter den Ursachen der Angstneurose hebt Löwenfeld ferner Schrecken und andere emotionelle Noxen hervor. Ref. muß nach seinen Untersuchungsergebnissen vielmehr behaupten, daß diese sehr häufig vor kommenden Fälle durchwegs die Reaktionen der Hysterie ergeben, also dieser Neurose zuzurechnen sind.

§ 10

Es ist unmöglich im Rahmen eines Referates auszuführen, welche Fülle von Mitteilungen und Anregungen das Buch von Löwenfeld über die psychischen Zwangserscheinungen enthält. Wir dürfen hoffen, daß seine Veröffentlichung eine außerordentliche Steigerung des Interesses für diese merkwürdigen und praktisch bedeutsamen Erkrankungsformen zur Folge haben wird. Sigm. Freud (Wien).

§ 11

JOURNAL

§ 12

FÜR

§ 13

PSYCHOLOGIE UND NEUROLOGIE

§ 14

BAND III

§ 15

ZUGLEICH ZEITSCHRIFT FÜR HYPNOTISMUS, BAND XIII

§ 16

HERAUSGEGEBEN VON

§ 17

AUGUST FOREL UND OSKAR VOGT

§ 18

REDIGIERT VON K. BRODMANN

§ 19

MIT 15 TAFELN

§ 20

LEIPZIG VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH 1904