Bruchstück einer Hysterie-Analyse (Schluss) (1905-005/1905.2)

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  • Blatow, Arkadi
  • Diplomatische Umschrift, Lektorat
  • Diercks, Christine
  • Huber, Christian
  • Kaufmann, Kira
  • Liepold, Sophie
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  • Stoxreiter, Daniel

Freud, Sigmund: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (Schluss) (1905-005/1905.2). In: Andorfer, Peter; Blatow, Arkadi; Diercks, Christine; Huber, Christian; Kaufmann, Kira; Liepold, Sophie; Roedelius, Julian; Rohrwasser, Michael; Stoxreiter, Daniel (2022): Sigmund Freud Edition: Digitale Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Wien. [3.4.2023], file:/home/runner/work/frd-static/frd-static/data/editions/plain/sfe-1905-005__1905.2.xml
§ 1

Bruchstück einer Hysterie-Analyse.

§ 2

Von

§ 3

Prof. Dr. SIGM. FREUD

§ 4

in Wien.

§ 5

(Schluss.)

§ 6

Ich erinnerte mich, seinerzeit auf der Charcotschen Klinik gesehen und gehört zu haben, dass bei den Personen mit hysterischem Mutismus das Schreiben vikariierend für die Sprache eintrat. Sie schrieben geläufiger, rascher und besser als andere und als vorhin. Dasselbe war bei Dora der Fall gewesen. In den ersten Tagen ihrer Aphonie war ihr „das Schreiben immer besonders leicht von der Hand gegangen“. Diese Eigentümlichkeit erforderte als der Ausdruck einer physiologischen Ersatzfunktion, welche sich das Bedürfnis schafft, ja eigentlich keine psychologische Aufklärung; es war aber bemerkenswert, dass eine solche doch leicht zu haben war. Herr K. schrieb ihr reichlich von der Reise, schickte ihr Ansichtskarten; es kam vor, dass sie allein von dem Termin seiner Rückkehr unterrichtet war, die Frau von ihm überrascht wurde. Dass man mit dem Abwesenden, den man nicht sprechen kann, korrespondiert, ist übrigens kaum weniger naheliegend, als dass man beim Versagen der Stimme sich durch die Schrift zu verständigen sucht. Die Aphonie Doras liess also folgende symbolische Deutung zu: Wenn der Geliebte ferne war, verzichtete sie auf das Sprechen; es hatte seinen Wert verloren, da sie mit ihm nicht sprechen konnte. Dafür bekam das Schreiben Bedeutung als das einzige Mittel, sich mit dem Abwesenden in Verkehr zu setzen.

§ 7

Werde ich nun etwa die Behauptung aufstellen, dass in allen Fällen von periodisch auftretender Aphonie die Diagnose auf die Existenz eines zeitweilig ortsabwesenden Geliebten zu stellen sei? Gewiss ist das nicht meine Absicht. Die Determination des Symptoms im Falle Doras ist allzu spezifiziert, als dass man an eine häufige Wiederkehr der nämlichen accidentellen Aetiologie denken könnte. Welchen Wert hat aber dann die Aufklärung der Aphonie in unserem Falle? Haben wir uns nicht vielmehr durch ein Spiel des Witzes täuschen lassen? Ich glaube, nicht. Man muss sich hierbei an die so häufig gestellte Frage erinnern, ob die Symptome der Hysterie psychischen oder somatischen Ursprungs seien, oder wenn das erstere zugestanden ist, ob sie notwendig alle psychisch bedingt seien. Diese Frage ist, wie so viele andere, an deren Beantwortung man die Forscher immer wieder sich erfolglos bemühen sieht, eine nicht adäquate. Der wirkliche Sachverhalt ist in ihre Alternative nicht eingeschlossen. Soviel ich sehen kann, bedarf jedes hysterische Symptom des Beitrages von beiden Seiten. Es kann nicht zustande kommen ohne ein gewisses somatisches Entgegenkommen, welches von einem normalen oder krankhaften Vorgang in oder an einem Organ des Körpers geleistet wird. Es kommt nicht öfter als einmal zustande — und zum Charakter des hysterischen Symptoms gehört die Fähigkeit, sich zu wiederholen —, wenn es nicht eine psychische Bedeutung, einen Sinn hat. Diesen Sinn bringt das hysterische Symptom nicht mit, er wird ihm verliehen, gleichsam mit ihm verlötet, und er kann in jedem Falle ein anderer sein, je nach der Beschaffenheit der nach Ausdruck ringenden unterdrückten Gedanken. Allerdings wirkt eine Reihe von Momenten darauf hin, dass die Beziehungen zwischen den unbewussten Gedanken und den ihnen als Ausdrucksmittel zu Gebote stehenden somatischen Vorgängen sich minder willkürlich gestalten und sich mehreren typischen Verknüpfungen annähern. Für die Therapie sind die im accidentellen psychischen Material gegebenen Bestimmungen die wichtigeren; man löst die Symptome, indem man nach der psychischen Bedeutung derselben forscht. Hat man dann abgeräumt, was durch Psychoanalyse zu beseitigenist, so kann man sich allerlei, wahrscheinlich zutreffende Gedanken über die somatischen, in der Regel konstitutionell-organischen Grundlagen der Symptome machen. Auch für die Anfälle von Husten mit Aphonie bei Dora werden wir uns nicht auf die psychoanalytische Deutung beschränken, sondern hinter derselben das organische Moment nachweisen, von dem das „somatische Entgegenkommen“ für den Ausdruck der Neigung zu einem zeitweilig abwesenden Geliebten ausging. Und wenn uns die Verknüpfung zwischen symptomatischem Ausdruck und unbewusstem Gedankeninhalt in diesem Falle als geschickt und kunstvoll gefertigt imponieren sollte, so werden wir gerne hören, dass sie den gleichen Eindruck in jedem anderen Falle, bei jedem anderen Beispiel zu erzielen vermag.

§ 8

Ich bin nun darauf vorbereitet, zu hören, dass es einen recht mässigen Gewinn bedeutet, wenn wir also, dank der Psychoanalyse, das Rätsel der Hysterie nicht mehr in der „besonderen Labilität der Nervenmoleküle“ oder in der Möglichkeit hypnoider Zustände, sondern im „somatischen Entgegenkommen“ suchen sollen.

§ 9

Gegen diese Bemerkung will ich doch betonen, dass das Rätsel so nicht nur um ein Stück zurückgeschoben, sondern auch um ein Stück verkleinert ist. Es handelt sich nicht mehr um das ganze Rätsel, sondern um jenes Stück desselben, in dem der besondere Charakter der Hysterie zum Unterschiede von anderen Psychoneurosen enthalten ist. Die psychischen Vorgänge bei allen Psychoneurosen sind eine ganze Strecke weit die gleichen, dann erst kommt das „somatische Entgegenkommen“ in Betracht, welches den unbewussten psychischen Vorgängen einen Ausweg ins Körperliche verschafft. Wo dies Moment nicht zu haben ist, wird aus dem ganzen Zustand etwas anderes als ein hysterisches Symptom, aber doch wieder etwas Verwandtes, eine Phobie etwa oder eine Zwangsidee, kurz ein psychisches Symptom.

§ 10

Ich kehre zu dem Vorwurf der „Simulation“ von Krankheiten zurück, den Dora gegen ihren Vater erhob. Wir merkten bald, dass ihm nicht nur Selbstvorwürfe betreffs früherer Krankheitszustände, sondern auch solche, die die Gegenwart meinten, entsprechen. An dieser Stelle hat der Arzt gewöhnlich die Aufgabe zu erraten und zu ergänzen, was ihm die Analyse nur in Andeutungen liefert. Ich musste die Patientin aufmerksam machen, dass ihr jetziges Kranksein gerade so motiviert und tendenziös sei wie das von ihr verstandene der Frau K. Es sei kein Zweifel, dass sie einen Zweck im Auge habe, den sie durch ihre Krankheit zu erreichen hoffe. Dieser könne aber kein anderer sein, als den Vater der Frau K. abwendig zu machen. Durch Bitten und Argumente gelänge ihr dies nicht; vielleicht hoffe sie es zu erreichen, indem sie den Vater in Schreck versetze (siehe den Abschiedsbrief), sein Mitleid wachrufe (durch die Anfälle von Ohnmacht), und wenn dies alles nichts nütze, so räche sie sichwenigstens an ihm. Sie wisse wohl, wie sehr er an ihr hänge, und dass ihm jedesmal die Tränen in die Augen treten, wenn er nach dem Befinden seiner Tochter gefragt werde. Ich sei ganz überzeugt, sie werde sofort gesund sein, wenn der Vater ihr erkläre, er bringe ihrer Gesundheit Frau K. zum Opfer. Ich hoffe, er werde sich dazu nicht bewegen lassen, denn dann habe sie erfahren, welches Machtmittel sie in Händen habe, und werde gewiss nicht versäumen, sich ihrer Krankheitsmöglichkeiten jedes künftige Mal wieder zu bedienen. Wenn aber der Vater ihr nicht nachgebe, sei ich ganz gefasst darauf, dass sie nicht so leicht auf ihr Kranksein verzichten werde.

§ 11

Ich übergehe die Einzelheiten, aus denen sich ergab, wie vollkommen richtig dies alles war, und ziehe es vor, einige allgemeine Bemerkungen über die Rolle der Krankheitsmotive bei der Hysterie anzuschliessen. Die Motive zum Kranksein sind begrifflich scharf zu scheiden von den Krankheitsmöglichkeiten, von dem Material, aus dem die Symptome gefertigt werden. Sie haben keinen Anteil an der Symptombildung, sind auch zu Anfang der Krankheit nicht vorhanden; sie treten erst sekundär hinzu, aber erst mit ihrem Auftreten ist die Krankheit voll konstituiert. Man kann auf ihr Vorhandensein in jedem Falle rechnen, der ein wirkliches Leiden bedeutet und von längerem Bestande ist. Das Symptom ist zuerst dem psychischen Leben ein unwillkommener Gast, es hat alles gegen sich und verschwindet darum auch so leicht von selbst, wie es den Anschein hat, durch den Einfluss der Zeit. Es hat anfangs keine nützliche Verwendung im psychischen Haushalt, aber sehr häufig gelangt es sekundär zu einer solchen; irgend eine psychische Strömung findet es bequem, sich des Symptoms zu bedienen, und damit ist dieses zu einer Sekundärfunktion gelangt und im Seelenleben wie verankert. Wer den Kranken gesund machen will, stösst dann zu seinem Erstaunen auf einen grossen Widerstand, der ihn belehrt, dass es dem Kranken mit der Absicht, das Leiden aufzugeben, nicht so ganz, so voll Ernst ist1)1). Man stelle sich einen Arbeiter, etwa einen Dachdecker, vor, der sich zum Krüppel gefallen hat und nun an der Strassenecke bettelnd sein Leben fristet. Man komme nun als Wundertäter und verspreche ihm, das krumme Bein gerade und gehfähig herzustellen. Ich meine, man darf sich nicht auf den Ausdruck besonderer Seligkeit in seiner Miene gefasst machen. Gewiss fühlte er sich äusserst unglücklich, als er die Verletzung erlitt, merkte, er werde nie wieder arbeiten können, und müsse verhungern oder von Almosen leben. Aber seither ist, was ihn zunächst erwerbslos machte, seine Einnahmsquelle geworden; er lebt von seiner Krüppelhaftigkeit. Nimmt man ihm die, so macht man ihn vielleicht ganz hilflos; er hat sein Handwerk unterdessen vergessen, seine Arbeitsgewohnheiten verloren, hat sich an den Müssiggang, vielleicht auch ans Trinken gewöhnt.

1) Ein Dichter, der allerdings auch Arzt ist, Arthur Schnitzler, hat dieser Erkenntnis in seinem „Paracelsus“ sehr richtigen Ausdruck gegeben. § 12

Die Motive zum Kranksein beginnen sich häufig schon in der Kindheit zu regen. Das liebeshungrige Kind, welches die Zärtlichkeit der Eltern ungern mit seinen Geschwistern teilt, bemerkt, dass diese ihm voll wieder zuströmt, wenn die Eltern durch seine Erkrankung in Sorge versetzt werden. Es kennt jetzt ein Mittel, die Liebe der Eltern hervorzulocken, und wird sich dessen bedienen, sobald ihm das psychische Material zu Gebote steht, um Kranksein zu produzieren. Wenn das Kind dann Frau geworden und ganz im Widerspruche zu den Anforderungen ihrer Kinderzeit mit einem wenig rücksichtsvollen Manne verheiratet ist, der ihren Willen unterdrückt, ihre Arbeitskraft schonungslos ausnützt und weder Zärtlichkeit noch Ausgaben an sie wendet, so wird das Kranksein ihre einzige Waffe in der Lebensbehauptung. Es verschafft ihr die ersehnte Schonung, es zwingt den Mann zu Opfern an Geld und Rücksicht, die er der Gesunden nicht gebracht hätte, es nötigt ihn zur vorsichtigen Behandlung im Falle der Genesung, denn sonst ist der Rückfall bereit. Das anscheinend Objektive, Ungewollte des Krankheitszustandes, für das auch der behandelnde Arzt eintreten muss, ermöglicht ihr ohne bewusste Vorwürfe diese zweckmässige Verwendung eines Mittels, das sie in den Kinderjahren wirksam gefunden hat.

§ 13

Und doch ist dieses Kranksein Werk der Absicht! Die Krankheitszustände sind in der Regel für eine gewisse Person bestimmt, sodass sie mit deren Entfernung verschwinden. Das roheste und banalste Urteil über das Kranksein der Hysterischen, das man von ungebildeten Angehörigen und von Wärterinnen hören kann, ist in gewissem Sinne richtig. Es ist wahr, dass die gelähmte Bettlägerige aufspringen würde, wenn im Zimmer Feuer ausbräche, dass die verwöhnte Frau alle Leiden vergessen würde, wenn ein Kind lebensgefährlich erkrankte oder eine Katastrophe die Stellung des Hauses bedrohte. Alle, die so von den Kranken sprechen, haben recht bis auf den einen Punkt, dass sie den psychologischen Unterschied zwischen Bewusstem und Unbewusstem vernachlässigen, was etwa beim Kind noch gestattet ist, beim Erwachsenen aber nicht mehr angeht. Darum können alle diese Versicherungen, dass es nur am Willen liege, und alle Aufmunterungen und Schmähungen der Kranken nichts nützen. Man muss erst versuchen, sie selbst auf dem Umweg der Analyse von der Existenz ihrer Krankheitsabsicht zu überzeugen.

§ 14

In der Bekämpfung der Krankheitsmotive liegt bei der Hysterie ganz allgemein die Schwäche einer jeden Therapie, auch der psychoanalytischen. Das Schicksal hat es hierin leichter, es braucht weder die Konstitution noch das pathogene Material des Kranken anzugreifen; es nimmt ein Motiv zum Kranksein weg, und der Kranke ist zeitweilig, vielleicht selbst dauernd von der Krankheit befreit. Wieviel weniger Wunderheilungen und spontanes Verschwinden von Symptomen würden wir Aerzte bei derHysterie gelten lassen, wenn wir häufiger Einsicht in die uns verheimlichten Lebensinteressen der Kranken bekämen! Hier ist ein Termin abgelaufen, die Rücksicht auf eine zweite Person entfallen, eine Situation hat sich durch äusseres Geschehen gründlich verändert, und das bisher hartnäckige Leiden ist mit einem Schlage gehoben, anscheinend spontan, in Wahrheit, weil ihm das stärkste Motiv, eine seiner Verwendungen im Leben, entzogen worden ist.

§ 15

Motive, die das Kranksein stützen, wird man wahrscheinlich in allen vollentwickelten Fällen antreffen. Aber es gibt Fälle mit rein innerlichen Motiven, wie z. B. Selbstbestrafung, also Reue und Busse. Man wird dann die therapeutische Aufgabe leichter lösbar finden, als wo die Krankheit in Beziehung zu der Erreichung eines äusseren Zieles gesetzt ist. Dies Ziel war für Dora offenbar, den Vater zu erweichen und ihn der Frau K. abwendig zu machen.

§ 16

Keine seiner Handlungen schien sie übrigens so sehr erbittert zu haben wie seine Bereitwilligkeit, die Szene am See für ein Produkt ihrer Phantasie zu halten. Sie geriet ausser sich, wenn sie daran dachte, sie sollte sich damals etwas eingebildet haben. Ich war lange Zeit in Verlegenheit, zu erraten, welcher Selbstvorwurf sich hinter der leidenschaftlichen Abweisung dieser Erklärung verberge. Man war im Rechte, etwas Verborgenes dahinter zu vermuten, denn ein Vorwurf, der nicht zutrifft, der beleidigt auch nicht nachhaltig. Andererseits kam ich zum Schlusse, dass die Erzählung Doras durchaus der Wahrheit entsprechen müsse. Nachdem sie nur seine Absicht verstanden, hatte sie ihn nicht ausreden lassen, hatte ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt und war davongeeilt. Ihr Benehmen erschien dem zurückbleibenden Manne damals wohl ebenso unverständlich wie uns, denn er musste längst aus unzähligen kleinen Anzeichen geschlossen haben, dass er der Neigung des Mädchens sicher sei. In der Diskussion über den zweiten Traum werden wir dann sowohl der Lösung dieses Rätsels als auch dem zunächst vergeblich gesuchten Selbstvorwurf begegnen.

§ 17

Als die Anklagen gegen den Vater mit ermüdender Monotonie wiederkehrten und der Husten dabei fortbestand, musste ich daran denken, dass dies Symptom eine Bedeutung haben könne, die sich auf den Vater beziehe. Die Anforderungen, die ich an eine Symptomerklärung zu stellen gewohnt bin, waren ohnedies lange nicht erfüllt. Nach einer Regel, die ich immer wieder bestätigt gefunden, aber allgemein aufzustellen noch nicht den Mut hatte, bedeutet ein Symptom die Darstellung — Realisierung — einer Phantasie mit sexuellem Inhalt, also eine sexuelle Situation. Ich würde besser sagen, wenigstens eine der Bedeutungen eines Symptoms entspricht der Darstellung einer sexuellen Phantasie, während für die anderen Bedeutungen solche Inhaltsbeschränkung nicht besteht. Dass ein Symptom mehr als eine Bedeutung hat, gleichzeitig mehreren unbewussten Gedankengängen zur Darstellungdient, erfährt man nämlich sehr bald, wenn man sich in die psychoanalytische Arbeit einlässt. Ich möchte noch hinzufügen, dass nach meiner Schätzung ein einziger unbewusster Gedankengang oder Phantasie kaum jemals zur Erzeugung eines Symptoms hinreichen wird.

§ 18

Die Gelegenheit, dem nervösen Husten eine solche Deutung durch eine phantasierte sexuelle Situation zuzuweisen, ergab sich sehr bald. Als sie wieder einmal betonte, Frau K. liebe den Papa nur, weil er ein vermögender Mann sei, merkte ich aus gewissen Nebenumständen ihres Ausdrucks, die ich hier wie das meiste rein Technische der Analysen-Arbeit übergehe, dass sich hinter dem Satze sein Gegenteil verberge: Der Vater sei ein unvermögender Mann. Dies konnte nur sexuell gemeint sein, also: Der Vater sei als Mann unvermögend, impotent. Nachdem sie diese Deutung aus bewusster Kenntnis bestätigt, hielt ich ihr vor, in welchen Widerspruch sie verfalle, wenn sie einerseits daran festhalte, das Verhältnis mit Frau K. sei ein gewöhnliches Liebesverhältnis, und anderseits behaupte, der Vater sei impotent, also unfähig, ein solches Verhältnis auszunützen. Ihre Antwort zeigte, dass sie den Widerspruch nicht anzuerkennen brauchte. Es sei ihr wohl bekannt, sagte sie, dass es mehr als eine Art der sexuellen Befriedigung gebe. Die Quelle dieser Kenntnis war ihr allerdings wieder unauffindbar. Als ich weiter fragte, ob sie die Inanspruchnahme anderer Organe als der Genitalien für den sexuellen Verkehr meine, bejahte sie, und ich konnte fortsetzen: dann denke sie gerade an jene Körperteile, die sich bei ihr in gereiztem Zustande befänden (Hals, Mundhöhle). Soweit wollte sie freilich von ihren Gedanken nichts wissen, aber sie durfte es sich auch gar nicht völlig klar gemacht haben, wann das Symptom ermöglicht sein sollte. Die Ergänzung war doch unabweisbar, dass sie sich mit ihrem stossweise erfolgenden Husten, der wie gewöhnlich einen Kitzel im Halse als Reizanlass angab, eine Situation von sexueller Befriedigung per os zwischen den zwei Personen vorstellte, deren Liebesbeziehung sie unausgesetzt beschäftigte. Dass die kürzeste Zeit nach dieser stillschweigend hingenommenen Aufklärung der Husten verschwunden war, stimmte natürlich recht gut; wir wollten aber nicht zu viel Wert auf diese Veränderung legen, weil sie ja schon so oft spontan eingetreten war.

§ 19

Wenn dieses Stückchen der Analyse bei dem ärztlichen Leser, ausser dem Unglauben, der ihm ja freisteht, Befremden und Grauen erregt haben sollte, so bin ich bereit, diese beiden Reaktionen an dieser Stelle auf ihre Berechtigung zu prüfen. Das Befremden denke ich mir motiviert durch mein Wagnis, mit einem jungen Mädchen — oder überhaupt einem Weib im Alter der Geschlechtlichkeit — von so heikeln und so abscheulichen Dingen zu reden. Das Grauen gilt wohl der Möglichkeit, dass ein unberührtes Mädchen von derlei Praktiken wissen und seine Phantasie mit ihnen beschäftigen könnte. In beiden Punkten würde ichzur Mässigung und Besonnenheit raten. Es liegt weder hier noch dort ein Grund zur Entrüstung vor. Man kann mit Mädchen und Frauen von allen sexuellen Dingen sprechen, ohne ihnen zu schaden, und ohne sich in Verdacht zu bringen, wenn man erstens eine gewisse Art, es zu tun, annimmt, und zweitens, wenn man bei ihnen die Überzeugung erwecken kann, dass es unvermeidlich ist. Unter denselben Bedingungen erlaubt sich ja auch der Gynäkologe, sie allen möglichen Entblössungen zu unterziehen. Die beste Art, von den Dingen zu reden, ist die trockene und direkte; sie ist gleichzeitig von der Lüsternheit, mit welcher die nämlichen Themata in der „Gesellschaft“ behandelt werden, und an die Mädchen wie Frauen sehr wohl gewöhnt sind, am weitesten entfernt. Ich gebe Organen wie Vorgängen ihre technischen Namen und teile dieselben mit, wo sie — die Namen — etwa unbekannt sind. „ "J’appelle un chat un chat" “. Ich habe wohl von ärztlichen und nichtärztlichen Personen gehört, welche sich über eine Therapie skandalisieren, in der solche Besprechungen vorkommen, und die entweder mich oder die Patienten um den Kitzel zu beneiden scheinen, der sich nach ihrer Erwartung dabei einstellt. Aber ich kenne doch die Wohlanständigkeit dieser Herren zu genau, um mich über sie zu erregen. Ich werde der Versuchung, eine Satyre zu schreiben, aus dem Wege gehen. Nur das eine will ich erwähnen, dass ich häufig die Genugtuung erfahre, von einer Patientin, der die Offenheit in sexuellen Dingen anfänglich nicht leicht geworden, späterhin den Ausruf zu hören: „Nein, Ihre Kur ist doch um vieles anständiger als die Gespräche des Herrn X.!“

§ 20

Von der Unvermeidlichkeit der Berührung sexueller Themata muss man überzeugt sein, ehe man eine Hysteriebehandlung unternimmt, oder muss bereit sein, sich durch Erfahrungen überzeugen zu lassen. Man sagt sich dann: pour faire une omelette, il faut casser des oeufs. Die Patienten selbst sind leicht zu überzeugen; der Gelegenheiten dazu gibt es im Laufe der Behandlung allzuviele. Man braucht sich keinen Vorwurf daraus zu machen, dass man Tatsachen des normalen oder abnormen Sexuallebens mit ihnen bespricht. Wenn man einigermaassen vorsichtig ist, übersetzt man ihnen bloss ins Bewusste, was sie im Unbewussten schon wissen, und die ganze Wirkung der Kur ruht ja auf der Einsicht, dass die Affektwirkungen einer unbewussten Idee stärker und, weil unhemmbar, schädlicher sind als die einer bewussten. Man läuft niemals Gefahr, ein unerfahrenes Mädchen zu verderben; wo auch im Unbewussten keine Kenntnis sexueller Vorgänge besteht, da kommt auch kein hysterisches Symptom zustande. Wo man Hysterie findet, kann von „Gedankenunschuld“ im Sinne der Eltern und Erzieher keine Rede mehr sein. Bei 10-, 12- und 14 jährigen Kindern, Knaben wie Mädchen, habe ich mich von der ausnahmslosen Verlässlichkeit dieses Satzes überzeugt.

§ 21

Was die zweite Gefühlsreaktion betrifft, die sich nicht mehr gegen mich, sondern gegen die Patienten, im Falle dass ich rechthaben sollte, richtet und den perversen Charakter von deren Phantasien grauenhaft findet, so möchte ich betonen, dass solche Leidenschaftlichkeit im Verurteilen dem Arzte nicht ansteht. Ich finde es auch unter anderem überflüssig, dass ein Arzt, der über die Verirrungen der sexuellen Triebe schreibt, jede Gelegenheit benutze, um in den Text den Ausdruck seines persönlichen Abscheues vor so widrigen Dingen einzuschalten. Hier liegt eine Tatsache vor, an die wir uns, mit Unterdrückung unserer Geschmacksrichtungen, hoffentlich gewöhnen werden. Was wir die sexuellen Perversionen heissen, die Ueberschreitungen der Sexualfunktion nach Körpergebiet und Sexualobjekt, davon muss man ohne Entrüstung reden können. Schon die Unbestimmtheit der Grenzen für das normal zu nennende Sexualleben bei verschiedenen Rassen und in verschiedenen Zeitepochen sollte die Eiferer abkühlen. Wir dürfen doch nicht daran vergessen, dass die uns widrigste dieser Perversionen, die sinnliche Liebe des Mannes für den Mann, bei einem uns so sehr kulturüberlegenen Volke wie den Griechen nicht nur geduldet, sondern selbst mit wichtigen sozialen Funktionen betraut war. Ein Stückchen weit, bald hier, bald dort, überschreitet jeder von uns die fürs Normale gezogenen engen Grenzen in seinem eigenen Sexualleben. Die Perversionen sind weder Bestialitäten, noch Entartungen im pathetischen Sinne des Wortes. Es sind Entwicklungen von Keimen, die sämtlich in der indifferenzierten sexuellen Anlage des Kindes enthalten sind, deren Unterdrückung oder Wendung auf höhere asexuelle Ziele — deren Sublimierung — die Kräfte für eine gute Anzahl unserer Kulturleistungen abzugeben bestimmt ist. Wo also jemand grob und manifest pervers geworden ist, da kann man richtiger sagen, er sei es geblieben, er stellt ein Stadium einer Entwicklungshemmung dar. Die Psychoneurotiker sind sämtlich Personen mit stark ausgebildeten, aber im Laufe der Entwicklung verdrängt und unbewusst gewordenen perversen Neigungen. Ihre unbewussten Phantasien weisen daher genau den nämlichen Inhalt auf wie die aktenmässig festgestellten Handlungen der Perversen, auch wenn sie die „Psychopathia sexualis“ von v. KrafftEbing, der naive Menschen soviel Mitschuld an der Entstehung perverser Neigungen zumessen, nicht gelesen haben. Die Psychoneurosen sind sozusagen das Negativ der Perversionen. Die sexuelle Konstitution, in welcher der Ausdruck der Heredität mitenthalten ist, wirkt bei den Neurotikern zusammen mit accidentellen Lebenseinflüssen, welche die Entfaltung der normalen Sexualität stören. Die Gewässer, die in dem einen Strombett ein Hindernis finden, werden in ältere, zum Verlassen bestimmte Stromläufe zurückgestaut. Die Triebkräfte für die Bildung hysterischer Symptome werden nicht nur von der verdrängten normalen Sexualität, sondern auch von den unbewussten perversen Regungen beigestellt1)1).

1) Diese Sätze über sexuelle Perversionen sind mehrere Jahre vor dem ausgezeichneten Buche von J. Bloch (Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis. 1902 u. 1903) niedergeschrieben worden. Vgl. auch meinein diesem Jahre (1905) erschienenen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, bei Fr. Deuticke, Wien. § 22

Die minder abstossenden unter den sog. sexuellen Perversionen erfreuen sich der grössten Verbreitung unter unserer Bevölkerung, wie jedermann mit Ausnahme des ärztlichen Autors über diese Gegenstände weiss. Oder vielmehr der Autor weiss es auch; er bemüht sich nur, es zu vergessen in dem Moment, da er die Feder zur Hand nimmt, um darüber zu schreiben. Es ist also nicht wunderbar, wenn unsere 19jährige Hysterica, die von dem Vorkommen eines solchen Sexualverkehrs (des Saugens am Gliede) gehört hat, eine solche unbewusste Phantasie entwickelt und durch die Sensation von Reiz im Halse und durch Husten zum Ausdruck bringt. Es wäre auch nicht wunderbar, wenn sie ohne äussere Aufklärung zu solcher Phantasie gekommen wäre, wie ich es bei anderen Patientinnen mit Sicherheit festgestellt habe. Die somatische Vorbedingung für solche selbständige Schöpfung einer Phantasie, die sich dann mit dem Tun der Perversen deckt, war nämlich bei ihr durch eine beachtenswerte Tatsache gegeben. Sie erinnerte sich sehr wohl, dass sie in ihren Kinderjahren eineLutscherin“ gewesen war. Auch der Vater erinnerte sich, dass er’s ihr abgewöhnt habe, als es sich bis ins 4. oder 5. Lebensjahr fortsetzte. Dora selbst hatte ein Bild aus ihren Kleinkinderjahren in klarem Gedächtnis, wie sie in einem Winkel auf dem Boden sass, an ihrem linken Daumen lutschend, während sie dabei mit der rechten Hand den ruhig dasitzenden Bruder am Ohrläppchen zupfte. Es ist dies die vollständige Art der Selbstbefriedigung durch Lutschen, die mir auch andere — später anästhetische und hysterische — Patienten berichtet haben. Von einer derselben habe ich eine Angabe erhalten, die ein helles Licht auf die Herkunft dieser sonderbaren Gewohnheit wirft. Die junge Frau, die sich das Lutschen überhaupt nie abgewöhnt hatte, sah sich in einer Kindererinnerung, angeblich aus der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres, an der Ammenbrust trinken und dabei die Amme rhythmisch am Ohrläppchen ziehen. Ich meine, es wird niemand bestreiten wollen, dass die Lippen- und Mundschleimhaut für eine primäre erogene Zone erklärt werden darf, da sie einen Teil dieser Bedeutung noch für den Kuss, der als normal gilt, beibehalten hat. Die frühzeitige ausgiebige Betätigung dieser erogenen Zone ist also die Bedingung für das spätere somatische Entgegenkommen von Seiten des mit den Lippen beginnenden Schleimhauttraktes. Wenn dann zu einer Zeit, wo das eigentliche Sexualobjekt, das männliche Glied, schon bekannt ist, sich Verhältnisse ergeben, welche die Erregung der erhalten gebliebenen erogenen Mundzone wieder steigern, so gehört kein grosser Aufwand von schöpferischer Kraft dazu, um an Stelle der ursprünglichen Brustwarze und des für sie vikariierenden Fingers das aktuelle Sexualobjekt, den Penis, in die Befriedigungssituation einzusetzen. So hat diese überaus anstössige perverse Phantasievom Saugen am Penis den harmlosesten Ursprung; sie ist die Umarbeitung eines prähistorisch zu nennenden Eindrucks vom Saugen an der Mutter- oder Ammenbrust, der gewöhnlich durch den Umgang mit gesäugten Kindern wieder belebt worden ist. Meist hat dabei das Euter der Kuh als passende Mittelvorstellung zwischen Brustwarze und Penis Dienste geleistet.

§ 23

Die eben besprochene Deutung der Halssymptome Doras kann auch noch zu einer anderen Bemerkung Anlass geben. Man kann fragen, wie sich diese phantasierte sexuelle Situation mit der anderen Erklärung verträgt, dass das Kommen und Gehen der Krankheitserscheinungen die Anwesenheit und Abwesenheit des geliebten Mannes nachahmt, also mit Einbeziehung des Benehmens der Frau den Gedanken ausdrückt: Wenn ich seine Frau wäre, würde ich ihn ganz anders lieben, krank sein (vor Sehnsucht etwa), wenn er verreist, und gesund (vor Seligkeit), wenn er wieder zu Hause ist. Darauf muss ich nach meinen Erfahrungen in der Lösung hysterischer Symptome antworten: es ist nicht notwendig, dass sich die verschiedenen Bedeutungen eines Symptoms miteinander vertragen, d. h. zu einem Zusammenhange ergänzen. Es genügt, wenn der Zusammenhang durch das Thema hergestellt ist, welches all den verschiedenen Phantasien den Ursprung gegeben hat. In unserem Falle ist solche Verträglichkeit übrigens nicht ausgeschlossen; die eine Bedeutung haftet mehr am Husten, die andere an der Aphonie und an dem Verlauf der Zustände; eine feinere Analyse hätte wahrscheinlich eine viel weitergehende Vergeistigung des Krankheitsdetails erkennen lassen. Wir haben bereits erfahren, dass ein Symptom ganz regelmässig mehreren Bedeutungen gleichzeitig entspricht; fügen wir nun hinzu, dass es auch mehreren Bedeutungen nach einander Ausdruck geben kann. Das Symptom kann eine seiner Bedeutungen oder seine Hauptbedeutung im Laufe der Jahre ändern, oder die leitende Rolle kann von einer Bedeutung auf eine andere übergehen. Es ist wie ein konservativer Zug im Charakter der Neurose, dass das einmal gebildete Symptom womöglich erhalten wird, mag auch der unbewusste Gedanke, der in ihm seinen Ausdruck fand, seine Bedeutung eingebüsst haben. Es ist aber auch leicht, diese Tendenz zur Erhaltung des Symptoms mechanisch zu erklären; die Herstellung eines solchen Symptoms ist so schwierig, die Uebertragung der rein psychischen Erregung ins Körperliche, was ich Konversion genannt habe, an soviel begünstigende Bedingungen gebunden, ein somatisches Entgegenkommen, wie man es zur Konversion bedarf, ist so wenig leicht zu haben, dass der Drang zur Abfuhr der Erregung aus dem Unbewussten dazu führt, sich womöglich mit dem bereits gangbaren Abfuhrweg zu begnügen. Viel leichter als die Schöpfung einer neuen Konversion scheint die Herstellung von Assoziationsbeziehungen zwischen einem neuen abfuhrbedürftigen Gedanken und dem alten, der diese Bedürftigkeit verloren hat. Auf dem so gebahnten Wege strömt die Erregung aus der neuen Erregungsquelle zur früheren Ausfuhrstellehin, und das Symptom gleicht, wie das Evangelium es ausdrückt, einem alten Schlauch, der mit neuem Wein gefüllt ist. Erscheint nach diesen Erörterungen auch der somatische Anteil des hysterischen Symptoms als das beständigere, schwerer ersetzbare, der psychische als das veränderliche, leichter zu vertretende Element, so möge man doch aus diesem Verhältnis keine Rangordnung zwischen den beiden ableiten wollen. Für die psychische Therapie ist allemal der psychische Anteil der bedeutsamere.

§ 24

Die unablässige Wiederholung derselben Gedanken über das Verhältnis ihres Vaters zu Frau K. bot der Analyse bei Dora die Gelegenheit zu noch anderer wichtiger Ausbeute.

§ 25

Ein solcher Gedankenzug darf ein überstarker, besser ein verstärkter, überwertiger im Sinne Wernickes, genannt werden. Er erweist sich als krankhaft, trotz seines anscheinend korrekten Inhalts, durch die eine Eigentümlichkeit, dass er trotz aller bewussten und willkürlichen Denkbemühungen der Person nicht zersetzt und nicht beseitigt werden kann. Mit einem normalen, noch so intensiven Gedankenzug wird man endlich fertig. Dora fühlte ganz richtig, dass ihre Gedanken über den Papa eine besondere Beurteilung herausforderten. „Ich kann an nichts anderes denken,“ klagte sie wiederholt. „Mein Bruder sagt mir wohl, wir Kinder haben kein Recht, diese Handlungen des Papas zu kritisieren. Wir sollen uns darum nicht kümmern und uns vielleicht sogar freuen, dass er eine Frau gefunden hat, an die er sein Herz hängen kann, da ihn die Mama doch so wenig versteht. Ich sehe das ein und möchte auch so denken wie mein Bruder, aber ich kann nicht. Ich kann es ihm nicht verzeihen.“1)1)

§ 26

Was tut man nun angesichts eines solchen überwertigen Gedankens, nachdem man dessen bewusste Begründung sowie die erfolglosen Einwendungen gegen ihn mitangehört hat? Man sagt sich, dass dieser überstarke Gedankenzug seine Verstärkung dem Unbewussten verdankt. Er ist unauflösbar für die Denkarbeit, entweder weil er selbst mit seiner Wurzel bis in’s unbewusste, verdrängte Material reicht oder weil sich ein anderer unbewusster Gedanke hinter ihm verbirgt. Letzterer ist dann meist sein direkter Gegensatz. Gegensätze sind immer eng mit einander verknüpft und häufig so gepaart, dass der eine Gedanke überstark bewusst, sein Widerpart aber verdrängt und unbewusst ist. Dieses Verhältnis ist ein Erfolg des Verdrängungsvorganges. Die Verdrängung nämlich ist häufig in der Weise bewerkstelligt worden, dass der Gegensatz des zu verdrängenden Gedankens übermässig gestärkt wurde. Ich heisse dies Reaktionsverstärkung, und den einen Gedanken, der sich im Bewussten überstark behauptet und nach Art eines Vorurteils unzersetzbar zeigt, den Reaktionsgedanken. Die beidenGedanken verhalten sich dann zu einander ungefähr wie die beiden Nadeln eines astatischen Nadelpaares.. Mit einem gewissen Ueberschuss an Intensität hält der Reaktionsgedanke den anstössigen in der Verdrängung zurück; er ist aber dadurch selbst gedämpft und gegen die bewusste Denkarbeit gefeit. Das Bewusstmachen des verdrängten Gegensatzes ist dann der Weg, um dem überstarken Gedanken seine Verstärkung zu entziehen.

1) Ein solcher überwertiger Gedanke ist nebst tiefer Verstimmung oft das einzige Symptom eines Krankheitszustandes, der gewöhnlich „Melancholie“ genannt wird, sich aber durch Psychoanalyse lösen lässt wie eine Hysterie. § 27

Man darf aus seinen Erwartungen auch den Fall nicht ausschliessen, dass nicht eine der beiden Begründungen der Überwertigkeit, sondern eine Konkurrenz von beiden vorliegt. Es können auch noch andere Komplikationen vorkommen, die sich aber leicht einfügen lassen.

§ 28

Versuchen wir es bei dem Beispiel, das uns Dora bietet, zunächst mit der ersten Annahme, dass die Wurzel ihrer zwangsartigen Bekümmerung um das Verhältnis des Vaters zu Frau K. ihr selbst unbekannt sei, weil sie im Unbewussten liege. Es ist nicht schwierig, diese Wurzel aus den Verhältnissen und Erscheinungen zu erraten. Ihr Benehmen ging offenbar weit über die Anteilssphäre der Tochter hinaus, sie fühlte und handelte vielmehr wie eine eifersüchtige Frau, wie man es bei ihrer Mutter begreiflich gefunden hätte. Mit ihrer Forderung: „Sie oder ich“, den Szenen, die sie aufführte, und der Selbstmorddrohung, die sie durchblicken liess, setzte sie sich offenbar an die Stelle der Mutter. Wenn die ihrem Husten zugrunde liegende Phantasie einer sexuellen Situation richtig erraten ist, so trat sie in derselben an die Stelle der Frau K. Sie identifizierte sich also mit den beiden, jetzt und früher vom Vater geliebten Frauen. Der Schluss liegt nahe, dass ihre Neigung in höherem Maasse dem Vater zugewendet war, als sie wusste oder gern zugegeben hätte, dass sie in den Vater verliebt war.

§ 29

Solche unbewusste, an ihren abnormen Konsequenzen kenntliche Liebesbeziehungen zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn habe ich als Auffrischung infantiler Empfindungskeime auffassen gelernt. Ich habe an anderer Stelle1)1) ausgeführt, wie frühzeitig die sexuelle Attraktion sich zwischen Eltern und Kindern geltend macht, und gezeigt, dass die Oedipusfabel wahrscheinlich als die dichterische Bearbeitung des Typischen an diesen Beziehungen zu verstehen ist. Diese frühzeitige Neigung der Tochter zum Vater, des Sohnes zur Mutter, von der sich wahrscheinlich bei den meisten Menschen eine deutliche Spur findet, muss bei den konstitutionell zur Neurose bestimmten, frühreifen und nach Liebe hungrigen Kindern schon anfänglich intensiver angenommen werden. Es kommen dann gewisse hier nicht zu besprechende Einflüsse zur Geltung, welche die rudimentäre Liebesregung fixieren oder so verstärken, dass noch in den Kinderjahren oder erst zur Zeit der Pubertät etwas aus ihr wird, was einer sexuellenNeigung gleichzustellen ist, und was, wie diese, die Libido für sich in Anspruch nimmt1)1). Die äusseren Verhältnisse bei unserer Patientin sind einer solchen Annahme nicht gerade ungünstig. Ihre Anlage hatte sie immer zum Vater hingezogen, seine vielen Erkrankungen mussten ihre Zärtlichkeit für ihn steigern; in manchen Krankheiten wurde niemand anders als sie von ihm zu den kleinen Leistungen der Krankenpflege zugelassen; stolz auf ihre frühzeitig entwickelte Intelligenz, hatte er sie schon als Kind zu seiner Vertrauten herangezogen. Durch das Auftreten von Frau K. war wirklich nicht die Mutter, sondern sie aus mehr als einer Stellung verdrängt worden.

1) In der „Traumdeutung“, p. 178 und in der dritten der „Abhandlungen zur Sexualtheorie“. § 30

Als ich Dora mitteilte, ich müsste annehmen, dass ihre Neigung zum Vater schon frühzeitig den Charakter voller Verliebtheit besessen habe, gab sie zwar ihre gewöhnliche Antwort: „Ich erinnere mich nicht daran“, berichtete aber sofort etwas Analoges von ihrer 7jährigen Cousine (von Mutterseite), in der sie häufig wie eine Spiegelung ihrer eigenen Kindheit zu sehen meinte. Die Kleine war wieder einmal Zeugin einer erregten Auseinandersetzung zwischen den Eltern gewesen und hatte Dora, die darauf zu Besuch kam, ins Ohr geflüstert: „Du kannst Dir nicht denken, wie ich diese Person (auf die Mutter deutend) hasse! Und wenn sie einmal stirbt, heirate ich den Papa.“ Ich bin gewohnt, in solchen Einfällen, die etwas zum Inhalt meiner Behauptung Stimmendes vorbringen, eine Bestätigung aus dem Unbewussten zu sehen. Ein anderes „Ja“ lässt sich aus dem Unbewussten nicht vernehmen; ein unbewusstes „Nein“ gibt es überhaupt nicht.

§ 31

Diese Verliebtheit in den Vater hatte sich Jahre hindurch nicht geäussert; vielmehr war sie mit derselben Frau, die sie beim Vater verdrängt hatte, eine lange Zeit im herzlichsten Einvernehmen gestanden und hatte deren Verhältnis mit dem Vater, wie wir aus ihren Selbstvorwürfen wissen, noch begünstigt. Diese Liebe war also neuerdings aufgefrischt worden, und wenn dies der Fall war, dürfen wir fragen, zu welchem Zwecke es geschah? Offenbar als Reaktionssymptom, um etwas anderes zu unterdrücken, was also im Unbewussten noch mächtig war. Wie die Dinge lagen, musste ich in erster Linie daran denken, dass die Liebe zu Herrn K. dieses Unterdrückte sei. Ich musste annehmen, ihre Verliebtheit dauere noch fort, habe aber seit der Szene am See — aus unbekannten Motiven — ein heftiges Sträuben gegen sich, und das Mädchen habe die alte Neigung zum Vater hervorgeholt und verstärkt, um von der ihr peinlich gewordenen Liebe ihrer ersten Mädchenjahre in ihrem Bewusstsein nichts mehr merken zu müssen. Dann bekam ich auch Einsicht in einen Konflikt, der geeignet war, das Seelenleben des Mädchens zu zerrütten. Sie war wohl einerseits voll Bedauern, den Antragdes Mannes zurückgewiesen zu haben, voll Sehnsucht nach seiner Person und den kleinen Zeichen seiner Zärtlichkeit; anderseits sträubten sich mächtige Motive, unter denen ihr Stolz leicht zu erraten war, gegen diese zärtlichen und sehnsüchtigen Regungen. So war sie dazu gekommen, sich einzureden, sie sei mit der Person des Herrn K. fertig — dies war ihr Gewinn bei diesem typischen Verdrängungsvorgang —, und doch musste sie zum Schutz gegen die beständig zum Bewusstsein andrängende Verliebtheit die infantile Neigung zum Vater anrufen und übertreiben. Dass sie dann fast unausgesetzt von eifersüchtiger Erbitterung beherrscht war, schien noch einer weiteren Determinierung fähig1)1).

1) Das hierfür entscheidende Moment ist wohl das frühzeitige Auftreten echter Genitalsensationen, sei es spontaner oder durch Verführung und Masturbation hervorgerufener. (Siehe unten.) § 32

Es widersprach keineswegs meiner Erwartung, dass ich mit dieser Darlegung bei Dora den entschiedensten Widerspruch hervorrief. Das „Nein“, das man vom Patienten hört, nachdem man seiner bewussten Wahrnehmung zuerst den verdrängten Gedanken vorgelegt hat, konstatiert bloss die Verdrängung und seine Entschiedenheit, misst gleichsam die Stärke derselben. Wenn man dieses Nein nicht als den Ausdruck eines unparteiischen Urteils, dessen der Kranke ja nicht fähig ist, auffasst, sondern darüber hinweggeht und die Arbeit fortsetzt, so stellen sich bald die ersten Beweise ein, dass Nein in solchem Falle das gewünschte Ja bedeutet. Sie gab zu, dass sie Herrn K. nicht in dem Maasse böse sein könne, wie er es um sie verdient habe. Sie erzählte, dass sie eines Tages auf der Strasse Herrn K. begegnet sei, während sie in Begleitung einer Cousine war, die ihn nicht kannte. Die Cousine rief plötzlich: „Dora, was ist Dir denn? Du bist ja totenbleich geworden!“ Sie hatte nichts von dieser Veränderung an sich gefühlt, musste aber von mir hören, dass Mienenspiel und Affektausdruck eher dem Unbewussten gehorchen als dem Bewussten und für das erstere verräterisch seien2)2). Ein andermal kam sie nach mehreren Tagen gleichmässig heiterer Stimmung in der bösesten Laune zu mir, für die sie eine Erklärung nicht wusste. Sie sei heute so zuwider, erklärte sie; es sei der Geburtstag des Onkels, und sie bringe es nicht über sich, ihm zu gratulieren; sie wisse nicht, warum. Meine Deutungskunst war an dem Tage stumpf; ich liess sie weitersprechen, und sie erinnerte sich plötzlich, dass heute ja auch Herr K. Geburtstag habe, was ich nicht versäumte, gegen sie zu verwerten. Es war dann auch nicht schwer zu erklären, warum die reichen Geschenke zu ihrem eigenen Geburtstage einige Tage vorher ihr keine Freude bereitet hatten. Es fehlte das eine Geschenk, das von Herrn K., welches ihr offenbar früher das wertvollste gewesen war.

§ 33

Indes hielt sie noch längere Zeit an ihrem Widerspruch gegen meine Behauptung fest, bis gegen Ende der Analyse der entscheidende Beweis für deren Richtigkeit geliefert wurde.

1) Welcher wir noch begegnen werden. 2) Vergl.: „ "Ruhig kann ich Euch erscheinen, Ruhig gehen sehen." § 34

Ich muss nun einer weiteren Komplikation gedenken, der ich gewiss keinen Raum gönnen würde, sollte ich als Dichter einen derartigen Seelenzustand für eine Novelle erfinden, anstatt ihn als Arzt zu zergliedern. Das Element, auf das ich jetzt hinweisen werde, kann den schönen, poesiegerechten Konflikt, den wir bei Dora annehmen dürfen, nur trüben und verwischen; es fiele mit Recht der Zensur des Dichters, der ja auch vereinfacht und abstrahiert, wo er als Psychologe auftritt, zum Opfer. In der Wirklichkeit aber, die ich hier zu schildern bemüht bin, ist die Komplikation der Motive, die Häufung und Zusammensetzung seelischer Regungen, kurz die Ueberdeterminierung Regel. Hinter dem überwertigen Gedankenzug, der sich mit dem Verhältnis des Vaters zu Frau K. beschäftigte, versteckte sich nämlich auch eine Eifersuchtsregung, deren Objekt diese Frau war — eine Regung also, die nur auf der Neigung zum gleichen Geschlecht beruhen konnte. Es ist längst bekannt und vielfach hervorgehoben, dass sich bei Knaben und Mädchen in den Pubertätsjahren deutliche Anzeichen von der Existenz gleichgeschlechtlicher Neigung auch normalerweise beobachten lassen. Die schwärmerische Freundschaft für eine Schulkollegin mit Schwüren, Küssen, dem Versprechen ewiger Korrespondenz und mit aller Empfindlichkeit der Eifersucht ist der gewöhnliche Vorläufer der ersten intensiveren Verliebtheit für einen Mann. Unter günstigen Verhältnissen versiegt die homosexuelle Strömung dann oft völlig; wo sich das Glück in der Liebe zum Mann nicht einstellt, wird sie oft noch in späteren Jahren von der Libido wieder geweckt und bis zu der oder jener Intensität gesteigert. Ist soviel bei Gesunden mühelos festzustellen, so werden wir im Anschlusse an frühere Bemerkungen über die bessere Ausbildung der normalen Perversionskeime bei den Neurotikern auch eine stärkere homosexuelle Anlage in deren Konstitution zu finden erwarten. Es muss wohl so sein, denn ich bin noch bei keiner Psychoanalyse eines Mannes oder Weibes durchgekommen, ohne eine solche recht bedeutsame homosexuelle Strömung zu berücksichtigen. Wo bei hysterischen Frauen und Mädchen die dem Manne geltende sexuelle Libido eine energische Unterdrückung erfahren hat, da findet man regelmässig die dem Weibe geltende durch Vikariieren verstärkt und selbst teilweise bewusst.

§ 35

Ich werde dieses wichtige und besonders für die Hysterie des Mannes zum Verständnis unentbehrliche Thema hier nicht weiter behandeln, weil die Analyse Doras zu Ende kam, ehe sie über diese Verhältnisse bei ihr Licht verbreiten konnte. Ich erinnere aber an jene Gouvernante, mit der sie anfangs im intimen Gedankenaustausch lebte, bis sie merkte, dass sie von ihr nicht ihrer eigenen Person, sondern des Vaters wegen geschätzt und gut behandelt worden sei. Dann zwang sie dieselbe, das Haus zu verlassen. Sie verweilte auch auffällig häufig und mit besonderer Betonung bei der Erzählung einer anderen Entfremdung, die ihr selbst rätselhaft vorkam. Mit ihrer zweiten Cousine, derselben, die später Braut wurde, hatte sie sich immer besonders gut verstanden und allerlei Geheimnisse mit ihr geteilt. Als nun der Vater zum erstenmal nach dem abgebrochenen Besuch am See wieder nach B. fuhr und Dora es natürlich ablehnte, ihn zu begleiten, wurde diese Cousine aufgefordert, mit dem Vater zu reisen, und nahm es an. Dora fühlte sich von da an erkältet gegen sie und verwunderte sich selbst, wie gleichgültig sie ihr geworden war, obwohl sie ja zugestand, sie könne ihr keinen grossen Vorwurf machen. Diese Empfindlichkeiten veranlassten mich, zu fragen, welches ihr Verhältnis zu Frau K. bis zum Zerwürfnis gewesen war. Ich erfuhr dann, dass die junge Frau und das kaum erwachsene Mädchen Jahre hindurch in der grössten Vertraulichkeit gelebt hatten. Wenn Dora bei den K. wohnte, teilte sie das Schlafzimmer mit der Frau; der Mann wurde ausquartiert. Sie war die Vertraute und Beraterin der Frau in allen Schwierigkeiten ihres ehelichen Lebens gewesen; es gab nichts, worüber sie nicht gesprochen hatten. Medea war ganz zufrieden damit, dass Kreusa die beiden Kinder an sich zog; sie tat gewiss auch nichts dazu, um den Verkehr des Vaters dieser Kinder mit dem Mädchen zu stören. Wie Dora es zustande brachte, den Mann zu lieben, über den ihre geliebte Freundin so viel Schlechtes zu sagen wusste, ist ein interessantes psychologisches Problem, das wohl lösbar wird durch die Einsicht, dass im Unbewussten die Gedanken besonders bequem neben einander wohnen, auch Gegensätze sich ohne Widerstreit vertragen, was ja oft genug auch noch im Bewussten so bleibt.

§ 36

Wenn Dora von Frau K. erzählte, so lobte sie deren „entzückend weissen Körper“ in einem Ton, der eher der Verliebten als der besiegten Rivalin entsprach. Mehr wehmütig als bitter teilte sie mir ein andermal mit, sie sei überzeugt, dass die Geschenke, die der Papa ihr gebracht, von Frau K. besorgt worden seien; sie erkenne deren Geschmack. Ein andermal hob sie hervor, dass ihr offenbar durch die Vermittlung von Frau K. Schmuckgegenstünde zum Geschenk gemacht worden seien, ganz ähnlich wie die, welche sie bei Frau K. gesehen und sich damals laut gewünscht habe. Ja, ich muss überhaupt sagen, ich hörte nicht ein hartes oder erbostes Wort von ihr über die Frau, in der sie doch nach dem Standpunkt ihrer überwertigen Gedanken die Urheberin ihres Unglücks hätte sehen müssen. Sie benahm sich wie inkonsequent, aber die scheinbare Inkonsequenz war eben der Ausdruck einer komplizierenden Gefühlsströmung. Denn wie hatte sich die schwärmerisch geliebte Freundin gegen sie benommen? Nachdem Dora ihre Beschuldigung gegen Herrn K. vorgebracht und dieser vom Vater schriftlich zur Rede gestellt wurde, antwortete er zuerst mit Beteuerungen seiner Hochachtung und erbot sich, nach der Fabrikstadt zu kommen, um alle Missverständnisse aufzuklären. Einige Wochen später, als ihn der Vater in B. sprach, war von Hochachtung nicht mehr die Rede. Er setzte das Mädchen herunter und spielte als Trumpf aus: Ein Mädchen,das solche Bücher liest und sich für solche Dinge interessiert, das hat keinen Anspruch auf die Achtung eines Mannes. Frau K. hatte sie also verraten und angeschwärzt; nur mit ihr hatte sie über Mantegazza und über verfängliche Themata gesprochen. Es war wieder derselbe Fall wie mit der Gouvernante; auch Frau K. hatte sie nicht um ihrer eigenen Person willen geliebt, sondern wegen des Vaters. Frau K. hatte sie unbedenklich geopfert, um in ihrem Verhältnis mit dem Vater nicht gestört zu werden. Vielleicht, dass diese Kränkung ihr näher ging, pathogen wirksamer als die andere, mit der sie jene verdecken wollte, dass der Vater sie geopfert. Wies nicht die eine so hartnäckig festgehaltene Amnesie in Betreff der Quellen ihrer verfänglichen Kenntnis direkt auf den Gefühlswert der Beschuldigung und demnach auf den Verrat durch die Freundin hin?

§ 37

Ich glaube also mit der Annahme nicht irre zu gehen, dass der überwertige Gedankenzug Doras, der sich mit dem Verhältnis des Vaters zu Frau K. beschäftigte, bestimmt war nicht nur zur Unterdrückung der einst bewusst gewesenen Liebe zu Herrn K., sondern auch die in tieferem Sinne unbewusste Liebe zu Frau K. zu verdecken hatte. Zu letzterer Strömung stand er im Verhältnis des direkten Gegensatzes. Sie sagte sich unablässig vor, dass der Papa sie dieser Frau geopfert habe, demonstrierte geräuschvoll, dass sie ihr den Besitz des Papas nicht gönne, und verbarg sich so das Gegenteil, dass sie dem Papa die Liebe dieser Frau nicht gönnen konnte und der geliebten Frau die Enttäuschung über ihren Verrat nicht vergeben hatte. Die eifersüchtige Regung des Weibes war im Unbewussten an eine wie von einem Manne empfundene Eifersucht gekoppelt. Diese männlichen oder, wie man besser sagt, gynäkophilen Gefühlsströmungen sind für das unbewusste Liebesleben der hysterischen Mädchen als typisch zu betrachten.

§ 38

II.

§ 39

Der erste Traum.

§ 40

Als wir gerade Aussicht hatten, einen dunklen Punkt in dem Kindesleben Doras durch das Material, welches sich zur Analyse drängte, aufzuhellen, berichtete Dora, sie habe einen Traum, den sie in genau der nämlichen Weise schon wiederholt geträumt, in einer der letzten Nächte neuerlich gehabt. Ein periodisch wiederkehrender Traum war schon dieses Charakters wegen besonders geeignet, meine Neugierde zu wecken; im Interesse der Behandlung durfte man ja die Einflechtung dieses Traumes in den Zusammenhang der Analyse ins Auge fassen. Ich beschloss also, diesen Traum besonders sorgfältig zu erforschen.

§ 41

I. Traum: „In einem Haus brennt es1)1), erzählte Dora, der Vater steht vor meinem Bett und weckt mich auf. Ichkleide mich schnell an. Die Mama will noch ihr Schmuckkästchen retten, der Papa sagt aber: Ich will nicht, dass ich und meine beiden Kinder wegen Deines Schmuckkästchens verbrennen. Wir eilen herunter, und sowie ich draussen bin, wache ich auf.

1) Es hat nie bei uns einen wirklichen Brand gegeben, antwortete sie dann auf meine Erkundigung. § 42

Da es ein wiederkehrender Traum ist, frage ich natürlich, wann sie ihn zuerst geträumt. — Das weiss sie nicht. Sie erinnert sich aber, dass sie den Traum in L. (dem Orte am See, wo die Szene mit Herrn K. vorfiel) in drei Nächten hintereinander gehabt, dann kam er vor einigen Tagen hier wieder1)1). — Die so hergestellte Verknüpfung des Traumes mit den Ereignissen in L. erhöht natürlich meine Erwartungen in Betreff der Traumlösung. Ich möchte aber zunächst den Anlass für seine letzte Wiederkehr erfahren und fordere darum Dora, die bereits durch einige kleine, vorher analysierte Beispiele für die Traumdeutung geschult ist, auf, sich den Traum zu zerlegen und mir mitzuteilen, was ihr zu ihm einfällt.

§ 43

Sie sagt: „Etwas, was aber nicht dazu gehören kann, denn es ist ganz frisch, während ich den Traum gewiss schon früher gehabt habe.“

§ 44

Das macht nichts, nur zu; es wird eben das letzte dazu Passende sein.

§ 45

„Also, der Papa hat in diesen Tagen mit der Mama einen Streit gehabt, weil sie nachts das Speisezimmer absperrt. Das Zimmer meines Bruders hat nämlich keinen eigenen Ausgang, sondern ist nur durchs Speisezimmer zugänglich. Der Papa will nicht, dass der Bruder bei Nacht so abgesperrt sein soll. Er hat gesagt, das ginge nicht; es könnte doch bei Nacht etwas passieren, dass man hinaus muss.“

§ 46

Das haben Sie nun auf Feuersgefahr bezogen?

§ 47

„Ja.“

§ 48

Ich bitte Sie, merken Sie sich Ihre eigenen Ausdrücke wohl. Wir werden sie vielleicht brauchen. Sie haben gesagt: Dass bei Nacht etwas passieren kann, dass man hinaus muss2)2).

§ 49

Dora hat nun aber die Verbindung zwischen dem rezenten und den damaligen Anlässen für den Traum gefunden, denn sie fährt fort: „Als wir damals in L. ankamen, der Papa und ich, hat er die Angst vor einem Brand direkt geäussert. Wir kamen in einem heftigen Gewitter an, sahen das kleine Holzhäuschen, das keinen Blitzableiter hatte. Da war diese Angst ganz natürlich.“

1) Es lässt sich aus dem Inhalt nachweisen, dass der Traum in L. zuerst geträumt worden ist. 2) Ich greife diese Worte heraus, weil sie mich stutzig machen. Sie klingen mir zweideutig. Spricht man nicht mit denselben Worten von gewissen körperlichen Bedürfnissen? Zweideutige Worte sind aber wieWechsel“ für den Assoziationsverlauf. Stellt man den Wechsel anders, als er im Trauminhalt eingestellt scheint, so kommt man wohl auf das Geleise, auf dem sich die gesuchten und noch verborgenen Gedanken hinter dem Traum bewegen. § 50

Es liegt mir nun daran, die Beziehung zwischen den Ereignissen in L. und den damaligen gleichlautenden Träumen zu ergründen. Ich frage also: Haben Sie den Traum in den ersten Nächten in L. gehabt oder in den letzten vor ihrer Abreise, also vor oder nach der bekannten Szene im Walde? (Ich weiss nämlich, dass die Szene nicht gleich am ersten Tage vorfiel und dass sie nach derselben noch einige Tage in L. verblieb, ohne etwas von dem Vorfall merken zu lassen.)

§ 51

Sie antwortet zuerst: Ich weiss nicht. Nach einer Weile: Ich glaube doch, nachher.

§ 52

Nun wusste ich also, dass der Traum eine Reaktion auf jenes Erlebnis war. Warum kehrte er aber dort dreimal wieder? Ich fragte weiter: Wie lange sind Sie noch nach der Szene in L. geblieben?

§ 53

„Noch 4 Tage, am fünften bin ich mit dem Papa abgereist.“

§ 54

Jetzt bin ich sicher, dass der Traum die unmittelbare Wirkung des Erlebnisses mit Herrn K. war. Sie haben ihn dort zuerst geträumt, nicht früher. Sie haben die Unsicherheit im Erinnern nur hinzugefügt, um sich den Zusammenhang zu verwischen1)1). Es stimmt mir aber noch nicht ganz mit den Zahlen. Wenn Sie noch 4 Nächte in L. blieben, können Sie den Traum 4 mal wiederholt haben. Vielleicht war es so?

§ 55

Sie widerspricht nicht mehr meiner Behauptung, setzt aber, anstatt auf meine Frage zu antworten, fort2)2): „Am Nachmittag nach unserer Seefahrt, von der wir, Herr K. und ich, mittags zurückkamen, hatte ich mich wie gewöhnlich auf das Sofa im Schlafzimmer gelegt, um kurz zu schlafen. Ich erwachte plötzlich und sah Herrn K. vor mir stehen . . .“

§ 56

Also wie Sie im Traum den Papa vor Ihrem Bett stehen sehen?

§ 57

„Ja. Ich stellte ihn zu Rede, was er hier zu suchen habe. Er gab zur Antwort, er lasse sich nicht abhalten, in sein Schlafzimmer zu gehen, wann er wolle; übrigens habe er etwas holen wollen. Dadurch vorsichtig gemacht, habe ich Frau K. gefragt, ob denn kein Schlüssel zum Schlafzimmer existiert, und habe mich am nächsten Morgen (am 2. Tag) zur Toilette eingeschlossen. Als ich mich dann nachmittags einschliessen wollte, um mich wieder aufs Sofa zu legen, fehlte der Schlüssel. Ich bin überzeugt, Herr K. hatte ihn beseitigt.“

§ 58

Das ist also das Thema vom Verschliessen oder Nichtverschliessen des Zimmers, das im Traume vorkommt und das zufällig auch im frischen Anlass zum Traum eine Rolle gespielt hat3)3). Sollte der Satz: ich kleide mich schnell an, auch in diesen Zusammenhang gehören?

1) Vergl. das eingangs Seite 292 über den Zweifel beim Erinnern Gesagte. 2) Es muss nämlich erst neues Erinnerungsmaterial kommen, ehe die von mir gestellte Frage beantwortet werden kann. 3) Ich vermute, ohne es noch Dora zu sagen, dass dies Element wegen einer symbolischen Bedeutung von ihr ergriffen wurde. „Zimmer“ im Traum wollen recht häufig „Frauenzimmer“ vertreten, und ob ein Frauenzimmer „offen“ oder „verschlossen“ ist, kann natürlich nicht gleichgültig sein. Auch welcher „Schlüssel“ in diesem Falle öffnet, ist wohlbekannt. § 59

„Damals nahm ich mir vor, nicht ohne den Papa bei K. zu bleiben. An den nächsten Morgen musste ich fürchten, dass mich Herr K. bei der Toilette überrasche, und kleidete mich darum immer sehr schnell an. Der Papa wohnte ja im Hotel, und Frau K. war immer schon früh weggegangen, um mit dem Papa eine Partie zu machen. Herr K. belästigte mich aber nicht wieder.“

§ 60

Ich verstehe, Sie fassten am Nachmittag des zweiten Tages den Vorsatz, sich diesen Nachstellungen zu entziehen, und haben nun in der zweiten, dritten und vierten Nacht nach der Szene im Walde Zeit, sich diesen Vorsatz im Schlaf zu wiederholen. Dass Sie am nächsten — dritten — Morgen den Schlüssel nicht haben würden, um sich beim Ankleiden einzuschliessen, wussten Sie ja schon am zweiten Nachmittag, also vor dem Traum, und konnten sich vornehmen, die Toilette möglichst zu beeilen. Ihr Traum kam aber jede Nacht wieder, weil er eben einem Vorsatz entsprach. Ein Vorsatz bleibt so lange bestehen, bis er ausgeführt ist. Sie sagten sich gleichsam: Ich habe keine Ruhe, ich kann keinen ruhigen Schlaf finden, bis ich nicht aus diesem Hause heraus bin. Umgekehrt erzählen Sie vom Traum: Sowie ich draussen bin, wache ich auf.

§ 61

Ich unterbreche hier die Mitteilung der Analyse, um dieses Stückchen einer Traumdeutung an meinen allgemeinen Sätzen über Mechanismus der Traumbildung zu messen, Ich habe in meinem Buche1)1) ausgeführt, jeder Traum sei ein als erfüllt dargestellter Wunsch, die Darstellung sei eine verhüllende, wenn der Wunsch ein verdrängter, dem Unbewussten angehöriger sei, und ausser bei den Kinderträumen habe nur der unbewusste oder bis ins Unbewusste reichende Wunsch die Kraft, einen Traum zu bilden. Ich glaube, die allgemeine Zustimmung wäre mir sicherer gewesen, wenn ich mich begnügt hätte, zu behaupten, dass jeder Traum einen Sinn habe, der durch eine gewisse Deutungsarbeit aufzudecken sei. Nach vollzogener Deutung könne man den Traum durch Gedanken ersetzen, die sich an leicht kenntlicher Stelle in das Seelenleben des Wachens einfügen. Ich hätte dann fortfahren können, dieser Sinn des Traumes erweise sich als ebenso mannigfaltig wie eben die Gedankengänge des Wachens. Es sei das eine Mal ein erfüllter Wunsch, das andere Mal eine verwirklichte Befürchtung, dann etwa eine im Schlaf fortgesetzte Ueberlegung, ein Vorsatz (wie bei Doras Traum), ein Stück geistigen Produzierens im Schlafe u. s. w. Diese Darstellung hätte gewiss durch ihre Fasslichkeit bestochen und hätte sich auf eine grosse Anzahl gut gedeuteter Beispiele, wie z. B. auf den hier analysierten Traum, stützen können.

§ 62

Anstatt dessen habe ich eine allgemeine Behauptung aufgestellt, die den Sinn der Träume auf eine einzige Gedankenform,auf die Darstellung von Wünschen einschränkt, und habe die allgemeinste Neigung zum Widerspruche wachgerufen. Ich muss aber sagen, dass ich weder das Recht noch die Pflicht zu besitzen glaubte, einen Vorgang der Psychologie zur grösseren Annehmlichkeit der Leser zu vereinfachen, wenn er meiner Untersuchung eine Komplikation bot, deren Lösung zur Einheitlichkeit erst an anderer Stelle gefunden werden konnte. Es wird mir darum von besonderem Werte sein zu zeigen, dass die scheinbaren Ausnahmen, wie Doras Traum hier, der sich zunächst als ein in den Schlaf fortgesetzter Tagesvorsatz enthüllt, doch die bestrittene Regel neuerdings bekräftigen.

1) Die Traumdeutung. 1900. § 63

Wir haben ja noch ein grosses Stück des Traumes zu deuten. Ich fragte weiter: Was ist es mit dem Schmuckkästchen, das die Mama retten will?

§ 64

„Die Mama liebt Schmuck sehr und hat viel vom Papa bekommen.“

§ 65

Und Sie?

§ 66

„lch habe Schmuck früher auch sehr geliebt; seit der Krankheit trage ich keinen mehr. — Da gab es damals vor 4 Jahren (1 Jahr vor dem Traum) einen grossen Streit zwischen Papa und Mama wegen eines Schmuckes. Die Mama wünschte sich etwas Bestimmtes, Tropfen von Perlen im Ohr zu tragen. Der Papa liebt aber dergleichen nicht und brachte ihr anstatt der Tropfen ein Armband. Sie war wütend und sagte ihm, wenn er schon soviel Geld ausgegeben habe, um etwas zu schenken, was sie nicht möge, so solle er es nur einer anderen schenken.“

§ 67

Da werden Sie sich gedacht haben, Sie nähmen es gerne?

§ 68

„Ich weiss nicht1)1), weiss überhaupt nicht, wie die Mama in den Traum kommt; sie war doch damals nicht mit in L.2)2).“

§ 69

Ich werde es Ihnen später erklären. Fällt Ihnen denn nichts anderes zum Schmuckkästchen ein? Bis jetzt haben Sie nur von Schmuck und nichts von einem Kästchen gesprochen.

§ 70

„Ja, Herr K. hatte mir einige Zeit vorher ein kostbares Schmuckkästchen zum Geschenk gemacht.“

§ 71

Da war das Gegengeschenk also wohl am Platze. Sie wissen vielleicht nicht, dass „Schmuckkästchen“ eine beliebte Bezeichnung für dasselbe ist, was Sie unlängst mit dem angehängten Täschchen angedeutet haben3)3), für das weibliche Genitale.

§ 72

„Ich wusste, dass Sie das sagen würden4)4).“

1) Ihre damals gewöhnliche Redensart, etwas Verdrängtes anzuerkennen. 2) Diese Bemerkung, die von gänzlichem Missverständnisse der ihr sonst wohlbekannten Regeln der Traumerklärung zeugt, sowie die zögernde Art und die spärliche Ausbeute ihrer Einfälle zum Schmuckkästchen bewiesen mir, dass es sich hier um Material handle, das mit grossem Nachdruck verdrängt worden sei. 3) Ueber dies Täschchen siehe weiter unten. 4) Eine sehr häufige Art, eine aus dem Verdrängten auftauchende Kenntnis von sich wegzuschieben. § 73

Das heisst, Sie wussten es. — Der Sinn des Traumes wird nun noch deutlicher. Sie sagten sich: Der Mann stellt mir nach, er will in mein Zimmer dringen, meinem „Schmuckkästchen“ droht Gefahr, und wenn da ein Malheur passiert, wird es die Schuld des Papas sein. Darum haben Sie in den Traum eine Situation genommen, die das Gegenteil ausdrückt, eine Gefahr, aus welcher der Papa Sie rettet. In dieser Region des Traumes ist überhaupt alles ins Gegenteil verwandelt; Sie werden bald hören, warum. Das Geheimnis liegt allerdings bei der Mama. Wie die Mama dazu kommt? Sie ist, wie Sie wissen, Ihre frühere Konkurrentin in der Gunst des Papas. Bei der Begebenheit mit dem Armband wollten Sie gerne annehmen, was die Mama zurückgewiesen hat. Nun lassen Sie uns einmal „annehmen“ durch „geben“, „zurückweisen“ durch „verweigern“ ersetzen. Das heisst dann, Sie waren bereit, dem Papa zu geben, was die Mama ihm verweigert, und das, um was es sich handelt, hatte mit Schmuck zu tun1)1). Nun erinnern Sie sich an das Schmuckkästchen, das Herr K. Ihnen geschenkt hat. Sie haben da den Anfang einer parallelen Gedankenreihe, in der wie in der Situation des vor Ihrem Bett Stehens Herr K. anstatt des Papas einzusetzen ist. Er hat Ihnen ein Schmuckkästchen geschenkt, Sie sollen ihm also Ihr Schmuckkästchen schenken; darum sprach ich vorhin vom „Gegengeschenk“. In dieser Gedankenreihe wird Ihre Mama durch Frau K. zu ersetzen sein, die doch wohl damals anwesend war. Sie sind also bereit, Herrn K. das zu schenken, was ihm seine Frau verweigert. Hier haben Sie den Gedanken, der mit soviel Anstrengung verdrängt werden muss, der die Verwandlung aller Elemente in ihr Gegenteil notwendig macht. Wie ich’s Ihnen schon vor diesem Traum gesagt habe, der Traum bestätigt wieder, dass Sie die alte Liebe zum Papa wachrufen, um sich gegen die Liebe zu K. zu schützen. Was beweisen aber alle diese Bemühungen? Nicht nur, dass Sie sich vor Herrn K. fürchten, noch mehr fürchten Sie sich vor sich selber, vor Ihrer Versuchung, ihm nachzugeben. Sie bestätigen also dadurch, wie intensiv die Liebe zu ihm war.2)2)

§ 74

Dieses Stück der Deutung wollte sie natürlich nicht mitmachen.

§ 75

Mir hatte sich aber auch eine Fortsetzung der Traumdeutung ergeben, die ebensowohl für die Anamnese des Falles wie für die Theorie des Traumes unentbehrlich schien. Ich versprach, dieselbe Dora in der nächsten Sitzung mitzuteilen.

1) Auch für die Tropfen werden wir später eine vom Zusammenhang geforderte Deutung anführen können. 2) Ich fügte noch hinzu: Uebrigens muss ich aus dem Wiederauftauchen des Traumes in den letzten Tagen schliessen, dass Sie dieselbe Situation für wiedergekommen erachten, und dass Sie beschlossen haben, aus der Kur, zu der ja nur der Papa Sie bringt, wegzubleiben. — Die Folge zeigte, wie richtig ich geraten hatte. Meine Deutung streift hier das praktisch wie theoretisch höchst bedeutsame Thema der „Uebertragung“, auf welches einzugehen ich in dieser Abhandlung wenig Gelegenheit mehr finden werde. § 76

Ich konnte nämlich den Hinweis nicht vergessen, der sich aus den angemerkten zweideutigen Worten zu ergeben schien (dass man hinaus muss, dass bei Nacht ein Malheur passieren kann). Dem reihte sich an, dass mir die Aufklärung des Traumes unvollständig schien, so lange nicht eine gewisse Forderung erfüllt war, die ich zwar nicht allgemein aufstellen will, nach deren Erfüllung ich aber mit Vorliebe suche. Ein ordentlicher Traum steht gleichsam auf zwei Beinen, von denen das eine den wesentlichen aktuellen Anlass, das andere eine folgenschwere Begebenheit der Kinderjahre berührt. Zwischen diesen beiden, dem Kindererlebnis und dem gegenwärtigen, stellt der Traum eine Verbindung her, er sucht die Gegenwart nach dem Vorbild der frühesten Vergangenheit umzugestalten. Der Wunsch, der den Traum schafft, kommt ja immer aus der Kindheit, er will die Kindheit immer wieder von Neuem zur Realität erwecken, die Gegenwart nach der Kindheit korrigieren. Die Stücke, die sich zu einer Anspielung auf ein Kinderereignis zusammensetzen lassen, glaubte ich in dem Trauminhalt bereits deutlich zu erkennen.

§ 77

Ich begann die Erörterung hierüber mit einem kleinen Experiment, das wie gewöhnlich gelang. Auf dem Tische stand zufällig ein grosser Zündhölzchenbehälter. Ich bat Dora, sich doch umzusehen, ob sie auf dem Tische etwas Besonderes sehen könne, das gewöhnlich nicht darauf stände. Sie sah nichts. Dann fragte ich, ob sie wisse, warum man den Kindern verbiete, mit Zündhölzchen zu spielen?

§ 78

„Ja, wegen der Feuersgefahr. Die Kinder meines Onkels spielen so gerne mit Zündhölzchen.“

§ 79

Nicht allein deswegen. Man warnt sie: „Nicht zündeln“ und knüpft daran einen gewissen Glauben.

§ 80

Sie wusste nichts darüber. — Also man fürchtet, dass sie dann das Bett nass machen werden. Dem liegt wohl der Gegensatz von Wasser und Feuer zugrunde Etwa, dass sie vom Feuer träumen und dann versuchen werden, mit Wasser zu löschen. Das weiss ich nicht genau zu sagen. Aber ich sehe, dass Ihnen der Gegensatz von Wasser und Feuer im Traum ausgezeichnete Dienste leistet. Die Mama will das Schmuckkästchen retten, damit es nicht verbrennt, in den Traumgedanken kommt es darauf an, dass das „Schmuckkästchen“ nicht nass wird. Feuer ist aber nicht nur als Gegensatz zu Wasser verwendet, es dient auch zur direkten Vertretung von Liebe, Verliebt-, Verbranntsein. Von Feuer geht also das eine Geleise über diese symbolische Bedeutung zu den Liebesgedanken, das andere führt über den Gegensatz Wasser, nachdem noch die eine Beziehung zur Liebe, die auch nass macht, abgezweigt hat, anderswohin. Wohin nun? Denken Sie an Ihre Ausdrücke: dass bei Nacht ein Malheur passiert, dass man hinaus muss. Bedeutet das nicht ein körperliches Bedürfnis, und wenn Sie das Malheur in die Kindheit versetzen, kann es ein anderes sein, als dass das Bett nass wird? Was tut man aber, um die Kinder vor demBettnässen zu hüten? Nicht wahr, man weckt sie in der Nacht aus dem Schlaf, ganz so, wie es im Traum der Papa mit Ihnen tut? Dieses wäre also die wirkliche Begebenheit, aus welcher Sie sich das Recht nehmen, Herrn K., der Sie aus dem Schlafe weckt, durch den Papa zu ersetzen. Ich muss also schliessen, dass Sie an Bettnässen länger, als es sich sonst bei Kindern erhält, gelitten haben. Dasselbe muss bei Ihrem Bruder der Fall gewesen sein. Der Papa sagt ja: Ich will nicht, dass meine beiden Kinder . . . zugrunde gehen. Der Bruder hat mit der aktuellen Situation bei K. sonst nichts zu tun, er war auch nicht nach L. mitgekommen. Was sagen nun Ihre Erinnerungen dazu?

§ 81

„Von mir weiss ich nichts, antwortete sie, aber der Bruder hat bis zum 6. oder 7. Jahre das Bett nass gemacht, es ist ihm auch manchmal am Tage passiert.“

§ 82

Ich wollte sie eben aufmerksam machen, wieviel leichter man derartiges von seinem Bruder als von sich erinnert, als sie mit der wiedergewonnenen Erinnerung fortsetzte: „Ja, ich habe es auch gehabt, aber später erst, im 7. oder 8. Jahre eine Zeit lang. Es muss arg gewesen sein, denn ich weiss jetzt, dass der Doktor um Rat gefragt wurde. Es war bis kurz vor dem nervösen Asthma.“

§ 83

Was sagte der Doktor dazu?

§ 84

„Er erklärte es für eine nervöse Schwäche; es werde sich schon verlieren, meinte er, und verschrieb stärkende Mittel1)1).“

§ 85

Die Traumdeutung schien mir nun vollendet2)2). Einen Nachtrag zum Traume brachte sie noch tags darauf. Sie habe vergessen, zu erzählen, dass sie nach dem Erwachen jedesmal Rauch gerochen. Der Rauch passte ja wohl zum Feuer, er wies auch darauf hin, dass der Traum seine besondere Beziehung zu meiner Person habe, denn ich pflegte ihr, wenn sie behauptet hatte, da oder dort stecke nichts dahinter, oft entgegenzuhalten: „Wo Rauch ist, ist auch Feuer“. Sie wandte aber gegen diese ausschliesslich persönliche Deutung ein, dass Herr K. und der Papa leidenschaftliche Raucher seien, wie übrigens auch ich. Sie rauchte selbst am See und Herr K. hatte ihr, ehe er damals mit seiner unglücklichen Werbung begann, eine Zigarette gedreht. Sie glaube sich auch sicher zu erinnern, dass der Geruch nach Rauch nicht erst im letzten, sondern schon in den dreimaligen Träumen in L. aufgetreten sei. Da sie weitere Auskünfte verweigerte, blieb es mir überlassen, wie ich mir diesen Nachtrag in das Gefüge der Traumgedanken eintragen wolle. Als Anhaltspunkt konnte mirdienen, dass die Sensation des Rauches als Nachtrag kam, also eine besondere Anstrengung der Verdrängung hatte überwinden müssen. Demnach gehörte sie wahrscheinlich zu dem im Traum am dunkelsten dargestellten und bestverdrängten Gedanken, also dem der Versuchung, sich dem Manne willig zu erweisen. Sie konnte dann kaum etwas anderes bedeuten als die Sehnsucht nach einem Kuss, der beim Raucher notwendigerweise nach Rauch schmeckt; ein Kuss war aber 2 Jahre vorher zwischen den beiden vorgefallen und hätte sich sicherlich mehr als einmal wiederholt, wenn das Mädchen damals der Werbung nachgegeben hätte. Die Versuchungsgedanken scheinen so auf die frühere Szene zurückgegriffen und die Erinnerung an den Kuss aufgeweckt zu haben, gegen dessen Verlockung sich die Lutscherin seinerzeit durch den Ekel schützte. Nehme ich endlich die Anzeichen zusammen, die eine Uebertragung auf mich, weil ich auch Raucher bin, wahrscheinlich machen, so komme ich zur Ansicht, dass ihr eines Tages wahrscheinlich während der Sitzung eingefallen, sich einen Kuss von mir zu wünschen. Dies war für sie der Anlass, sich den Warnungstraum zu wiederholen und den Vorsatz zu fassen, aus der Kur zu gehen. So stimmt es sehr gut zusammen, aber vermöge der Eigentümlichkeiten der „Uebertragung“ entzieht es sich dem Beweise.Ich könnte nun schwanken, ob ich zuerst die Ausbeute dieses Traumes für die Krankengeschichte des Falles in Angriff nehmen oder lieber den aus ihm gegen die Traumtheorie gewonnenen Einwand erledigen soll. Ich wähle das erstere.

1) Dieser Arzt war der einzige, zu dem sie Zutrauen zeigte, weil sie an dieser Erfahrung gemerkt, er wäre nicht hinter ihr Geheimnis gekommen. Vor jedem anderen, den sie noch nicht einzuschätzen wusste, empfand sie Angst, die sich jetzt also motiviert, er könne ihr Geheimnis erraten. 2) Der Kern des Traumes würde übersetzt etwa so lauten: Die Versuchung ist so stark. Lieber Papa, schütze Du mich wieder wie in den Kinderzeiten, dass mein Bett nicht nass wird! § 86

Es verlohnte sich, auf die Bedeutung des Bettnässens in der Vorgeschichte der Neurotiker ausführlich einzugehen. Der Uebersichtlichkeit zu Liebe beschränke ich mich darauf zu betonen, dass Doras Fall von Bettnässen nicht der gewöhnliche war. Die Störung hatte sich nicht einfach über die fürs Normale geforderte Zeit fortgesetzt, sondern war nach ihrer bestimmten Angabe zunächst geschwunden und dann verhältnismässig spät nach dem sechsten Lebensjahr wieder aufgetreten. Ein solches Bettnässen hat meines Wissens keine wahrscheinlichere Ursache als Masturbation, die in der Aetiologie des Bettnässens überhaupt eine noch zu gering geschätzte Rolle spielt. Den Kindern selbst ist nach meiner Erfahrung dieser Zusammenhang sehr wohl bekannt gewesen, und alle psychischen Folgen leiten sich davon so ab, als ob sie ihn niemals vergessen hätten. Nun befanden wir uns zur Zeit, als der Traum erzählt wurde, auf einer Linie der Forschung, welche direkt auf ein solches Eingeständnis der Kindermasturbation zulief. Sie hatte eine Weile vorher die Frage aufgeworfen, warum denn gerade sie krank geworden sei, und hatte, ehe ich eine Antwort gab, die Schuld auf den Vater gewälzt. Es waren nicht unbewusste Gedanken, sondern bewusste Kenntnis, welche die Begründung übernahm. Das Mädchen wusste zu meinem Erstaunen, welcher Natur die Krankheit des Vaters gewesen war. Sie hatte nach der Rückkehr des Vaters von meiner Ordination ein Gespräch erlauscht, in dem der Name der Krankheit genannt wurde. In noch früheren Jahren, zur Zeit der Netzhautablösung, muss ein zu Rate gezogener Augenarzt auf die luetische Aetiologie hingewiesen haben, denn das neugierige und besorgte Mädchen hörte damals eine alte Tante zur Mutter sagen: „Er war ja schon vor der Ehe krank“ und etwas ihr Unverständliches hinzufügen, was sie sich später auf unanständige Dinge deutete.

§ 87

Der Vater war also durch leichtsinnigen Lebenswandel krank geworden, und sie nahm an, dass er ihr das Kranksein erblich übertragen habe. Ich hütete mich, ihr zu sagen, dass ich, wie erwähnt (Seite 295), gleichfalls die Ansicht vertrete, die Nachkommenschaft Luetischer sei zu schweren Neuropsychosen ganz besonders prädisponiert. Die Fortsetzung dieses den Vater anklagenden Gedankenganges ging durch unbewusstes Material. Sie identifizierte sich einige Tage lang in kleinen Symptomen und Eigentümlichkeiten mit der Mutter, was ihr Gelegenheit gab, Hervorragendes in Unausstehlichkeit zu leisten, und liess mich dann erraten, dass sie an einen Aufenthalt in Franzensbad denke, das sie in Begleitung der Mutter — ich weiss nicht mehr, in welchem Jahre — besucht hatte. Die Mutter litt an Schmerzen im Unterleib und an einem Ausfluss — Katarrh —, der eine Franzensbader Kur notwendig machte. Es war ihre — wahrscheinlich wieder berechtigte — Meinung, dass diese Krankheit vom Papa herrühre, der also seine Geschlechtsaffektion auf die Mutter übertragen hatte. Es war ganz begreiflich, dass sie bei diesem Schluss, wie ein grosser Teil der Laien überhaupt, Gonorrhoe und Syphilis, erbliche und Uebertragung durch den Verkehr zusammenwarf. Ihr Verharren in der Identifizierung nötigte mir fast die Frage auf, ob sie denn auch eine Geschlechtskrankheit habe, und nun erfuhr ich, dass sie mit einem Katarrh (fluor albus) behaftet war, an dessen Beginn sie sich nicht erinnern könne.

§ 88

Ich verstand nun, dass hinter dem Gedankengang, der laut den Vater anklagte, wie gewöhnlich eine Selbstbeschuldigung verborgen sei, und kam ihr entgegen, indem ich ihr versicherte, dass der Fluor der jungen Mädchen in meinen Augen vorzugsweise auf Masturbation deute, und dass ich alle anderen Ursachen, die gewöhnlich für solch ein Leiden angeführt werden, neben der Masturbation in den Hintergrund treten lasse. Sie sei also auf dem Wege, ihre Frage, warum gerade sie erkrankt sei, durch das Eingeständnis der Masturbation, wahrscheinlich in den Kinderjahren, zu beantworten. Sie leugnete entschiedenst, sich an etwas derartiges erinnern zu können. Aber einige Tage später führte sie etwas auf, was ich als weitere Annäherung an das Geständnis betrachten musste. Sie hatte an diesem Tage nämlich, was weder früher noch später je der Fall war, ein Portemonnaietäschehen von der Form, die eben modern wurde, umgehängt und spielte damit, während sie im Liegen sprach, indem sie es öffnete, einen Finger hineinsteckte, es wiederschloss u. s. w. Ich sah ihr eine Weile zu und erklärte ihr dann, was eine Symptomhandlung1)1) sei. Symptomhandlungen nenne ich jene Verrichtungen, die der Mensch, wie man sagt, automatisch, unbewusst, ohne darauf zu achten, wie spielend vollzieht, denen er jede Bedeutung absprechen möchte, und die er für gleichgültig und zufällig erklärt, wenn er nach ihnen gefragt wird. Sorgfältigere Beobachtung zeigt dann, dass solche Handlungen, von denen das Bewusstsein nichts weiss oder nichts wissen will, unbewussten Gedanken und Impulsen Ausdruck geben, somit als zugelassene Aeusserungen des Unbewussten wertvoll und lehrreich sind. Es gibt zwei Arten des bewussten Verhaltens gegen die Symptomhandlungen. Kann man sie unauffällig motivieren, so nimmt man auch Kenntnis von ihnen; fehlt ein solcher Vorwand vor dem Bewussten, so merkt man in der Regel gar nicht, dass man sie ausführt. Im Falle Doras war die Motivierung leicht: „Warum soll ich nicht ein solches Täschchen tragen, wie es jetzt modern ist?“ Aber eine solche Rechtfertigung hebt doch die Möglichkeit der unbewussten Herkunft der betreffenden Handlung nicht auf. Anderseits lässt sich diese Herkunft und der Sinn, den man der Handlung beilegt, nicht zwingend erweisen. Man muss sich begnügen, zu konstatieren, dass ein solcher Sinn in den Zusammenhang der vorliegenden Situation, in die Tagesordnung des Unbewussten ganz ausgezeichnet hineinpasst.

§ 89

Ich werde ein anderes Mal eine Sammlung solcher Symptomhandlungen vorlegen, wie man sie bei Gesunden und Nervösen beobachten kann. Die Deutungen sind manchmal sehr leicht. Das zweiblättrige Täschchen Doras ist nichts anderes als eine Darstellung des Genitales, und ihr Spielen damit, ihr Oeffnen und Fingerhineinstecken eine recht ungenierte, aber unverkennbare pantomimische Mitteilung dessen, was sie damit tun möchte, die der Masturbation. Vor kurzem ist mir ein ähnlicher Fall vorgekommen, der sehr erheiternd wirkte. Eine ältere Dame zieht mitten in der Sitzung, angeblich um sich durch ein Bonbon anzufeuchten, eine kleine beinerne Dose hervor, bemüht sich, sie zu öffnen, und reicht sie dann mir, damit ich mich überzeuge, wie schwer sie aufgeht. Ich äussere mein Misstrauen, dass diese Dose etwas Besonderes bedeuten müsse, ich sehe sie heute doch zum ersten Male, obwohl die Eigentümerin mich schon länger als ein Jahr besucht. Darauf die Dame im Eifer: „Diese Dose trage ich immer bei mir, ich nehme sie überall mit, wohin ich gehe!“ Sie beruhigt sich erst, nachdem ich sie lachend aufmerksam gemacht, wie gut ihre Worte auch zu einer anderen Bedeutung passen. Die Dose — box, πύξις — ist wie das Täschchen, wie das Schmuckkästchen wieder nur eine Vertreterin der Venusmuschel, des weiblichen Genitales!

1) Vergl. meine Abhandlung über die Psychopathologie des Alltagslebens in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 1901 (als Buch im Verlag von S. Karger, 1904). § 90

Es gibt viel solcher Symbolik im Leben, an der wir gewöhnlich achtlos vorübergehen. Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken, nicht durch den Zwang der Hypnose, sondern aus dem, was sie sagen und zeigen, ans Licht zu bringen, hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Wer Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, überzeugt sich, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgenste Seelische bewusst zu machen, sehr wohl lösbar.

§ 91

Doras Symptomhandlung mit dem Täschchen war nicht die nächste Vorläuferin des Traumes. Die Sitzung, die uns die Traumerzählung brachte, leitete sie durch eine andere Symptomhandlung ein. Als ich in das Zimmer trat, in dem sie wartete, versteckte sie rasch einen Brief, in dem sie las. Ich fragte natürlich, von wem der Brief sei, und sie weigerte sich erst, es anzugeben. Dann kam etwas heraus, was höchst gleichgültig und ohne Beziehung zu unserer Kur war. Es war ein Brief der Grossmutter, in dem sie aufgefordert wurde, ihr öfter zu schreiben. Ich meine, sie wollte mir nur „Geheimnis“ vorspielen und andeuten, dass sie sich jetzt ihr Geheimnis vom Arzt entreissen lasse. Ihre Abneigung gegen jeden neuen Arzt erkläre ich mir nun durch die Angst, er würde bei der Untersuchung (durch den Katarrh) oder beim Examen (durch die Mitteilung des Bettnässens) auf den Grund ihres Leidens kommen, die Masturbation bei ihr erraten. Sie sprach dann immer sehr geringschätzig von den Aerzten, die sie vorher offenbar überschätzt hatte.

§ 92

Anklagen gegen den Vater, dass er sie krank gemacht, mit der Selbstanklage dahinter — Fluor albus — Spielen mit dem Täschchen — Bettnässen nach dem 6. Jahr — Geheimnis, das sie sich von den Aerzten nicht entreissen lassen will: ich halte den Indizienbeweis für die kindliche Masturbation für lückenlos hergestellt. Ich hatte in diesem Falle die Masturbation zu ahnen begonnen, als sie mir von den Magenkrämpfen der Cousine erzählte (s. S. 308) und sich dann mit dieser identifizierte, indem sie Tage lang über die nämlichen schmerzhaften Sensationen klagte. Es ist bekannt, wie häufig Magenkrämpfe gerade bei Masturbanten auftreten. Nach einer persönlichen Mitteilung von W. Fliess sind es gerade solche Gastralgien, die durch Kokainisierung der von ihm gefundenen „Magenstelle“ in der Nase unterbrochen und durch deren Aetzung geheilt werden können. Dora bestätigte mir bewusster Weise zweierlei, dass sie selbst häufig an Magenkrämpfen gelitten und dass sie die Cousine mit guten Gründen für eine Masturbantin gehalten habe. Es ist bei den Kranken sehr gewöhnlich, dass sie einen Zusammenhang bei Anderen erkennen, dessen Erkenntnis ihnen bei der eigenen Person durch Gefühlswiderstände unmöglich wird.Sie leugnete auch nicht mehr, obwohl sie noch nichts erinnerte. Auch die Zeitbestimmung des Bettnässens „bis kurz vor dem Auftreten des nervösen Asthmas“ halte ich für klinisch verwertbar. Die hysterischen Symptome treten fast niemals auf, so lange die Kinder masturbieren, sondern erst in der Abstinenz1)1); sie drücken einen Ersatz für die masturbatorische Befriedigung aus, nach der das Verlangen im Unbewussten erhalten bleibt, so lange nicht andersartige normalere Befriedigung eintritt, wo diese noch möglich geblieben ist. Letztere Bedingung ist die Wende für mögliche Heilung der Hysterie durch Ehe und normalen Geschlechtsverkehr. Wird die Befriedigung in der Ehe wieder aufgehoben, etwa durch Coitus interruptus, psychische Entfremdung u. dgl., so sucht die Libido ihr altes Strombett wieder auf und äussert sich wiederum in hysterischen Symptomen.

§ 93

Ich möchte gerne noch die sichere Auskunft anfügen, wann und durch welchen besonderen Einfluss die Masturbation bei Dora unterdrückt wurde, aber die Unvollständigkeit der Analyse nötigt mich, hier lückenhaftes Material vorzubringen. Wir haben gehört, dass das Bettnässen bis nahe an die erste Erkrankung an Dyspnoe heranreichte. Nun war das einzige, was sie zur Aufklärung dieses ersten Zustandes anzugeben wusste, dass der Papa damals das erste Mal nach seiner Besserung verreist gewesen sei. In diesem erhaltenen Stückchen Erinnerung musste eine Beziehung zur Aetiologie der Dyspnoe angedeutet sein. Ich bekam nun durch Symptomhandlungen und andere Anzeichen guten Grund zur Annahme, dass das Kind, dessen Schlafzimmer sich neben dem der Eltern befand, einen nächtlichen Besuch des Vaters bei seiner Ehefrau belauscht und das Keuchen des ohnedies kurzatmigen Mannes beim Coitus gehört habe. Die Kinder ahnen in solchen Fällen das Sexuelle in dem unheimlichen Geräusch. Die Ausdrucksbewegungen für die sexuelle Erregung liegen ja als mitgeborene Mechanismen in ihnen bereit. Dass die Dyspnoe und das Herzklopfen der Hysterie und Angstneurose nur losgelöste Stücke aus der Coitusaktion sind, habe ich vor Jahren bereits ausgeführt, und in vielen Fällen wie dem Doras konnte ich das Symptom der Dyspnoe, des nervösen Asthmas auf die gleiche Veranlassung, auf das Belauschen des sexuellen Verkehrs Erwachsener zurückführen. Unter dem Einfluss der damals gesetzten Miterregung konnte sehr wohl der Umschwung in der Sexualität der Kleinen eintreten, welcher die Masturbationsneigung durch die Neigung zur Angst ersetzte. Eine Weile später, als der Vater abwesend war und das verliebte Kind seiner sehnsüchtig gedachte, wiederholte sie dann den Eindruck als Asthmaanfall. Aus dem in der Erinnerung bewahrten Anlass zu dieser Erkrankung lässtsich noch der angstvolle Gedankengang erraten, der den Anfall begleitete. Sie bekam ihn zuerst, nachdem sie sich auf einer Bergpartie überangestrengt, wahrscheinlich etwas reale Atemnot verspürt hatte. Zu dieser trat die Idee, dass dem Vater Bergsteigen verboten sei, dass er sich nicht überanstrengen dürfe, weil er kurzen Atem habe, dann die Erinnerung, wie sehr er sich in der Nacht bei der Mama angestrengt, ob ihm das nicht geschadet habe, dann die Sorge, ob sie sich nicht überangestrengt habe bei der gleichfalls zum sexuellen Orgasmus mit etwas Dyspnoe führenden Masturbation, und dann die verstärkte Wiederkehr dieser Dyspnoe als Symptom. Einen Teil dieses Materials konnte ich noch der Analyse entnehmen, den andern musste ich ergänzen. Aus der Konstatierung der Masturbation haben wir ja gesehen, dass das Material für ein Thema erst stückweise zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Zusammenhängen zusammengebracht wird1)1).

1) Bei Erwachsenen gilt prinzipiell dasselbe, doch reicht hier auch relative Abstinenz, Einschränkung der Masturbation aus, so dass bei heftiger Libido Hysterie und Masturbation mitsammen vorkommen können. § 94

Es erheben sich nun eine Reihe der wichtigsten Fragen zur Aetiologie der Hysterie, ob man den Fall Doras als typisch für die Aetiologie ansehen darf, ob er den einzigen Typus der Verursachung darstellt u. s. w. Allein ich tue gewiss Recht daran, die Beantwortung dieser Fragen erst auf die Mitteilung einer grösseren Reihe von ähnlich analysierten Fällen warten zu lassen. lch müsste überdies damit beginnen, die Fragestellung zurechtzurücken. Anstatt mich mit Ja oder Nein darüber zu äussern, ob die Aetiologie dieses Krankheitsfalles in der kindlichen Masturbation zu suchen ist, würde ich zunächst den Begriff der Aetiologie bei den Psychoneurosen zu erörtern haben. Der Standpunkt, von dem aus ich antworten könnte, würde sich als wesentlich verschoben gegen den Standpunkt erweisen, von dem aus die Frage an mich gestellt wird. Genug, wenn wir für diesen Fall zur Ueberzeugung gelangen, dass hier Kindermasturbation nachweisbar ist, dass sie nichts Zufälliges und nichts für die Gestaltung des Krankheitsbildes Gleichgiltiges sein kann1)1).

1) In ganz ähnlicher Weise wird der Beweis der infantilen Masturbation auch in anderen Fällen hergestellt. Das Material dafür ist meist ähnlicher Natur: Hinweise auf Fluor albus, Bettnässen, Handzeremoniell (Waschzwang) u. dgl. Ob die Gewöhnung von einer Warteperson entdeckt worden ist oder nicht, ob ein Abgewöhnungskampf oder ein plötzlicher Umschwung diese Sexualbetätigung zum Ende geführt hat, lässt sich aus der Symptomatik des Falles jedesmal mit Sicherheit erraten. Bei Dora war die Masturbation unentdeckt geblieben und hatte mit einem Schlage ein Ende gefunden (Geheimnis, Angst vor Aerzten — Ersatz durch Dyspnoe). Die Kranken bestreiten zwar regelmässig die Beweiskraft dieser Indizien und dies selbst dann, wenn die Erinnerung an den Katarrh oder an die Verwarnung der Mutter („das mache dumm; es sei giftig“) in bewusster Erinnerung geblieben ist. Aber einige Zeit nachher stellt sich auch die so lange verdrängte Erinnerung an dieses Stück des kindlichen Sexuallebens mit Sicherheit, und zwar bei allen Fällen, ein. — Bei einer Patientin mit Zwangsvorstellungen, welche direkte Abkömmlinge der infantilen Masturbation sind, erwiesen sich die Züge des sich Verbietens, Bestrafens, wenn sie dies eine getan habe, dürfe sie das andere nicht, das Nicht-gestört-werdendürfen, das Pausen-Einschieben zwischen einer Verrichtung (mit den Händen) und einer nächsten, das Händewaschen u. s. w. als unverändert erhaltene Stücke der Abgewöhnungsarbeit ihrer Pflegeperson. Die Warnung: „Pfui, das ist giftig!“ war das einzige, was dem Gedächtnis immer erhalten geblieben war. Vergl. hierzu noch meine „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, 1905. § 95

Uns winkt ein weiteres Verständnis der Symptome bei Dora, wenn wir die Bedeutung des von ihr eingestandenen Fluor albus ins Auge fassen. Das Wort „Katarrh“, mit dem sie ihre Affektion bezeichnen lernte, als ein ähnliches Leiden der Mutter Franzensbad nötig machte, ist wiederum ein „Wechsel“, welcher der ganzen Reihe von Gedanken über die Krankheitsverschuldung des Papas den Zugang zur Aeusserung in dem Symptom des Hustens öffnete. Dieser Husten, der gewiss ursprünglich von einem geringfügigen realen Katarrh herstammte, war ohnedies Nachahmung des mit Lungenleiden behafteten Vaters und konnte ihrem Mitleid und ihrer Sorge für ihn Ausdruck geben. Ausserdem aber rief er gleichsam in die Welt hinaus, was ihr damals vielleicht noch nicht bewusst worden war: „Ich bin die Tochter von Papa. Ich habe einen Katarrh wie er. Er hat mich krank gemacht, wie er die Mama krank gemacht hat. Von ihm habe ich die bösen Leidenschaften, die sich durch Krankheit strafen“2)2).

§ 96

Wir können nun den Versuch machen, die verschiedenen Determinierungen, die wir für die Anfälle von Husten und Heiserkeit gefunden haben, zusammenzustellen. Zu unterst in der Schichtung ist ein realer, organisch bedingter Hustenreiz anzunehmen, das Sandkorn also, um welches das Muscheltier die Perle bildet. Dieser Reiz ist fixierbar, weil er eine Körperregionbetrifft, welche die Bedeutung einer erogenen Zone bei dem Mädchen in hohem Grade bewahrt hat. Er ist also geeignet dazu, der erregten Libido Ausdruck zu geben. Er wird fixiert durch die wahrscheinlich erste psychische Umkleidung, die Mitleidsimitation für den kranken Vater, und dann durch die Selbstvorwürfe wegen des Katarrhs. Dieselbe Symptomgruppe zeigt sich ferner fähig, die Beziehungen zu Herrn K. darzustellen, seine Abwesenheit zu bedauern und den Wunsch auszudrücken, ihm eine bessere Frau zu sein. Nachdem ein Teil der Libido sich wieder dem Vater zugewendet, gewinnt das Symptom seine vielleicht letzte Bedeutung zur Darstellung des sexuellen Verkehrs mit dem Vater in der Identifizierung mit Frau K. Ich möchte dafür bürgen, dass diese Reihe keineswegs vollständig ist. Leider ist die unvollständige Analyse nicht imstande, dem Wechsel der Bedeutungen zeitlich zu folgen, die Reihenfolge und die Koexistenz verschiedener Bedeutungen klarzulegen. An eine vollständige darf man diese Forderungen stellen.

1) Mit der Angewöhnung der Masturbation muss der Bruder in irgend welcher Verbindung sein, denn in diesem Zusammenhange erzählte sie mit dem Nachdruck, der eine „Deckerinnerung“ verrät, dass der Bruder ihr regelmässig alle Ansteckungen zugetragen, die er selbst leicht, sie aber schwer durchgemacht. Der Bruder wird auch im Traum vor dem „Zugrunde gehen“ behütet; er hat selbst an Bettnässen gelitten, aber noch vor der Schwester damit aufgehört. In gewissem Sinne war es auch eine „Deckerinnerung“, wenn sie aussprach, bis zu der ersten Krankheit habe sie mit dem Bruder Schritt halten können, von da an sei sie im Lernen gegen ihn zurückgeblieben. Als wäre sie bis dahin ein Bub gewesen, dann erst mädchenhaft geworden. Sie war wirklich ein wildes Ding, vom „Asthma“ an wurde sie still und sittig. Diese Erkrankung bildete bei ihr die Grenze zwischen zwei Phasen des Geschlechtslebens, von denen die erste männlichen, die spätere weiblichen Charakter hatte. 2) Die nämliche Rolle spielte das Wort bei dem 12jährigen Mädchen, dessen Krankengeschichte ich auf Seite 298 in einige Zeilen zusammengedrängt habe. Ich hatte das Kind mit einer intelligenten Dame, die mir die Dienste einer Wärterin leistete, in einer Pension installiert. Die Dame berichtete mir, dass die kleine Patientin ihre Gegenwart beim Zubettegehen nicht dulde und dass sie im Bette auffällig huste, wovon tagsüber nichts zu hören war. Der Kleinen fiel, als sie über diese Symptome befragt wurde, nur ein, dass ihre Grossmutter so huste, von der man sage, sie habe einen Katarrh. Es war dann klar, dass auch sie einen Katarrh habe, und dass sie bei der abends vorgenommenen Reinigung nicht bemerkt werden wolle. Der Katarrh, der mittelst dieses Wortes von unten nach oben geschoben worden war, zeigte sogar eine nicht gewöhnliche Intensität. § 97

Ich darf nun nicht versäumen, auf weitere Beziehungen des Genitalkatarrhs zu den hysterischen Symptomen Doras einzugehen. Zu Zeiten, als eine psychische Aufklärung der Hysterie noch in weiter Ferne lag, hörte ich ältere, erfahrene Kollegen behaupten, dass bei den hysterischen Patientinnen mit Fluor eine Verschlimmerung des Katarrhs regelmässig eine Verschärfung der hysterischen Leiden, besonders der Essunlust und des Erbrechens nach sich ziehe. Ueber den Zusammenhang war niemand recht klar, aber ich glaube, man neigte zur Anschauung der Gynäkologen hin, die bekanntlich einen direkten und organisch störenden Einfluss von Genitalaffektionen auf die nervösen Funktionen im breitesten Ausmass annehmen, wobei uns die therapeutische Probe auf die Rechnung zu allermeist im Stiche lässt. Bei dem heutigen Stande unserer Einsicht kann man einen solchen direkten und organischen Einfluss auch nicht für ausgeschlossen erklären, aber leichter nachweisbar ist jedenfalls dessen psychische Umkleidung. Der Stolz auf die Gestaltung der Genitalien ist bei unseren Frauen ein ganz besonderes Stück ihrer Eitelkeit; Affektionen derselben, welche für geeignet gehalten werden, Abneigung oder selbst Ekel einzuflössen, wirken in ganz unglaublicher Weise kränkend, das Selbstgefühl herabsetzend, machen reizbar, empfindlich und misstrauisch. Die abnorme Sekretion der Scheidenschleimhaut wird als ekelerregend angesehen.

§ 98

Erinnern wir uns, dass bei Dora nach dem Kuss des Herrn K. eine lebhafte Ekelempfindung eintrat und dass wir Grund fanden, uns ihre Erzählung dieser Kussszene dahin zu vervollständigen, dass sie den Druck des erigierten Gliedes gegen ihren Leib in der Umarmung verspürte. Wir erfahren nun ferner, dass dieselbe Gouvernante, welche sie wegen ihrer Untreue von sich gestossen hatte, ihr aus eigener Lebenserfahrung vorgetragen hatte, alle Männer seien leichtsinnig und unverlässlich. FürDora musste das heissen, alle Männer seien wie der Papa. Ihren Vater hielt sie aber für geschlechtskrank, hatte er doch diese Krankheit auf sie und auf die Mutter übertragen. Sie konnte sich also vorstellen, alle Männer seien geschlechtskrank, und ihr Begriff von Geschlechtskrankheit war natürlich nach ihrer einzigen und dazu persönlichen Erfahrung gebildet. Geschlechtskrank hiess ihr also mit einem ekelhaften Ausfluss behaftet — ob dies nicht eine weitere Motivierung des Ekels war, den sie im Moment der Umarmung empfand? Dieser auf die Berührung des Mannes übertragene Ekel wäre dann ein nach dem erwähnten primitiven Mechanismus (s. Seite 306) projizierter, der sich in letzter Linie auf ihren eigenen Fluor bezog.

§ 99

Ich vermute, dass es sich hierbei um unbewusste Gedankengänge handelt, welche über vorgebildete organische Zusammenhänge gezogen sind, etwa wie Blumenfestons über Drahtgewinde, so dass man ein andermal andere Gedankenwege zwischen den nämlichen Ausgangs- und Endpunkten eingeschaltet finden kann. Doch ist die Kenntnis der im einzelnen wirksam gewesenen Gedankenverbindungen für die Lösung der Symptome von unersetzlichem Wert. Dass wir im Falle Doras zu Vermutungen und Ergänzungen greifen müssen, ist nur durch den vorzeitigen Abbruch der Analyse begründet. Was ich zur Ausfüllung der Lücken vorbringe, lehnt sich durchwegs an andere, gründlicher analysierte Fälle an.

§ 100

Der Traum, durch dessen Analyse wir die vorstehenden Aufschlüsse gewonnen haben, entspricht, wie wir fanden, einem Vorsatz, den Dora in den Schlaf mitnimmt. Er wird darum jede Nacht wiederholt, bis der Vorsatz erfüllt ist, und er tritt Jahre später wieder auf, sowie sich ein Anlass ergibt, einen analogen Vorsatz zu fassen. Der Vorsatz lässt sich bewusst etwa folgendermaassen aussprechen: Fort aus diesem Hause, in dem, wie ich gesehen habe, meiner Jungfräulichkeit Gefahr droht; ich reise mit dem Papa ab, und morgens bei der Toilette will ich meine Vorsichten treffen, nicht überrascht zu werden. Diese Gedanken finden ihren deutlichen Ausdruck im Traume; sie gehören einer Strömung an, die im Wachleben zum Bewusstsein und zur Herrschaft gelangt ist. Hinter ihnen lässt sich ein dunkler vertretener Gedankenzug erraten, welcher der gegenteiligen Strömung entspricht und darum der Unterdrückung verfallen ist. Er gipfelt in der Versuchung, sich dem Manne zum Dank für die ihr in den letzten Jahren bewiesene Liebe und Zärtlichkeit hinzugeben, und ruft vielleicht die Erinnerung an den einzigen Kuss auf, den sie bisher von ihm empfangen hat. Aber, nach der in meiner Traumdeutung entwickelten Theorie reichen solche Elemente nicht hin, um einen Traum zu bilden. Ein Traum sei kein Vorsatz, der als ausgeführt, sondern ein Wunsch, der als erfüllt dargestellt wird, und zwar womöglich ein Wunsch aus dem Kinderleben. Wir haben die Verpflichtung, zu prüfen, ob dieser Satz nicht durch unseren Traum widerlegt wird.

§ 101

Der Traum enthält in der Tat infantiles Material, welches in keiner auf den ersten Blick ergründbaren Beziehung zum Vorsatze steht, das Haus des Herrn K. und die von ihm ausgehende Versuchung zu fliehen. Wozu taucht wohl die Erinnerung an das Bettnässen als Kind und an die Mühe auf, die sich der Vater damals gab, das Kind rein zu gewöhnen? Man kann darauf die Antwort geben, weil es nur mit Hülfe dieses Gedankenzuges möglich ist, die intensiven Versuchungsgedanken zu unterdrücken und den gegen sie gefassten Vorsatz zur Herrschaft zu bringen. Das Kind beschliesst, mit seinem Vater zu flüchten; in Wirklichkeit flüchtet es sich in der Angst vor dem ihm nachstellenden Manne zu seinem Vater; es ruft eine infantile Neigung zum Vater wach, die es gegen die rezente zu dem Fremden schützen soll. An der gegenwärtigen Gefahr ist der Vater selbst mitschuldig, der sie wegen eigener Liebesinteressen dem fremden Manne ausgeliefert hat. Wie viel schöner war es doch, als derselbe Vater niemanden anderen lieber hatte als sie und sich anstrengte, sie vor den Gefahren, die sie damals bedrohten, zu retten. Der infantile und heute unbewusste Wunsch, den Vater an die Stelle des fremden Mannes zu setzen, ist eine traumbildende Potenz. Wenn es eine Situation gegeben hat, die ähnlich einer der gegenwärtigen sich doch durch diese Personenvertretung von ihr unterschied, so wird diese zur Hauptsituation des Trauminhaltes. Es gibt eine solche; gerade so wie am Vortage Herr K. stand einst der Vater vor ihrem Bett und weckte sie etwa mit einem Kuss, wie vielleicht Herr K. beabsichtigt hatte. Der Vorsatz, das Haus zu fliehen, ist also nicht an und für sich traumfähig, er wird es dadurch, dass sich ihm ein anderer, auf infantile Wünsche gestützter Vorsatz beigesellt. Der Wunsch, Herrn K. durch den Vater zu ersetzen, gibt die Triebkraft zum Traume ab. Ich erinnere an die Deutung, zu der mich der verstärkte, auf das Verhältnis des Vaters zu Frau K. bezügliche Gedankenzug nötigte, es sei hier eine infantile Neigung zum Vater wachgerufen worden, um die verdrängte Liebe zu Herrn K. in der Verdrängung erhalten zu können; diesen Umschwung im Seelenleben der Patientin spiegelt der Traum wieder.

§ 102

Ueber das Verhältnis zwischen den in den Schlaf sich fortsetzenden Wachgedanken — den Tagesresten — und dem unbewussten traumbildenden Wunsch habe ich in der „Traumdeutung“ (p. 329) einige Bemerkungen niedergelegt, die ich hier unverändert zitieren werde, denn ich habe ihnen nichts hinzuzufügen, und die Analyse dieses Traumes von Dora beweist von neuem, dass es sich nicht anders verhält.

§ 103

„Ich will zugeben, dass es eine ganze Klasse von Träumen gibt, zu denen die Anregung vorwiegend oder selbst ausschliesslich aus den Resten des Tageslebens stammt, und ich meine, selbst mein Wunsch, endlich einmal Professor extraordinarius zu werden1)1), hätte mich diese Nacht in Ruhe schlafen lassen können,wäre nicht die Sorge um die Gesundheit meines Freundes vom Tag her noch rührig gewesen. Aber diese Sorge hätte noch keinen Traum gemacht; die Triebkraft, die der Traum bedurfte, musste von einem Wunsche beigesteuert werden; es war Sache der Besorgnis, sich einen solchen Wunsch als Triebkraft des Traumes zu verschaffen. Um es in einem Gleichnis zu sagen: Es ist sehr wohl möglich, dass ein Tagesgedanke die Rolle des Unternehmers für den Traum spielt; aber der Unternehmer, der, wie man sagt, die Idee hat und den Drang, sie in Tat umzusetzen, kann doch ohne Kapital nichts machen; er braucht einen Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und dieser Kapitalist, der den psychischen Aufwand für den Traum beistellt, ist allemal und unweigerlich, was immer auch der Tagesgedanke sein mag, ein Wunsch aus dem Unbewussten.“

1) Dies bezieht sich auf die Analyse des dort zum Muster genommenen Traumes (p. 186). § 104

Wer die Feinheit in der Struktur solcher Gebilde wie der Träume kennen gelernt hat, wird nicht überrascht sein zu finden, dass der Wunsch, der Vater möge die Stelle des versuchenden Mannes einnehmen, nicht etwa beliebiges Kindheitsmaterial zur Erinnerung bringt, sondern gerade solches, das auch die intimsten Beziehungen zur Unterdrückung dieser Versuchung unterhält. Denn wenn Dora sich unfähig fühlt, der Liebe zu diesem Manne nachzugeben, wenn es zur Verdrängung dieser Liebe anstatt zur Hingebung kommt, so hängt diese Entscheidung mit keinem anderen Moment inniger zusammen als mit ihrem vorzeitigen Sexualgenuss und mit dessen Folgen, dem Bettnässen, dem Katarrh und dem Ekel. Eine solche Vorgeschichte kann je nach der Summation der konstitutionellen Bedingungen zweierlei Verhalten gegen die Liebesanforderung in reifer Zeit begründen, entweder die volle widerstandslose, ins Perverse greifende Hingebung an die Sexualität, oder in der Reaktion die Ablehnung derselben unter neurotischer Erkrankung. Konstitution und die Höhe der intellektuellen und moralischen Erziehung hatten bei unserer Patientin für das letztere den Ausschlag gegeben.

§ 105

Ich will noch besonders darauf aufmerksam machen, dass wir von der Analyse dieses Traumes aus den Zugang zu Einzelheiten der pathogen wirksamen Erlebnisse gefunden haben, die der Erinnerung oder wenigstens der Reproduktion sonst nicht zugänglich gewesen waren. Die Erinnerung an das Bettnässen der Kindheit war, wie sich ergab, bereits verdrängt. Die Einzelheiten der Nachstellung von Seiten des Herrn K. hatte Dora niemals erwähnt, sie waren ihr nicht eingefallen1)1).

1) Noch einige Bemerkungen zur Synthese dieses Traumes. Die Traumarbeit nimmt ihren Anfang am Nachmittag des zweiten Tages nach der Szene im Walde, nachdem sie bemerkt, dass sie ihr Zimmer nicht mehr verschliessen kann. Da sagt sie sich: Hier droht mir ernste Gefahr, und bildet den Vorsatz, nicht allein im Hause zu bleiben, sondern mit dem Papa abzureisen. Dieser Vorsatz wird traumbildungsfähig, weil er sich ins Unbewusste fortzusetzen vermag. Dort entspricht ihm, dass sie die infantile Liebe zum Vater als Schutz gegen die aktuelle Versuchung aufruft. Die Wendung, die sich dabei in ihr vollzieht, fixiert sich und führt sie auf denStandpunkt, den ihr überwertiger Gedankenzug vertritt (Eifersucht gegen Frau K. wegen des Vaters, als ob sie in ihn verliebt wäre). Es kämpfen in ihr die Versuchung, dem werbenden Manne nachzugeben, und das zusammengesetzte Sträuben dagegen. Letzteres ist zusammengesetzt aus Motiven der Wohlanständigkeit und Besonnenheit, aus feindseligen Regungen infolge der Eröffnung der Gouvernante (Eifersucht, gekränkter Stolz, siehe unten) und aus einem neurotischen Element, dem in ihr vorbereiteten Stück Sexualabneigung, welches auf ihrer Kindergeschichte fusst. Die zum Schutz gegen die Versuchung wachgerufene Liebe zum Vater stammt aus dieser Kindergeschichte.Der Traum verwandelt den im Unbewussten vertieften Vorsatz, sich zum Vater zu flüchten, in eine Situation, die den Wunsch, der Vater möge sie aus der Gefahr retten, erfüllt zeigt. Dabei ist ein im Wege stehender Gedanke bei Seite zu schieben, der Vater ist es ja, der sie in diese Gefahr gebracht hat. Die hier unterdrückte feindselige Regung (Racheneigung) gegen den Papa werden wir als einen der Motoren des zweiten Traumes kennen lernen.Nach den Bedingungen der Traumbildung wird die phantasierte Situation so gewählt, dass sie eine infantile Situation wiederholt. Ein besonderer Triumph ist es, wenn es gelingt, eine rezente, etwa gerade die Situation des Traumanlasses, in eine infantile zu verwandeln. Das gelingt hier durch reine Zufälligkeit des Materials. So wie Herr K. vor ihrem Lager gestanden und sie geweckt, so tat es oft in Kinderjahren der Vater. Ihre ganze Wendung lässt sich treffend symbolisieren, indem sie in dieser Situation Herrn K. durch den Vater ersetzt.Der Vater weckte sie aber seinerzeit, damit sie das Bett nicht nass mache.Dieses „Nass“ wird bestimmend für den weiteren Trauminhalt, in welchem es aber nur durch eine entfernte Anspielung und durch seinen Gegensatz vertreten ist.Der Gegensatz von „Nass“, „Wasser“ kann leicht „Feuer“, „Brennen“ sein. Die Zufälligkeit, dass der Vater bei der Ankunft an dem Orte Angst vor Feuersgefahr geäussert hat, hilft mit, um zu entscheiden, dass die Gefahr, aus welcher der Vater sie rettet, eine Brandgefahr sei. Auf diesen Zufall und auf den Gegensatz zu „Nass“ stützt sich die gewählte Situation des Traumbildes: Es brennt, der Vater steht vor ihrem Bett, um sie zu wecken. Die zufällige Aeusserung des Vaters gelangte wohl nicht zu dieser Bedeutung im Trauminhalt, wenn sie nicht so vortrefflich zu der siegreichen Gefühlsströmung stimmen würde, die in dem Vater durchaus den Helfer und Retter finden will. Er hat die Gefahr gleich bei der Ankunft geahnt, er hat Recht gehabt! (In Wirklichkeit hat er das Mädchen in diese Gefahr gebracht.)In den Traumgedanken fällt dem „Nass“ infolge leicht herstellbarer Beziehungen die Rolle eines Knotenpunktes für mehrere Vorstellungskreise zu. „Nass“ gehört nicht allein dem Bettnässen an, sondern auch dem Kreis der sexuellen Versuchungsgedanken, die unterdrückt hinter diesem Trauminhalt stehen. Sie weiss, dass es auch ein Nasswerden beim sexuellen Verkehr gibt, dass der Mann dem Weibe etwas Flüssiges in Tropfenform bei der Begattung schenkt. Sie weiss, dass darin gerade die Gefahr besteht, dass ihr die Aufgabe gestellt wird, das Genitale vor dem Benetztwerden zu hüten.Mit „Nass“ und „Tropfen“ erschliesst sich gleichzeitig der andere Assoziationskreis, der des ekelhaften Katarrhs, der in ihren reiferen Jahren wohl die nämliche beschämende Bedeutung hat, wie in der Kinderzeit das Bettnässen. „Nass“ wird hier gleichbedeutend mit „verunreinigt“. Das § 106

III.

§ 107

Der zweite Traum.

§ 108

Wenige Wochen nach dem ersten fiel der zweite Traum vor, mit dessen Erledigung die Analyse abbrach. Er ist nicht so voll durchsichtig zu machen wie der erste, brachte aber eine erwünschte Bestätigung einer notwendig gewordenen Annahme über den Seelenzustand der Patientin, füllte eine Gedächtnislücke

§ 109

Dora erzählte: Ich gehe in einer Stadt, die ich nicht kenne, spazieren, sehe Strassen und Plätze, die mir fremd sind1)1). Ich komme dann in ein Haus, wo ich wohne, gehe auf mein Zimmer und finde dort einen Brief der Mama liegen. Sie schreibt: Da ich ohne Wissen der Eltern von Hause fort bin, wollte sie mir nicht schreiben, dass der Papa erkrankt ist. Jetzt ist er gestorben, undwenn Du willst1)1), kannst Du kommen. Ich gehe nun zum Bahnhof und frage etwa 100 mal: Wo ist der Bahnhof? Ich bekomme immer die Antwort: 5 Minuten. Ich sehe dann einen dichten Wald vor mir, in den ich hineingehe, und frage dort einen Mann, dem ich begegne. Er sagt mir: Noch 2½ Stunden2)2). Er bietet mir an, mich zu begleiten. Ich lehne ab und gehe allein. Ich sehe den Bahnhof vor mir und kann ihn nicht erreichen. Dabei ist das gewöhnliche Angstgefühl, wenn man im Traum nicht weiter kommt. Dann bin ich zu Hause, dazwischen muss ich gefahren sein, davon weiss ich aber nichts. — Trete in die Portierloge und frage ihn nach unserer Wohnung. Das Dienstmädchen öffnet mir und antwortet: Die Mama und die Anderen sind schon auf dem Friedhof3)3).

1) Hierzu der wichtige Nachtrag: Auf einem der Plätze sehe ich ein Monument. § 110

Die Deutung dieses Traumes ging nicht ohne Schwierigkeiten vor sich. Infolge der eigentümlichen, mit seinem Inhalt verknüpften Umstände, unter denen wir abbrachen, ist nicht alles geklärt worden, und damit hängt wieder zusammen, dass meine Erinnerung die Reihenfolge der Erschliessungen nicht überall gleich sicher bewahrt hat. Ich schicke noch voraus, welches Thema der fortlaufenden Analyse unterlag, als sich der Traum einmengte. Dora warf seit einiger Zeit selbst Fragen über den Zusammenhang ihrer Handlungen mit den zu vermutenden Motiven auf. Eine dieser Fragen war: Warum habe ich die ersten Tage nach der Szene am See noch darüber geschwiegen? Die zweite: Warum habe ich dann plötzlich den Eltern davon erzählt? Ich fand es überhaupt noch der Erklärung bedürftig, dass sie sich durch die Werbung K.s so schwer gekränkt gefühlt, zumal da mir die Einsicht aufzugehen begann, dass die Werbung um Dora auch für Herrn K. keinen leichtsinnigen Verführungsversuch bedeutet hatte. Dass sie von dem Vorfalle ihre Eltern in Kenntnis gesetzt, legte ich als eine Handlung aus, die bereits unter dem Einfluss krankhafter Rachsucht stand. Ein normales Mädchen wird, so sollte ich meinen, allein mit solchen Angelegenheiten fertig.

§ 111

Ich werde also das Material, welches sich zur Analyse dieses Traumes einstellte, in der ziemlich bunten Ordnung, die sich in meiner Reproduktion ergibt, vorbringen.

§ 112

Sie irrt allein in einer fremden Stadt, sieht Strassen und Plätze. Sie versichert, es war gewiss nicht B., worauf ich zuerst geraten hatte, sondern eine Stadt, in der sie nie gewesen war. Es lag nahe, fortzusetzen: Sie können ja Bilder oder Photographien gesehen haben, denen Sie die Traumbilder entnehmen. Nach dieser Bemerkung stellte sich der Nachtrag von dem Monument auf einem Platze ein und dann sofort die Kenntnis der Quelle. Sie hatte zu den Weihnachtsfeiertagen ein Album mit Stadtansichten aus einem deutschen Kurort bekommen und dasselbe gerade gestern hervorgesucht, um es den Verwandten, die bei ihnen zu Gast waren, zu zeigen. Es lag in einer Bilderschachtel, die sich nicht gleich vorfand, und sie fragte die Mama: Wo ist die Schachtel1)1)? Eines der Bilder zeigte einen Platz mit einem Monument. Der Spender aber war ein junger Ingenieur, dessen flüchtige Bekanntschaft sie einst in der Fabrikstadt gemacht hatte. Der junge Mann hatte eine Stellung in Deutschland angenommen, um rascher zur Selbständigkeit zu kommen, benutzte jede Gelegenheit, um sich in Erinnerung zu bringen, und es war leicht zu erraten, dass er vorhabe, seinerzeit, wenn sich seine Position gebessert, mit einer Werbung um Dora hervorzutreten. Aber das brauchte noch Zeit, da hiess es warten.

1) Dazu der Nachtrag: Bei diesem Wort stand ein Fragezeichen: willst? 2) Ein zweites Mal wiederholt sie: 2 Stunden. 3) Dazu in der nächsten Stunde zwei Nachträge: Ich sehe mich besonders deutlich die Treppe hinaufgehen, und: Nach ihrer Antwort gehe ich, aber gar nicht traurig, auf mein Zimmer und lese in einem grossen Buch, das auf meinem Schreibtisch liegt. § 113

Das Umherwandern in einer fremden Stadt war überdeterminiert. Es führte zu einem der Tagesanlässe. Zu den Feiertagen war ein jugendlicher Cousin auf Besuch gekommen, dem sie jetzt die Stadt Wien zeigen mussten. Dieser Tagesanlass war freilich ein höchst indifferenter. Der Vetter erinnerte sie aber an einen kurzen ersten Aufenthalt in Dresden. Damals wanderte sie als Fremde herum, versäumte natürlich nicht die berühmte Galerie zu besuchen. Ein anderer Vetter, der mit ihnen war und Dresden kannte, wollte den Führer durch die Galerie machen. Aber sie wies ihn ab und ging allein, blieb vor den Bildern stehen, die ihr gefielen. Vor der Sixtina verweilte sie 2 Stunden lang in still träumender Bewunderung. Auf die Frage, was ihr an dem Bilde so sehr gefallen, wusste sie nichts Klares zu antworten. Endlich sagte sie: die Madonna.

§ 114

Dass diese Einfälle wirklich dem traumbildenden Material angehören, ist doch gewiss. Sie schliessen Bestandteile ein, die wir unverändert im Trauminhalt wiederfinden (sie wies ihn ab und ging allein — 2 Stunden). Ich merke bereits, dass „Bilder“ einem Knotenpunkt in dem Gewebe der Traumgedanken entsprechen (die Bilder im Album — die Bilder in Dresden). Auch das Thema der Madonna, der jungfräulichen Mutter, möchte ich für weitere Verfolgung herausgreifen. Vor allem aber sehe ich, dass sie sich in diesem ersten Teil des Traumes mit einem jungen Manne identifiziert. Er irrt in der Fremde herum, er bestrebt sich, ein Ziel zu erreichen, aber er wird hingehalten, er braucht Geduld, er muss warten. Wenn sie dabei an den Ingenieur dachte, so hätte es gestimmt, dass dieses Ziel der Besitz eines Weibes, ihrer eigenen Person, sein sollte. Anstatt dessen war es ein — Bahnhof, für den wir allerdings nach dem Verhältnis der Frageim Traum zu der wirklich getanen Frage eine Schachtel einsetzen dürfen. Eine Schachtel und ein Weib, das geht schon besser zusammen.

1) Im Traum fragt sie: Wo ist der Bahnhof? Aus dieser Annäherung zog ich einen Schluss, den ich später entwickeln werde. § 115

Sie fragt wohl hundertmal . . . Das führt zu einer anderen minder indifferenten Veranlassung des Traumes. Gestern abends nach der Gesellschaft bat sie der Vater, ihm den Cognac zu holen; er schlafe nicht, wenn er nicht vorher Cognac getrunken. Sie verlangte den Schlüssel zum Speisekasten von der Mutter, aber die war in ein Gespräch verwickelt und gab ihr keine Antwort, bis sie mit der ungeduldigen Uebertreibung herausfuhr: Jetzt habe ich Dich schon hundertmal gefragt, wo der Schlüssel ist. In Wirklichkeit hatte sie die Frage natürlich nur etwa fünfmal wiederholt1)1).

§ 116

Wo ist der Schlüssel? scheint mir das männliche Gegenstück zur Frage: Wo ist die Schachtel (siehe den ersten Traum, Seite 427)? Es sind also Fragen — nach den Genitalien.

§ 117

In derselben Versammlung Verwandter hatte jemand einen Trinkspruch auf den Papa gehalten und die Hoffnung ausgesprochen, dass er noch lange in bester Gesundheit u.s. w. Dabei hatte es so eigentümlich in den müden Mienen des Vaters gezuckt, und sie hatte verstanden, welche Gedanken er zu unterdrücken hatte. Der arme kranke Mann! Wer konnte wissen, wie lange Lebensdauer ihm noch beschieden war.

§ 118

Damit sind wir beim Inhalt des Briefes im Traum angelangt. Der Vater war gestorben, sie hatte sich eigenmächtig vom Hause entfernt. Ich mahnte sie bei dem Brief im Traum sofort an den Abschiedsbrief, den sie den Eltern geschrieben oder wenigstens für die Eltern aufgesetzt hatte. Dieser Brief war bestimmt, den Vater in Schreck zu versetzen, damit er von Frau K. ablasse oder wenigstens an ihm Rache zu nehmen, wenn er dazu nicht zu bewegen sei. Wir stehen beim Thema ihres Todes und beim Tode ihres Vaters (Friedhof später im Traum). Gehen wir irre, wenn wir annehmen, dass die Situation, welche die Fassade des Traumes bildet, einer Rachephantasie gegen den Vater entspricht? Die mitleidigen Gedanken vom Tage vorher würden gut dazu stimmen. Die Phantasie aber lautete: Sie ginge von Haus weg in die Fremde, und dem Vater würde aus Kummer darüber, vor Sehnsucht nach ihr, das Herz brechen. Dann wäre sie gerächt. Sie verstand ja sehr gut, was dem Vater fehlte, der jetzt nicht obne Cognac schlafen konnte2)2).

1) Im Trauminhalt steht die Zahl fünf bei der Zeitangabe: 5 Minuten. In meinem Buche über die Traumdeutung habe ich an mehreren Beispielen gezeigt, wie in den Traumgedanken vorkommende Zahlen vom Traum behandelt werden; man findet sie häufig aus ihren Beziehungen gerissen und in neue Zusammenhänge eingetragen. 2) Die sexuelle Befriedigung ist unzweifelhaft das beste Schlafmittel, sowie Schlaflosigkeit zu allermeist die Folge der Unbefriedigung ist. Der Vater schlief nicht, weil ihm der Verkehr mit der geliebten Frau fehlte. Vgl. hierzu das unten Folgende: Ich habe nichts an meiner Frau. § 119

Wir wollen uns die Rachsucht als ein neues Element für eine spätere Synthese der Traumgedanken merken.

§ 120

Der Inhalt des Briefes musste aber weitere Determinierung zulassen. Woher stammte der Zusatz: Wenn Du willst?

§ 121

Da fiel ihr der Nachtrag ein, dass hinter dem Worte „willst“ ein Fragezeichen gestanden hatte, und damit erkannte sie auch diese Worte als Zitat aus dem Brief der Frau K., welcher die Einladung nach L. (am See) enthalten hatte. In ganz auffälliger Weise stand in diesem Briefe nach der Einschaltung: „wenn Du kommen willst?“ mitten im Gefüge des Satzes ein Fragezeichen.

§ 122

Da wären wir also wieder bei der Szene am See und bei den Rätseln, die sich an sie knüpften. Ich bat sie, mir diese Szene einmal ausführlich zu erzählen. Sie brachte zuerst nicht viel Neues. Herr K. hatte eine einigermassen ernsthafte Einleitung vorgebracht; sie liess ihn aber nicht ausreden. Sobald sie nur verstanden hatte, um was es sich handle, schlug sie ihm ins Gesicht und eilte davon. Ich wollte wissen, welche Worte er gebraucht; sie erinnerte nur seine Begründung: „Sie wissen, ich habe nichts an meiner Frau1)1),“ Sie wollte dann, um nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen, den Weg nach L. zu Fuss um den See machen und fragte einen Mann, der ihr begegnete, wie weit sie dahin habe. Auf seine Antwort: „2½ Stunden“ gab sie diese Absicht auf und suchte doch wieder das Schiff auf, das bald hernach abfuhr. Herr K. war auch wieder da, näherte sich ihr, bat sie, ihn zu entschuldigen und nichts von dem Vorfall zu erzählen. Sie gab aber keine Antwort. — Ja, der Wald im Traum war ganz ähnlich dem Wald am Seeufer, in dem sich die eben von neuem beschriebene Szene abgespielt hatte. Genau den nämlichen dichten Wald hatte sie aber gestern auf einem Gemälde in der Sezessionsausstellung gesehen. Im Hintergrunde des Bildes sah man Nymphen2)2).

§ 123

Jetzt wurde ein Verdacht bei mir zur Gewissheit. Bahnhof3)3) und Friedhof, an Stelle von weiblichen Genitalien, war auffällig genug, hatte aber meine geschärfte Aufmerksamkeit auf das ähnlich gebildete „Vorhof“ gelenkt, einen anatomischen Terminus für eine bestimmte Region der weiblichen Genitalien. Aber das konnte ein witziger Irrtum sein. Nun, da die „Nymphen“ dazu kamen, die man im Hintergrunde des „dichten Waldes“ sieht, war ein Zweifel nicht mehr gestattet. Das war symbolische Sexualgeographie! Nymphen nennt man, wie dem Arzt, aber nicht dem Laien bekannt, wie übrigens auch ersterem nicht sehr gebräuchlich, die kleinen Labien im Hintergrunde des „dichten Waldes“ von Schamhaaren. Wer aber solche technische Namen wie „Vorhof“und „Nymphen“ gebrauchte, der musste seine Kenntnis aus Büchern geschöpft haben und zwar nicht aus populären, sondern aus anatomischen Lehrbüchern oder aus einem Konversationslexikon, der gewöhnlichen Zuflucht der von sexueller Neugierde verzehrten Jugend. Hinter der ersten Situation des Traumes verbarg sich also, wenn diese Deutung richtig war, eine Deflorationsphantasie, wie ein Mann sich bemüht, ins weibliche Genitale einzudringen1)1).

1) Diese Worte werden zur Lösung eines unserer Rätsel führen. 2) Hier zum drittenmal: Bild (Städtebilder, Galerie in Dresden), aber in weit bedeutsamerer Verknüpfung. Durch das, was man an dem Bilde sieht wird es zum Weibsbild (Wald, Nymphen). 3) Der „Bahnhof“ dient übrigens dem „Verkehr“. Die psychische Umkleidung mancher Eisenbahnangst. § 124

Ich teilte ihr meine Schlüsse mit. Der Eindruck muss zwingend gewesen sein, denn es kam sofort ein vergessenes Stückchen des Traumes nach: Dass sie ruhig auf ihr Zimmer geht und in einem grossen Buch liest, welches auf ihrem Schreibtisch liegt2)2). Der Nachdruck liegt hier auf den beiden Details: ruhig und gross bei Buch. Ich fragte: War es Lexikonformat? Sie bejahte. Nun lesen Kinder über verbotene Materien niemals ruhig im Lexikon nach. Sie zittern und bangen dabei und schauen sich ängstlich um, ob wohl jemand kommt. Die Eltern sind bei solcher Lektüre sehr im Wege. Aber die wunscherfüllende Kraft des Traumes hatte die unbehagliche Situation gründlich verbessert. Der Vater war tot und die anderen schon auf den Friedhof gefahren. Sie konnte ruhig lesen, was ihr beliebte. Sollte das nicht heissen, dass einer ihrer Gründe zur Rache auch die Auflehnung gegen den Zwang der Eltern war? Wenn der Vater tot war, dann konnte sie lesen oder auch lieben, wie sie wollte.

§ 125

Zunächst wollte sie nun nicht erinnern, dass sie je im Konversationslexikon gelesen, dann gab sie zu, dass eine solche Erinnerung in ihr auftauchte, freilich harmlosen Inhalts. Zur Zeit, als die geliebte Tante so schwer krank und ihre Reise nach Wien schon beschlossen war, kam von einem anderen Onkel ein Brief, sie könnten nicht nach Wien reisen, ein Kind, also ein Vetter Doras sei gefährlich an Blinddarmentzündung erkrankt. Damals las sie im Lexikon nach, welches die Symptome einer Blinddarmentzündung seien. Von dem, was sie gelesen, erinnert sie noch den charakteristisch lokalisierten Schmerz im Leib.

§ 126

Nun erinnerte ich, dass sie kurz nach dem Tode der Tante eine angebliche Blinddarmentzündung in Wien durchgemacht. Ichhatte mich bisher nicht getraut, diese Erkrankung zu ihren hysterischen Leistungen zu rechnen. Sie erzählte, dass sie die ersten Tage hoch gefiebert und denselben Schmerz im Unterleib verspürt, von dem sie im Lexikon gelesen. Sie habe kalte Umschläge bekommen, sie aber nicht vertragen; am zweiten Tag sei unter heftigen Schmerzen die seit ihrem Kranksein sehr unregelmässige Periode eingetreten. An Stuhlverstopfung habe sie damals konstant gelitten.

1) Die Deflorationsphantasie ist der zweite Bestandteil dieser Situation. Die Hervorhebung der Schwierigkeit im Vorwärtskommen und die im Traum empfundene Angst weisen auf die gerne betonte Jungfräulichkeit, die wir an anderer Stelle durch die „Sixtina“ angedeutet finden. Diese sexuellen Gedanken ergeben eine unbewusste Untermalung für die vielleicht nur geheim gehaltenen Wünsche, die sich mit dem wartenden Bewerber in Deutschland beschäftigen. Als ersten Bestandteil derselben Traumsituation haben wir die Rachephantasie kennen gelernt, die beiden decken einander nicht völlig, sondern nur partiell; die Spuren eines noch bedeutsameren dritten Gedankenzuges werden wir später finden. 2) Ich kann diesen Traum als neuen Beweis für die Richtigkeit einer in der „Traumdeutung“ (p. 299 u. ff.) enthaltenen Behauptung verwerten, dass die zuerst vergessenen und nachträglich erinnerten Traumstücke stets die für das Verständnis des Traumes wichtigsten sind. Ich ziehe dort den Schluss, dass auch das Vergessen der Träume die Erklärung durch den innerpsychischen Widerstand fordert. § 127

Es ging nicht recht an, diesen Zustand als einen rein hysterischen aufzufassen. Wenn auch hysterisches Fieber unzweifelhaft vorkommt, so schien es doch willkürlich, das Fieber dieser fraglichen Erkrankung auf Hysterie anstatt auf eine organische damals wirksame Ursache zu beziehen. Ich wollte die Spur wieder aufgeben, als sie selbst weiterhalf, indem sie den letzten Nachtrag zum Traum brachte: Sie sehe sich besonders deutlich die Treppe hinaufgehen.

§ 128

Dafür verlangte ich natürlich eine besondere Determinierung. Ihren wohl nicht ernsthaft gemeinten Einwand, dass sie ja die Treppe hinaufgehen müsse, wenn sie in ihre im Stock gelegene Wohnung wolle, konnte ich leicht mit der Bemerkung abweisen, wenn sie im Traum von der fremden Stadt nach Wien reisen und dabei die Eisenbahnfahrt übergehen könne, so dürfe sie sich auch über die Stufen der Treppe im Traum hinwegsetzen. Sie erzählte dann weiter: Nach der Blinddarmentzündung habe sie schlecht gehen können, weil sie den rechten Fuss nachgezogen. Das sei lange so geblieben, und sie hätte darum besonders Treppen gerne vermieden. Noch jetzt bleibe der Fuss manchmal zurück. Die Aerzte, die sie auf Verlangen des Vaters konsultierte, hätten sich über diesen ganz ungewöhnlichen Rest nach einer Blinddarmentzündung sehr verwundert, besonders da der Schmerz im Leib nicht wieder aufgetreten sei und keineswegs das Nachziehen des Fusses begleite1)1).

§ 129

Das war also ein rechtes hysterisches Symptom. Mochte auch das Fieber damals organisch bedingt gewesen sein — etwa durch eine der so häufigen Influenza-Erkrankungen ohne besondere Lokalisation —, so war doch sichergestellt, dass sich die Neurose des Zufalls bemächtigt, um ihn für eine ihrer Aeusserungen zu verwerten. Sie hatte sich also eine Krankheit angeschafft, über die sie im Lexikon nachgelesen, sich für diese Lektüre bestraft und musste sich sagen, die Strafe konnte unmöglich der Lektüre des harmlosen Artikels gelten, sondern war durch eine Verschiebung zustande gekommen, nachdem an diese Lektüre sich andere schuldvollere angeschlossenhatte, die sich heute in der Erinnerung hinter der gleichzeitigen harmlosen verbarg.1)1) Vielleicht liess sich noch erforschen, über welche Themata sie damals gelesen hatte.

1) Zwischen der „Ovarie“ benannten Schmerzhaftigkeit im Abdomen und der Gehstörung des gleichseitigen Beines ist ein somatischer Zusammenhang anzunehmen, der hier bei Dora eine besonders spezialisierte Deutung i. e. psychische Ueberlagerung und Verwertung erfährt. Vgl. die analoge Bemerkung bei der Analyse der Hustensymptome und des Zusammenhanges von Katarrh und Essunlust. § 130

Was bedeutete denn der Zustand, der eine Perityphlitis nachahmen wollte? Der Rest der Affektion, das Nachziehen eines Beines, der zu einer Perityphlitis so gar nicht stimmte, musste sich besser zu der geheimen, etwa sexuellen Bedeutung des Krankheitsbildes schicken und konnte seinerseits, wenn man ihn aufklärte, ein Licht auf diese gesuchte Bedeutung werfen. Ich versuchte, einen Zugang zu diesem Rätsel zu finden. Es waren im Traume Zeiten vorgekommen; die Zeit ist wahrlich nichts Gleichgiltiges bei allem biologischen Geschehen. Ich fragte also, wann diese Blinddarmentzündung sich ereignet, ob früher oder später als die Szene am See. Die prompte, alle Schwierigkeiten mit einem Schlag lösende Antwort war: 9 Monate nachher. Dieser Termin ist wohl charakteristisch. Die angebliche Blinddarmentzündung hatte also die Phantasie einer Entbindung realisiert mit den bescheidenen Mitteln, die der Patientin zu Gebote standen, den Schmerzen und der Periodenblutung.2)2) Sie kannte natürlich die Bedeutung dieses Termins und konnte die Wahrscheinlichkeit nicht in Abrede stellen, dass sie damals im Lexikon über Schwangerschaft und Geburt gelesen. Was war aber mit dem nachgezogenen Bein? Ich durfte jetzt ein Erraten versuchen. So geht man doch, wenn man sich den Fuss übertreten hat. Sie hatte also einen „Fehltritt“ getan, ganz richtig, wenn sie 9 Monate nach der Szene am See entbinden konnte. Nur musste ich eine weitere Forderung aufstellen. Man kann — nach meiner Ueberzeugung — solche Symptome nur dann bekommen, wenn man ein infantiles Vorbild für sie hat. Die Erinnerungen, die man von Eindrücken späterer Zeit hat, besitzen, wie ich nach meinen bisherigen Erfahrungen strenge festhalten muss, nicht die Kraft, sich als Symptome durchzusetzen. Ich wagte kaum zu hoffen, dass sie mir das gewünschte Material aus der Kinderzeit liefern würde, denn ich kann in Wirklichkeit obigen Satz, an den ich gerne glauben möchte, noch nicht allgemein aufstellen. Aber hier kam die Bestätigung sofort. Ja, sie hatte sich als Kind einmal denselben Fuss übertreten, sie war in B. beim Heruntergehen auf der Treppe über eine Stufe gerutscht; der Fuss, es war sogar der nämliche, den sie später nachzog, schwoll an, musste bandagiert werden, sie lag einige Wochen ruhig. Es war kurze Zeit vor dem nervösen Asthma im achten Lebensjahre.

§ 131

Nun galt es, den Nachweis dieser Phantasie zu verwerten:Wenn Sie 9 Monate nach der Szene am See eine Entbindung durchmachen und dann mit den Folgen des Fehltritts bis zum heutigen Tage herumgehen, so beweist dies, dass Sie im Unbewussten den Ausgang der Szene bedauert haben. Sie haben ihn also in Ihrem unbewussten Denken korrigiert. Die Voraussetzung Ihrer Entbindungsphantasie ist ja, dass damals etwas vorgegangen ist1)1), dass Sie damals all das erlebt und erfahren haben, was Sie später aus dem Lexikon entnehmen mussten. Sie sehen, dass Ihre Liebe zu Herrn K. mit jener Szene nicht beendet war, dass sie sich, wie ich behauptet habe, bis auf den heutigen Tag — allerdings Ihnen unbewusst — fortsetzt. — Sie widersprach dem auch nicht mehr.2)2)

1) Ein ganz typisches Beispiel für Entstehung von Symptomen aus Anlässen, die anscheinend mit dem Sexuellen nichts zu tun haben. 2) Ich habe schon angedeutet, dass die meisten hysterischen Symptome, wenn sie ihre volle Ausbildung erlangt haben, eine phantasierte Situation des Sexuallebens darstellen, also eine Szene des sexuellen Verkehrs, eine Schwangerschaft, Entbindung, Wochenbett u. dgl. § 132

Diese Arbeiten zur Aufklärung des zweiten Traumes hatten zwei Stunden in Anspruch genommen. Als ich nach Schluss derzweiten Sitzung meiner Befriedigung über das Erreichte Ausdruck gab, antwortete sie geringschätzig: Was ist denn da viel herausgekommen? und bereitete mich so auf das Herannahen weiterer Enthüllungen vor.

1) Die Deflorationsphantasie findet also ihre Anwendung auf Herrn K., und es wird klar, warum dieselbe Region des Trauminhaltes Material aus der Szene am See enthält. (Ablehnung, 2½ Stunden, der Wald, Einladung nach L.) 2) Einige Nachträge zu den bisherigen Deutungen: Die „Madonna ist offenbar sie selbst erstens wegen des „Anbeters“, der ihr die Bilder geschickt hat, dann weil sie Herrn K.’s Liebe vor allem durch ihre Mütterlichkeit gegen seine Kinder gewonnen hatte, und endlich, weil sie als Mädchen doch schon ein Kind gehabt hat, im direkten Hinweis auf die Entbindungsphantasie. Die „Madonna“ ist übrigens eine beliebte Gegenvorstellung, wenn ein Mädchen unter dem Drucke sexueller Beschuldigungen steht, was ja auch bei Dora zutrifft. Ich bekam von diesem Zusammenhange die erste Ahnung als Arzt der psychiatrischen Klinik bei einem Falle von halluzinatorischer Verworrenheit raschen Ablaufs, der sich als Reaktion auf einen Vorwurf des Bräutigams herausstellte. Die mütterliche Sehnsucht nach einem Kind wäre bei Fortsetzung der Analyse wahrscheinlich als mächtiges und dunkles Motiv ihres Handelns aufzudecken gewesen. — Die vielen Fragen, die sie in letzter Zeit aufgeworfen hatte, erscheinen wie Spätabkömmlinge der Fragen sexueller Wissbegierde, welche sie aus dem Lexikon zu befriedigen gesucht. Es ist anzunehmen, dass sie über Schwangerschaft, Entbindung, Jungfräulichkeit und ähnliche Themata nachgelesen. — Eine der Fragen, die in den Zusammenhang der zweiten Traumsituation einzufügen sind, hatte sie bei der Reproduktion des Traumes vergessen. Es konnte nur die Frage sein: Wohnt hier der Herr ***? oder: Wo wohnt der Herr ***? Es muss seinen Grund haben, dass sie diese scheinbar harmlose Frage vergessen, nachdem sie sie überhaupt in den Traum aufgenommen. Ich finde diesen Grund in dem Familiennamen selbst, der gleichzeitig Gegenstandsbedeutung hat, und zwar mehrfache, also einem „zweideutigen“ Wort gleichgesetzt werden kann. Ich kann diesen Namen leider nicht mitteilen, um zu zeigen, wie geschickt er verwendet worden ist, um „Zweideutiges“ und „Unanständiges“ zu bezeichnen. Es stützt diese Deutung, wenn wir in anderer Region der Traumes, wo das Material aus den Erinnerungen an den Tod der Tante stammt (Sie sind schon auf den Friedhof gefahren) gleichfalls eine Wortanspielung auf den Namen der Tante finden. In diesen unanständigen Worten wäre wohl ein Hinweis auf eine zweite mündliche Quelle gelegen, da für sie das Wörterbuch nicht ausreicht. Ich wäre nicht erstaunt gewesen zu hören, dass Frau K. selbst, die Verleumderin, diese Quelle war. Dora hätte dann gerade sie edelmütig verschont, während sie die anderen Personen mit nahezu tückischer Rache verfolgte; hinter der schier unübersehbaren Reihe von Verschiebungen, die sich so ergeben, könnte man ein einfaches Moment, die tief wurzelnde homosexuelle Liebe zu Frau K., vermuten. § 133

Zur dritten Sitzung trat sie mit den Worten an: „Wissen Sie, Herr Doktor, dass ich heute das letzte Mal hier bin?“ — Ich kann es nicht wissen, da Sie mir nichts davon gesagt haben. — „Ja, ich habe mir vorgenommen, bis Neujahr1)1) halte ich es noch aus; länger will ich aber auf die Heilung nicht warten.“ — Sie wissen, dass Sie die Freiheit, auszutreten, immer haben. Heute wollen wir aber noch arbeiten. Wann haben Sie den Entschluss gefasst? — „Vor 14 Tagen, glaube ich.“ — Das klingt ja wie von einem Dienstmädchen, einer Gouvernante, 14 tägige Kündigung. — „Eine Gouvernante, die gekündigt hat, war auch damals bei K., als ich sie in L. am See besuchte.“ — So? Von der haben Sie noch nie erzählt. Bitte, erzählen Sie.

§ 134

„Es war also ein junges Mädchen im Hause als Gouvernante der Kinder, die ein ganz merkwürdiges Benehmen gegen den Herrn zeigte. Sie grüsste ihn nicht, gab ihm keine Antwort, reichte ihm nichts bei Tisch, wenn er um etwas bat, kurz behandelte ihn wie Luft. Er war übrigens auch nicht viel höflicher gegen sie. Einen oder zwei Tage vor der Szene am See nahm mich das Mädchen auf die Seite; sie habe mir etwas mitzuteilen. Sie erzählte mir dann, Herr K. habe sich ihr zu einer Zeit, als die Frau gerade für mehrere Wochen abwesend war, genähert, sie sehr umworben und sie gebeten, ihm gefällig zu sein; er habe nichts von seiner Frau usw.“ . . . Das sind ja dieselben Worte, die er dann in der Werbung um Sie gebraucht, bei denen Sie ihm den Schlag ins Gesicht gegeben. — „Ja. Sie gab ihm nach, aber nach kurzer Zeit kümmerte er sich nicht mehr um sie, und sie hasste ihn seitdem.“ — Und diese Gouvernante hatte gekündigt? — „Nein, sie wollte kündigen. Sie sagte mir, sie habe sofort, wie sie sich verlassen gefühlt, den Vorfall den Eltern mitgeteilt, die anständige Leute sind und irgendwo in Deutschland wohnen. Die Eltern verlangten, dass sie das Haus augenblicklich verlasse, und schrieben ihr dann, als sie es nicht tat, sie wollten nichts mehr von ihr wissen, sie dürfe nicht mehr nach Haus zurückkommen.“ — Und warum ging sie nicht fort? — „Sie sagte, sie wolle noch eine kurze Zeit abwarten, ob sich nichts bei Herrn K. ändere. So zu leben, halte sie nicht aus. Wenn sie keine Aenderung sehe, werde sie kündigen und fortgehen.“ — Und was ist aus dem Mädchen geworden? — „Ich weiss nur, dass sie fortgegangen ist.“ — Ein Kind hat sie von dem Abenteuer nicht davongetragen? — „Nein.“

§ 135

Da war also — wie übrigens ganz regelrecht — inmitten der Analyse ein Stück tatsächlichen Materials zum Vorschein gekommen, das früher aufgeworfene Probleme lösen half. Ich

1) Es war der 31. Dezember. § 136

konnte Dora sagen: Jetzt kenne ich das Motiv jenes Schlags, mit dem Sie die Werbung beantwortet haben. Es war nicht Kränkung über die an Sie gestellte Zumutung, sondern eifersüchtige Rache. Als Ihnen das Fräulein seine Geschichte erzählte, machten Sie noch von Ihrer Kunst Gebrauch, alles bei Seite zu schieben, was Ihren Gefühlen nicht passte. In dem Moment, da Herr K. die Worte gebrauchte: Ich habe nichts an meiner Frau, die er auch zu dem Fräulein gesagt, wurden neue Regungen in Ihnen wachgerufen, und die Wagschale kippte um. Sie sagten sich: Er wagt es, mich zu behandeln wie eine Gouvernante, eine dienende Person? Diese Hochmutskränkung zur Eifersucht und zu den bewussten besonnenen Motiven hinzu: das war endlich zu viel.1)1) Zum Beweise, wie sehr Sie unter dem Eindruck der Geschichte des Fräuleins stehen, halte ich Ihnen die wiederholten Identifizierungen mit ihr im Traum und in Ihrem Benehmen vor. Sie sagen es den Eltern, was wir bisher nicht verstanden haben, wie das Fräulein es den Eltern geschrieben hat. Sie kündigen mir wie eine Gouvernante mit 14 tägiger Kündigung. Der Brief im Traum, der Ihnen erlaubt, nach Hause zu kommen, ist ein Gegenstück zum Briefe der Eltern des Fräuleins, die es ihr verboten hatten.

§ 137

„Warum habe ich es dann den Eltern nicht gleich erzählt?“

§ 138

Welche Zeit haben Sie denn verstreichen lassen?

§ 139

„Am letzten Juni fiel die Szene vor; am 14. Juli habe ich’s der Mutter erzählt.“

§ 140

Also wieder 14 Tage, der für eine dienende Person charakteristische Termin! Ihre Frage kann ich jetzt beantworten. Sie haben ja das arme Mädchen sehr wohl verstanden. Sie wollte nicht gleich fortgehen, weil sie noch hoffte, weil sie erwartete, dass Herr K. seine Zärtlichkeit ihr wieder zuwenden würde. Das muss also auch Ihr Motiv gewesen sein. Sie warteten den Termin ab, um zu sehen, ob er seine Werbung erneuern würde, daraus hätten Sie geschlossen, dass es ihm Ernst war, und dass er nicht mit Ihnen spielen wollte wie mit der Gouvernante.

§ 141

„In den ersten Tagen nach der Abreise schickte er noch eine Ansichtskarte.2)2)

§ 142

Ja, als aber dann nichts weiter kam, da liessen Sie Ihrer Rache freien Lauf. Ich kann mir sogar vorstellen, dass damals noch Raum für die Nebenabsicht war, ihn durch die Anklage zum Hinreisen nach Ihrem Aufenthalt zu bewegen.

§ 143

„. . . Wie er’s ja auch zuerst uns angetragen hat“, warf sie ein. — Dann wäre Ihre Sehnsucht nach ihm gestillt worden — hier nickte sie Bestätigung, was ich nicht erwartet hatte — und erhätte Ihnen die Genugtuung geben können, die Sie sich verlangten.

1) Es war vielleicht nicht gleichgiltig, dass sie dieselbe Klage über die Frau, deren Bedeutung sie wohl verstand, auch vom Vater gehört haben konnte, wie ich sie aus seinem Munde gehört habe. 2) Dies die Anlehnung für den Ingenieur, der sich hinter dem Ich in der ersten Traumsituation verbirgt. § 144

„Welche Genugtuung?“

§ 145

Ich fange nämlich an zu ahnen, dass Sie die Angelegenheit mit Herrn K. viel ernster aufgefasst haben, als Sie bisher verraten wollten. War zwischen den K. nicht oft von Scheidung die Rede?

§ 146

„Gewiss, zuerst wollte er nicht der Kinder wegen, und jetzt will sie, aber er will nicht mehr.“

§ 147

Sollten Sie nicht gedacht haben, dass er sich von seiner Frau scheiden lassen will, um Sie zu heiraten? Und dass er jetzt nicht mehr will, weil er keinen Ersatz hat? Sie waren freilich vor 2 Jahren sehr jung, aber Sie haben mir selbst von der Mama erzählt, dass sie mit 17 Jahren verlobt war und dann 2 Jahre auf ihren Mann gewartet hat. Die Liebesgeschichte der Mutter wird gewöhnlich zum Vorbild für die Tochter. Sie wollten also auch auf ihn warten und nahmen an, dass er nur warte, bis Sie reif genug seien, seine Frau zu werden1)1). Ich stelle mir vor, dass es ein ganz ernsthafter Lebensplan bei Ihnen war. Sie haben nicht einmal das Recht, zu behaupten, dass eine solche Absicht bei Herrn K. ausgeschlossen war, und haben mir genug von ihm erzählt, was direkt auf eine solche Absicht deutet2)2). Auch sein Benehmen in L. widerspricht dem nicht. Sie haben ihn ja nicht ausreden lassen und wissen nicht, was er Ihnen sagen wollte. Nebstbei wäre der Plan gar nicht so unmöglich auszuführen gewesen. Die Beziehungen des Papa zu Frau K., die Sie wahrscheinlich nur darum so lange Zeit unterstützt haben, boten Ihnen die Sicherheit, dass die Einwilligung der Frau zur Scheidung zu erreichen wäre, und beim Papa setzen Sie durch, was Sie wollen. Ja, wenn die Versuchung in L. einen andern Ausgang genommen hätte, wäre dies ja für alle Teile die einzig mögliche Lösung gewesen. Ich meine auch, darum haben Sie den anderen Ausgang so bedauert und ihn in der Phantasie, die als Blinddarmentzündung auftrat, korrigiert. Es musste also eine schwere Enttäuschung für Sie sein, als anstatt einer erneuten Werbung das Leugnen und die Schmähungen von Seiten des Herrn K. der Erfolg Ihrer Anklage wurden. Sie gestehen zu, dass nichts Sie so sehr in Wut bringen kann, als wenn man glaubt, Sie hätten sich die Szene am See eingebildet. Ich weiss nun, woran Sie nicht erinnert werden wollen, dass Sie sich eingebildet, die Werbung sei ernsthaft und Herr K. werde nicht ablassen, bis Sie ihn geheiratet.

§ 148

Sie hatte zugehört, ohne, wie sonst, zu widersprechen. Sie schien ergriffen, nahm auf die liebenswürdigste Weise mit warmenWünschen zum Jahreswechsel Abschied und — kam nicht wieder. Der Vater, der mich noch einigemale besuchte, versicherte, sie werde wiederkommen; man merke ihr die Sehnsucht nach der Fortsetzung der Behandlung an. Aber er war wohl nie ganz aufrichtig. Er hatte die Kur unterstützt, so lange er sich Hoffnung machen konnte, ich würde Dora „ausreden“, dass zwischen ihm und Frau K. etwas anderes als Freundschaft bestehe. Sein Interesse erlosch, als er merkte, dass dieser Erfolg nicht in meiner Absicht liege. Ich wusste, dass sie nicht wiederkommen würde. Es war ein unzweifelhafter Racheakt, dass sie in so unvermuteter Weise, als meine Erwartungen auf glückliche Beendigung der Kur den höchsten Stand einnahmen, abbrach und diese Hoffnungen vernichtete. Auch ihre Tendenz zur Selbstschädigung fand ihre Rechnung bei diesem Vorgehen. Wer wie ich die bösesten Dämonen, die unvollkommen gebändigt in einer menschlichen Brust wohnen, aufweckt, um sie zu bekämpfen, muss darauf gefasst sein, dass er in diesem Ringen selbst nicht unbeschädigt bleibe. Ob ich das Mädchen bei der Behandlung erhalten hätte, wenn ich mich selbst in eine Rolle gefunden, den Wert ihres Verbleibens für mich übertrieben und ihr ein warmes Interesse bezeugt hätte, das bei aller Milderung durch meine Stellung als Arzt doch wie ein Ersatz für die von ihr ersehnte Zärtlichkeit ausgefallen wäre? Ich weiss es nicht. Da ein Teil der Faktoren, die sich als Widerstand entgegenstellen, in jedem Falle unbekannt bleibt, habe ich es immer vermieden, Rollen zu spielen, und mich mit anspruchsloserer psychologischer Kunst begnügt. Bei allem theoretischen Interesse und allem ärztlichen Bestreben, zu helfen, halte ich mir doch vor, dass der psychischen Beeinflussung notwendig Grenzen gesetzt sind, und respektiere als solche den Willen und die Einsicht des Patienten.

1) Das Warten, bis man das Ziel erreicht, findet sich im Inhalt der ersten Traumsituation; in dieser Phantasie vom Warten auf die Braut sehe ich ein Stück der dritten, bereits angekündigten Komponente dieses Traums. 2) Besonders eine Rede, mit der er im letzten Jahr des Zusammenlebens in B. das Weihnachtsgeschenk einer Briefschachtel begleitet hatte. § 149

Ich weiss auch nicht, ob Herr K. mehr erreicht hätte, wäre ihm verraten worden, dass jener Schlag ins Gesicht keineswegs ein endgültiges „Nein“ Doras bedeutete, sondern der zuletzt geweckten Eifersucht entsprach, während noch die stärksten Regungen ihres Seelenlebens für ihn Partei nahmen. Würde er dieses erste „Nein“ überhört und seine Werbung mit überzeugender Leidenschaft fortgesetzt haben, so hätte der Erfolg leicht sein können, dass die Neigung des Mädchens sich über alle inneren Schwierigkeiten hinweggesetzt hätte. Aber ich meine, vielleicht ebenso leicht wäre sie nur gereizt worden, ihre Rachsucht umso ausgiebiger an ihm zu befriedigen. Auf welche Seite sich in dem Widerstreit der Motive die Entscheidung neigt, ob zur Aufhebung oder zur Verstärkung der Verdrängung, das ist niemals zu berechnen. Die Unfähigkeit zur Erfüllung der realen Liebesforderung ist einer der wesentlichsten Charakterzüge der Neurose; die Kranken sind vom Gegensatz zwischen der Realität und der Phantasie beherrscht. Was sie in ihren Phantasien am intensivsten ersehnen, davor fliehen sie doch, wenn es ihnen in Wirklichkeit entgegentritt, und den Phantasien überlassen sie sicham liebsten, wo sie eine Realisierung nicht mehr zu befürchten brauchen. Die Schranke, welche die Verdrängung aufgerichtet hat, kann allerdings unter dem Ansturm heftiger, real veranlasster Erregungen fallen, die Neurose kann noch durch die Wirklichkeit überwunden werden. Wir können aber nicht allgemein berechnen, bei wem und wodurch diese Heilung möglich wäre1)1).

§ 150

IV. Nachwort.

§ 151

Ich habe diese Mitteilung zwar als Bruchstück einer Analyse angekündigt; man wird aber gefunden haben, dass sie in viel weiterem Umfange unvollständig ist, als sich nach diesem ihrem Titel erwarten liess. Es geziemt sich wohl, dass ich versuche, diese keinesfalls zufälligen Auslassungen zu motivieren.

§ 152

Eine Reihe von Ergebnissen der Analyse ist weggeblieben, weil sie beim Abbruch der Arbeit teils nicht genügend sicher erkannt, teils einer Fortführung bis zu einem allgemeineren Resultat bedürftig waren. Andere Male habe ich, wo es mir statthaft schien, auf die wahrscheinliche Fortsetzung einzelner Lösungen hingewiesen. Die keineswegs selbstverständliche Technik, mittels welcher man allein dem Rohmaterial von Einfällen des Kranken seinen Reingehalt an wertvollen unbewussten Gedanken entziehen kann, ist von mir hier durchwegs übergangen worden, womit der Nachteilverbunden bleibt, dass der Leser die Korrektheit meines Vorgehens bei diesem Darstellungsprozess nicht bestätigen kann. Ich fand es aber ganz undurchführbar, die Technik einer Analyse und die innere Struktur eines Falles von Hysterie in Einem zu behandeln; es wäre für mich eine fast unmögliche Leistung und für den Leser eine sicher ungeniessbare Lektüre geworden. Die Technik erfordert durchaus eine abgesonderte Darstellung, die durch zahlreiche, den verschiedensten Fällen entnommene Beispiele erläutert wird und von dem jedesmaligen Ergebnis absehen darf. Auch die psychologischen Voraussetzungen, die sich in meinen Beschreibungen psychischer Phänomene verraten, habe ich hier zu begründen nicht versucht. Eine flüchtige Begründung würde nichts leisten; eine ausführliche wäre eine Arbeit für sich. Ich kann nur versichern, dass ich, ohne einem bestimmten psychologischen System verpflichtet zu sein, an das Studium der Phänomene gegangen bin, welche die Beobachtung der Psychoneurotiker enthüllt, und dass ich dann meine Meinungen um soviel zurechtgerückt habe, bis sie mir geeignet erschienen, von dem Zusammenhange des Beobachteten Rechenschaft zu geben. Ich setze keinen Stolz darein, die Spekulation vermieden zu haben; das Material für diese Hypothesen ist aber durch die ausgedehnteste und mühevollste Beobachtung gewonnen worden. Besonders dürfte die Entschiedenheit meines Standpunktes in der Frage des Unbewussten Anstoss erregen, indem ich mit unbewussten Vorstellungen, Gedankenzügen und Regungen so operiere, als ob sie ebenso gute und unzweifelhafte Objekte der Psychologie wären wie alles Bewusste; aber ich bin dessen sicher, wer dasselbe Erscheinungsgebiet mit der nämlichen Methode zu erforschen unternimmt, wird nicht umhin können, sich trotz alles Abmahnens der Philosophen auf denselben Standpunkt zu stellen.

1) Noch einige Bemerkungen über den Aufbau dieses Traumes, der sich nicht so gründlich verstehen lässt, dass man seine Synthese versuchen könnte. Als ein fassadenartig vorgeschobenes Stück lässt sich die Rachephantasie gegen den Vater herausheben: Sie ist eigenmächtig von Hause weggegangen; der Vater ist erkrankt, dann gestorben . . . Sie geht jetzt nach Hause, die Anderen sind schon alle auf dem Friedhof. Sie geht gar nicht traurig auf ihr Zimmer und liest ruhig im Lexikon. Darunter zwei Anspielungen auf den anderen Racheakt, den sie wirklich ausgeführt, indem sie die Eltern einen Abschiedsbrief finden liess: Der Brief (im Traum von der Mama) und die Erwähnung des Leichenbegängnisses der für sie vorbildlichen Tante. — Hinter dieser Phantasie verbergen sich die Rachegedanken gegen Herrn K., denen sie in ihrem Benehmen gegen mich einen Ausweg geschafft hat. Das Dienstmädchen — die Einladung — der Wald — die 2 Stunden stammen aus dem Material der Vorgänge in L. Die Erinnerung an die Gouvernante und deren Briefverkehr mit ihren Eltern tritt mit dem Element ihres Abschiedsbriefes zu dem im Trauminhalt vorfindlichen Brief, der ihr nach Hause zu kommen erlaubt, zusammen. Die Ablehnung, sich begleiten zu lassen, der Entschluss, allein zu gehen, lässt sich wohl so übersetzen: Weil du mich wie ein Dienstmädchen behandelt hast, lasse ich dich stehen, gehe allein meine Wege und heirate nicht. — Durch diese Rachegedanken verdeckt, schimmert an anderen Stellen Material aus zärtlichen Phantasien aus der unbewusst fortgesetzten Liebe zu Herrn K. durch: Ich hätte auf dich gewartet, bis ich deine Frau geworden wäre — die Defloration — die Entbindung. — Endlich gehört es dem vierten, am tiefsten verborgenen Gedankenkreise, dem der Liebe zu Frau K. an, dass die Deflorationsphantasie vom Standpunkt des Mannes dargestellt wird (Identifizierung mit dem Verehrer, der jetzt in der Fremde weilt) und dass an zwei Stellen die deutlichsten Anspielungen auf zweideutige Reden (wohnt hier der Herr X. X.) und auf die nicht mündliche Quelle ihrer sexuellen Kenntnisse (Lexikon) enthalten sind. Grausame und sadistische Regungen finden in diesem Traume ihre Erfüllung. § 153

Diejenigen Fachgenossen, welche meine Theorie der Hysterie für eine rein psychologische gehalten und darum von vornherein für unfähig erklärt haben, ein pathologisches Problem zu lösen, werden aus dieser Abhandlung wohl entnehmen, dass ihr Vorwurf einen Charakter der Technik ungerechter Weise auf die Theorie überträgt. Nur die therapeutische Technik ist rein psychologisch; die Theorie versäumt es keineswegs, auf die organische Grundlage der Neurose hinzuweisen, wenngleich sie dieselbe nicht in einer pathologisch-anatomischen Veränderung sucht und die zu erwartende chemische Veränderung als derzeit noch unfassbar durch die Vorläufigkeit der organischen Funktion ersetzt. Der Sexualfunktion, in welcher ich die Begründung der Hysterie wie der Psychoneurosen überhaupt sehe, wird den Charakter eines organischen Faktors wohl niemand absprechen wollen. Eine Theorie des Sexuallebens wird, wie ich vermute, der Annahme bestimmter, erregend wirkender Sexualstoffe nicht entbehren können. Die Intoxikationen und Abstinenzen beim Gebrauch gewisser chronischer Gifte stehen ja unter allen Krankheitsbildern, welche uns die Klinik kennen lehrt, den genuinen Psychoneurosen am nächsten.

§ 154

Was sich aber über das „somatische Entgegenkommen“, über die infantilen Keime zur Perversion, über die erogenen Zonen und die Anlage zur Bisexualität heute aussagen lässt, habe ich in dieser Abhandlung gleichfalls nicht ausgeführt, sondern nur die Stellen hervorgehoben, an denen die Analyse auf diese organischen Fundamente der Symptome stösst. Mehr liess sich von einem vereinzelten Fall aus nicht tun, auch hatte ich die nämlichen Gründe wie oben, eine beiläufige Erörterung dieser Momente zu vermeiden. Hier ist reichlicher Anlass zu weiteren, auf eine grosse Zahl von Analysen gestützten Arbeiten gegeben.

§ 155

Mit dieser soweit unvollständigen Veröffentlichung wollte ich doch zweierlei erreichen. Erstens, als Ergänzung zu meinem Buche über die Traumdeutung, zeigen, wie diese sonst unnütze Kunst zur Aufdeckung des Verborgenen und Verdrängten im Seelenleben verwendet werden kann; bei der Analyse der beiden hier mitgeteilten Träume ist dann auch die Technik des Traumdeutens, welche der psycho-analytischen ähnlich ist, berücksichtigt worden. Zweitens wollte ich Interesse für eine Reihe von Verhältnissen erwecken, welche heute der Wissenschaft noch völlig unbekannt sind, weil sie sich nur bei Anwendung dieses bestimmten Verfahrens entdecken lassen. Von der Komplikation der psychischen Vorgänge bei der Hysterie, dem Nebeneinander der verschiedenartigsten Regungen, der gegenseitigen Bindung der Gegensätze, den Verdrängungen und Verschiebungen u. a. m. hat wohl niemand eine richtige Ahnung haben können. Janets Hervorhebung der „Idée fixe“, die sich in das Symptom umsetzt, bedeutet nichts als eine wahrhaft kümmerliche Schematisierung. Man wird sich auch der Vermutung nicht erwehren können, dass Erregungen, deren zugehörige Vorstellungen der Bewusstseinsfähigkeit ermangeln, anders aufeinander einwirken, anders verlaufen und zu anderen Aeusserungen führen, als die von uns „normal“ genannten, deren Vorstellungsinhalt uns bewusst wird. Ist man soweit aufgeklärt, so steht dem Verständnis einer Therapie nichts mehr im Wege, welche neurotische Symptome aufhebt, indem sie Vorstellungen der ersteren Art in normale verwandelt.

§ 156

Es lag mir auch daran, zu zeigen, dass die Sexualität nicht bloss als einmal auftretender Deus ex machina irgendwo in das Getriebe der für die Hysterie charakteristischen Vorgänge eingreift, sondern dass sie die Triebkraft für jedes einzelne Symptom und für jede einzelne Aeusserung eines Symptoms abgibt. Die Krankheitserscheinungen sind, geradezu gesagt, die Sexualbetätigung der Kranken. Ein einzelner Fall wird niemals im Stande sein, einen so allgemeinen Satz zu erweisen, aber ich kann es nur immer wieder von neuem wiederholen, weil ich es niemals anders finde, dass die Sexualität der Schlüssel zum Problem der Psychoneurosen, wie der Neurosen überhaupt ist. Wer ihn verschmäht, wird niemals aufzuschliessen im Stande sein. Ich warte noch auf die Untersuchungen, welche diesen Satz aufzuheben oder einzuschränken vermögen sollen. Was ich bis jetztdagegen gehört habe, waren Aeusserungen persönlichen Missfallens oder Unglaubens, denen es genügt, das Wort Charcots entgegenzuhalten: „Ça n’empêche pas d’exister.“

§ 157

Der Fall, aus dessen Kranken- und Behandlungsgeschichte ich hier ein Bruchstück veröffentlicht habe, ist auch nicht geeignet, den Wert der psychoanalytischen Therapie ins rechte Licht zu setzen. Nicht nur die Kürze der Behandlungsdauer, die kaum 3 Monate betrug, sondern noch ein anderes dem Falle innewohnendes Moment haben es verhindert, dass die Kur mit der sonst zu erreichenden, vom Kranken und seinen Angehörigen zugestandenen Besserung abschloss, die mehr oder weniger nahe an vollkommene Heilung heranreicht. Solche erfreuliche Erfolge erzielt man, wo die Krankheitserscheinungen allein durch den inneren Konflikt zwischen den auf die Sexualität bezüglichen Regungen gehalten werden. Man sieht in diesen Fällen das Befinden der Kranken in dem Maasse sich bessern, in dem man durch Uebersetzung des pathogenen Materials in normales zur Lösung ihrer psychischen Aufgaben beigetragen hat. Anders ist der Verlauf, wo sich die Symptome in den Dienst äusserer Motive des Lebens gestellt haben, wie es auch bei Dora seit den letzten zwei Jahren geschehen war. Man ist überrascht und könnte leicht irre werden, wenn man erfährt, dass das Befinden der Kranken durch die selbst weit vorgeschrittene Arbeit nicht merklich geändert wird. In Wirklichkeit steht es nicht so arg; die Symptome schwinden zwar nicht unter der Arbeit, wohl aber eine Zeit lang nach derselben, wenn die Beziehungen zum Arzte gelöst sind. Der Aufschub der Heilung oder Besserung ist wirklich nur durch die Person des Arztes verursacht.

§ 158

Ich muss etwas weiter ausholen, um diesen Sachverhalt verständlich zu machen. Während einer psychoanalytischen Kur ist die Neubildung von Symptomen, man darf wohl sagen: regelmässig, sistiert. Die Produktivität der Neurose ist aber durchaus nicht erloschen, sondern betätigt sich in der Schöpfung einer besonderen Art von meist unbewussten Gedankenbildungen, welchen man den Namen „Uebertragungen“ verleihen kann.

§ 159

Was sind die Uebertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewusst gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig. Es gibt solche Uebertragungen, die sich im Inhalt von ihrem Vorbild in gar nichts bis auf die Ersetzung unterscheiden. Das sind also, um in dem Gleichnis zu bleiben, einfache Neudrucke, unveränderte Neuauflagen. Andere sind kunstvoller gemacht, sie haben eine Milderung ihres Inhaltes, eine Sublimierung, wie ich sage, erfahren und vermögen selbst bewusst zu werden, indem sie sich an irgend eine geschickt verwertete reale Besonderheit bei der Person oder den Verhältnissen des Arztes anlehnen. Das sind also Neubearbeitungen, nicht mehr Neudrucke.

§ 160

Wenn man sich in die Theorie der analytischen Technik einlässt, kommt man zu der Einsicht, dass die Uebertragung etwas notwendig gefordertes ist. Praktisch überzeugt man sich wenigstens, dass man ihr durch keinerlei Mittel ausweichen kann und dass man diese letzte Schöpfung der Krankheit wie alle früheren zu bekämpfen hat. Nun ist dieses Stück der Arbeit das bei weitem schwierigste. Das Deuten der Träume, das Extrahieren der unbewussten Gedanken und Erinnerungen aus den Einfällen des Kranken und ähnliche Uebersetzungskünste sind leicht zu erlernen; dabei liefert immer der Kranke selbst den Text. Die Uebertragung allein muss man fast selbstständig erraten auf geringfügige Anhaltspunkte hin und ohne sich der Willkür schuldig zu machen. Zu umgehen ist sie aber nicht, da sie zur Herstellung aller Hindernisse verwendet wird, welche das Material der Kur unzugänglich machen, und da die Ueberzeugungsempfindung für die Richtigkeit der konstruierten Zusammenhänge beim Kranken erst nach der Lösung der Uebertragung hervorgerufen wird.

§ 161

Man wird geneigt sein, es für einen schweren Nachteil des ohnehin unbequemen Verfahrens zu halten, dass dasselbe die Arbeit des Arztes durch Schöpfung einer neuen Gattung von krankhaften psychischen Produkten noch vermehrt, ja wird vielleicht eine Schädigung des Kranken durch die analytische Kur aus der Existenz der Uebertragungen ableiten wollen. Beides wäre irrig. Die Arbeit des Arztes wird durch die Uebertragung nicht vermehrt; es kann ihm ja gleichgültig sein, ob er die betreffende Regung des Kranken in Verbindung mit seiner Person oder mit einer anderen zu überwinden hat. Die Kur nötigt aber auch dem Kranken mit der Uebertragung keine neue Leistung auf, die er nicht auch sonst vollzogen hätte. Wenn Heilungen von Neurosen auch in Anstalten zu Stande kommen, wo psychischanalytische Behandlung ausgeschlossen ist, wenn man sagen konnte, dass die Hysterie nicht durch die Methode, sondern durch den Arzt geheilt wird, wenn sich eine Art von blinder Abhängigkeit und dauernder Fesselung des Kranken an den Arzt zu ergeben pflegt, der ihn durch hypnotische Suggestion von seinen Symptomen befreit hat, so ist die wissenschaftliche Erklärung für all dies in „Uebertragungen“ zu sehen, die der Kranke regelmässig auf die Person des Arztes vornimmt. Die psychoanalytische Kur schafft die Uebertragung nicht, sie deckt sie blos, wie anderes im Seelenleben Verborgene, auf. Der Unterschied äussert sich nur darin, dass der Kranke spontan bloss zärtliche und freundschaftliche Uebertragungen zu seiner Heilung wachruft; wo dies nicht der Fall sein kann, reisst er sich so schnell als möglich unbeeinflusst vom Arzt, der ihm nicht „sympathisch“ ist, los. In der Psychoanalyse werden hingegen, entsprechend einer veränderten Motivenlage, alle Regungen, auch die feindseligen, geweckt, durch Bewusstmachen für die Analyse verwertet, und dabei wird die Uebertragung immer wieder vernichtet. Die Uebertragung, die das grösste Hindernis für die Psychoanalyse zu werden bestimmt ist, wird zum mächtigsten Hilfsmittel derselben, wenn es gelingt, sie jedesmal zu erraten und dem Kranken zu übersetzen.

§ 162

Ich musste von der Uebertragung sprechen, weil ich die Besonderheiten der Analyse Doras nur durch dieses Moment aufzuklären vermag. Was den Vorzug derselben ausmacht und sie als geeignet für eine erste, einführende Publikation erscheinen lässt, ihre besondere Durchsichtigkeit, das hängt mit ihrem grossen Mangel, welcher zu ihrem vorzeitigen Abbruch führte, innig zusammen. Es gelang mir hier nicht, der Uebertragung rechtzeitig Herr zu werden; durch die Bereitwilligkeit, mit welcher sie mir den einen Teil des pathogenen Materials in der Kur zur Verfügung stellte, vergass ich der Vorsicht, auf die ersten Zeichen der Uebertragung zu achten, welche sie mit einem anderen, mir unbekannt gebliebenen Teil desselben Materials vorbereitete. Zu Anfang war es klar, dass ich ihr in der Phantasie den Vater ersetzte, wie es auch bei dem Unterschied unserer Lebensalter nahe lag. Sie verglich mich auch immer bewusst mit ihm, suchte sich ängstlich zu vergewissern, ob ich auch ganz aufrichtig gegen sie sei, denn der Vater „bevorzuge immer die Heimlichkeit und einen krummen Umweg“. Als dann der erste Traum kam, in dem sie sich warnte, die Kur zu verlassen wie seinerzeit das Haus des Herrn K., hätte ich selbst gewarnt werden müssen und ihr vorhalten sollen: „Jetzt haben Sie eine Uebertragung von Herrn K. auf mich gemacht. Haben Sie etwas bemerkt, was Sie auf böse Absichten schliessen lässt, die denen des Herrn K. (direkt oder in irgend einer Sublimierung) ähnlich sind, oder ist Ihnen etwas an mir aufgefallen oder von mir bekannt geworden, was Ihre Zuneigung erzwingt, wie ehemals bei Herrn K.?“ Dann hätte sich ihre Aufmerksamkeit auf irgend ein Detail aus unserem Verkehr, an meiner Person oder an meinen Verhältnissen gerichtet, hinter dem etwas Analoges, aber ungleich Wichtigeres, das Herrn K. betraf, sich verborgen hielt, und durch die Lösung dieser Uebertragung hätte die Analyse den Zugang zu neuem, wahrscheinlich tatsächlichem Material der Erinnerung gewonnen. Ich überhörte aber diese erste Warnung, meinte, es sei reichlich Zeit, da sich andere Stufen der Uebertragung nicht einstellten und das Material für die Analyse noch nicht versiegte. So wurde ich denn von der Uebertragung überrascht und wegen des X, in dem ich sie an Herrn K. erinnerte, rächte sie sich an mir, wie sie sich an Herrn K. rächen wollte, und verliess mich, wie sie sich von ihm getäuscht und verlassen glaubte. Sie agierte so ein wesentliches Stück ihrer Erinnerungen und Phantasien, anstatt es in der Kur zu reproduzieren. Welches dieses X war, kann ich natürlich nicht wissen; ich vermute, es bezog sich auf Geld, oder es war Eifersucht gegen eine andere Patientin, die nach ihrer Heilung im Verkehr mit meiner Familie geblieben war. Wo sich die Uebertragungen frühzeitig in die Analyse einbeziehen lassen, da wird deren Verlauf undurchsichtig und verlangsamt, aber ihr Bestand ist gegen plötzliche unwiderstehliche Widerstände besser gesichert.

§ 163

In dem zweiten Traum Doras ist die Uebertragung durch mehrere deutliche Anspielungen vertreten. Als sie ihn mir erzählte, wusste ich noch nicht, erfuhr es erst 2 Tage später, dass wir nur noch 2 Stunden Arbeit vor uns hatten, dieselbe Zeit, die sie vor dem Bilde der sixtinischen Madonna verbracht, und die sie auch vermittelst einer Korrektur (2 Stunden anstatt 2½ Stunden) zum Mass des von ihr nicht zurückgelegten Weges um den See gemacht hatte. Das Streben und Warten im Traum, das sich auf den jungen Mann in Deutschland bezog und von ihrem Warten, bis Herr K. sie heiraten könne, herstammte, hatte sich schon einige Tage vorher in der Uebertragung geäussert: Die Kur dauere ihr zu lange, sie werde nicht die Geduld haben, so lange zu warten, während sie in den ersten Wochen Einsicht genug gezeigt hatte, meine Ankündigung, ihre volle Herstellung werde etwa ein Jahr in Anspruch nehmen, ohne solchen Einspruch anzuhören. Die Ablehnung der Begleitung im Traum, sie wolle lieber allein gehen, die gleichfalls aus dem Besuch in der Dresdener Galerie herrührte, sollte ich ja an dem hierfür bestimmten Tage erfahren. Sie hatte wohl den Sinn: Da alle Männer so abscheulich sind, so will ich lieber nicht heiraten. Dies meine Rache1)1).

§ 164

Wo Regungen der Grausamkeit und Motive der Rache, die schon im Leben zur Aufrechthaltung der Symptome verwendet worden sind, sich während der Kur auf den Arzt übertragen, ehe er Zeit gehabt hat, dieselben durch Rückführung auf ihre Quellen von seiner Person abzulösen, da darf es nicht Wunder nehmen, dass das Befinden der Kranken nicht den Einfluss seiner therapeutischen Bemühung zeigt. Denn wodurch könnte dieKranke sich wirksamer rächen, als indem sie an ihrer Person dartut, wie ohnmächtig und unfähig der Arzt ist? Dennoch bin ich geneigt, den therapeutischen Wert auch so fragmentarischer Behandlungen, wie die Doras war, nicht gering zu veranschlagen.

1) Je weiter ich mich zeitlich von der Beendigung dieser Analyse entferne, desto wahrscheinlicher wird mir, dass mein technischer Fehler in folgender Unterlassung bestand: Ich habe es versäumt, rechtzeitig zu erraten und der Kranken mitzuteilen, dass die homosexuelle (gynäkophile) Liebesregung für Frau K. die stärkste der unbewussten Strömungen ihres Seelenlebens war. Ich hätte erraten müssen, dass keine andere Person als Frau K. die Hauptquelle für ihre Kenntnis sexueller Dinge sein konnte, dieselbe Person, von der sie dann wegen ihres Interesses an solchen Gegenständen verklagt worden war. Es war doch zu auffällig, dass sie alles Anstössige wusste und niemals wissen wollte, woher sie es wusste. An dieses Rätsel hätte ich anknüpfen, für diese sonderbare Verdrängung hätte ich das Motiv suchen müssen. Der zweite Traum hätte es mir dann verraten. Die rücksichtslose Rachsucht, welcher dieser Traum den Ausdruck gab, war wie nichts anderes geeignet, die gegensätzliche Strömung zu verdecken, den Edelmut, mit dem sie den Verrat der geliebten Freundin verzieh und es allen verbarg, dass diese selbst ihr die Eröffnungen gemacht, deren Kenntnis dann zu ihrer Verdächtigung verwendet wurde. Ehe ich die Bedeutung der homosexuellen Strömung bei den Psychoneurotikern erkannt hatte, bin ich oftmals in der Behandlung von Fällen stecken geblieben oder in völlige Verwirrung geraten. § 165

Erst fünf Vierteljahre nach Abschluss der Behandlung und dieser Niederschrift erhielt ich Nachricht von dem Befinden meiner Patientin und somit von dem Ausgange der Kur. An einem nicht ganz gleichgültigen Datum, am 1. April, — wir wissen, dass Zeiten bei ihr nie bedeutungslos waren — erschien sie bei mir, um ihre Geschichte zu beenden und um neuerdings Hülfe zu erbitten; ein Blick auf ihre Miene konnte mir aber verraten, dass es ihr mit dieser Bitte nicht ernst war. Sie war noch 4—5 Wochen, nachdem sie die Behandlung verlassen, im „Durcheinander“, wie sie sagte. Dann trat eine grosse Besserung ein, die Anfälle wurden seltener, ihre Stimmung gehoben. Im Mai des jetzt vergangenen Jahres starb das eine Kind des Ehepaares K., das immer gekränkelt hatte. Sie nahm diesen Trauerfall zum Anlass, um den K. einen Kondolenzbesuch zu machen, und wurde von ihnen empfangen, als ob in diesen letzten drei Jahren nichts vorgefallen wäre. Damals söhnte sie sich mit ihnen aus, nahm ihre Rache an ihnen und brachte ihre Angelegenheit zu einem für sie befriedigenden Abschluss. Der Frau sagte sie: Ich weiss, Du hast ein Verhältnis mit dem Papa, und diese leugnete nicht. Den Mann veranlasste sie, die von ihm bestrittene Szene am See zuzugestehen, und brachte diese, sie rechtfertigende Nachricht ihrem Vater. Sie hat den Verkehr mit der Familie nicht wieder aufgenommen.

§ 166

Es ging ihr dann ganz gut bis Mitte Oktober, um welche Zeit sich wieder ein Anfall von Stimmlosigkeit einstellte, der sechs Wochen lang anhielt. Ueber diese Mitteilung überrascht, frage ich, ob dafür ein Anlass vorhanden war, und höre, dass der Anfall an ein heftiges Erschrecken anschloss. Sie musste zusehen, wie jemand von einem Wagen überfahren wurde. Endlich rückt sie damit heraus, dass der Unfall keinen anderen als Herrn K. betroffen hat. Sie traf ihn eines Tages auf der Strasse; er kam ihr an einer Stelle lebhaften Verkehrs entgegen, blieb wie verworren vor ihr stehen und liess sich in der Selbstvergessenheit von einem Wagen niederwerfen1)1). Sie überzeugte sich übrigens, dass er ohne erheblichen Schaden davonkam. Es rege sich noch leise in ihr, wenn sie von dem Verhältnis des Papas zu Frau K. reden höre, in welches sie sich sonst nicht mehr menge. Sie lebe ihren Studien, gedenke nicht zu heiraten.

§ 167

Meine Hülfe suchte sie wegen einer rechtsseitigen Gesichtsneuralgie, die jetzt Tag und Nacht anhalte. Seit wann? „Seitgenau vierzehn Tagen1)1).“ — Ich musste lächeln, da ich ihr nachweisen konnte, dass sie vor genau vierzehn Tagen eine mich betreffende Nachricht in der Zeitung gelesen, was sie auch bestätigte (1902).

1) Ein interessanter Beitrag zu dem in meiner „Psychopathologie des Alltagslebens“ behandelten indirekten Selbstmordversuch. § 168

Die angebliche Gesichtsneuralgie entsprach also einer Selbstbestrafung, der Reue wegen der Ohrfeige, die sie damals Herrn K. gegeben, und der daraus auf mich bezogenen Racheübertragung. Welche Art Hülfe sie von mir verlangen wollte, weiss ich nicht, aber ich versprach, ihr zu verzeihen dass sie mich um die Befriedigung gebracht, sie weit gründlicher von ihrem Leiden zu befreien.

§ 169

Es sind wiederum Jahre seit diesem Besuche bei mir vergangen. Das Mädchen hat sich seither verheiratet, und zwar mit jenem jungen Manne, wenn mich nicht alle Anzeichen trügen, den die Einfälle zu Beginn der Analyse des zweiten Traumes erwähnten. Wie der erste Traum die Abwendung vom geliebten Manne zum Vater, also die Flucht aus dem Leben in die Krankheit bezeichnete, so verkündete ja dieser zweite Traum, dass sie sich vom Vater losreissen werde und dem Leben wiedergewonnen sei.

§ 170

§ 171