Zur Vorgeschichte der analytischen Technik
§ 2In einem neuen Buche von Havelock Ellis, dem hochverdienten Sexualforscher und vornehmen Kritiker der Psychoanalyse, betitelt „The Philosophy of Conflict and other essays in war-time, second series“, London 1919, ist ein Aufsatz: „Psycho-Analysis in relation to sex“ ent halten, der sich nachzuweisen bemüht, daß das Werk des Schöpfers der Analyse nicht als ein Stück wissenschaftlicher Arbeit, sondern als eine künstlerische Leistung gewertet werden sollte. Es liegt uns nahe, in dieser Auffassung eine neue Wendung des Widerstandes und eine Ab lehnung der Analyse zu sehen, wenngleich sie in liebenswürdiger, ja in allzu schmeichelhafter Weise verkleidet ist. Wir sind geneigt, ihr aufs entschiedenste zu widersprechen.
§ 3Doch nicht solcher Widerspruch ist das Motiv unserer BeschäfHavelock Ellis, sondern die Tatsache, daß er durch seine große Belesenheit in die Lage gekommen ist, einen Autor anzuführen, der die freie Assoziation als Technik geübt und empfohlen hat, wenngleich zu anderen Zwecken, und somit ein Recht hat, in dieser Hinsicht als Vorläufer der Psychoanalytiker genannt zu werden. „ "Im“, schreibt Jahre 1857" Havelock Ellis, „ "veröffentlichte Dr. J. J.Garth Wilkinson, besser bekannt als Dichter und Mystiker von der Richtung Swedenborgs denn als Arzt, einen Band mystischer Gedichte in Knüttelversen, durch eine angeblich neue Methode, die er ,Impression‘ nennt, hervorgebracht." “ „ "Man wählt ein Thema" “, sagt er, „ "oder schreibt es nieder; sobald dies geschehen ist, darf man den ersten“ „ Einfall (impression upon the mind), der sich nach der Niederschrift des Titels ergibt, als den Beginn der Ausarbeitung des Themas be trachten, gleichgültig wie sonderbar oder nicht dazu gehörig das be treffende Wort oder der Satz erscheinen mag." "Die erste Regung des“ Man setzt das Ver Geistes, das erste Wort, das sich einstellt, ist der Erfolg des Bestre bens, sich in das gegebene Thema zu vertiefen." fahren in konsequenter Weise fort, und Garth Wilkinson sagt: „ "Ich“ Diese Technik entsprach nach habe immer gefunden, daß es wie infolge eines untrüglichen Instinkts ins Innere der Sache führt." Wilkin Ansicht einem aufs höchste gesteigerten Sich-gehen-lassen, einer sons Aufforderung an die tiefstliegenden unbewußten Regungen, sich zur Äußerung zu bringen. Wille und Überlegung, mahnte er, sind beiseite zu lassen; man vertraut sich der Eingebung (influx) an und kann dabei finden, daß sich die geistigen Fähigkeiten auf unbekannte Ziele einstellen.“
tigung mit dem Essay von § 4„ "Man darf nicht außer acht lassen, daß Wilkinson, obwohl er Arzt war, diese Technik zu religiösen und literarischen, niemals zu ärzt lichen oder wissenschaftlichen Zwecken in Anwendung zog, aber es ist leicht einzusehen, daß es im wesentlichen die psychoanalytische Technik ist, die hier die eigene Person zum Objekt nimmt, ein Beweis mehr dafür, daß das Verfahren Freuds das eines Künstlers (artist) ist." “
§ 5Kenner der psychoanalytischen Literatur werden sich hier jenerSchillers mit Körner erinnern11), in welcher der große Dichter und Denker (1788) demjenigen, der pro duktiv sein möchte, die Beachtung des freien Einfalls empfiehlt. Es ist zu vermuten, daß die angeblich neue Wilkinsonsche Technik bereits vielen anderen vorgeschwebt hat, und ihre systematische An wendung in der Psychoanalyse wird uns nicht so sehr als Beweis für die künstlerische Artung Freuds erscheinen, wie als Konsequenz seiner nach Art eines Vorurteils festgehaltenen Überzeugung von der durchgängigen Determinierung alles seelischen Geschehens. Die Zuge hörigkeit des freien Einfalles zum fixierten Thema ergab sich dann als die nächste und wahrscheinlichste Möglichkeit, welche auch durch die Erfahrung in der Analyse bestätigt wird, insofern nicht übergroße Wider stände den vermuteten Zusammenhang unkenntlich machen.
schönen Stelle im Briefwechsel § 6Indes darf man es als sicher annehmen, daß weder Schiller noch Garth Wilkinson auf die Wahl der psychoanalytischen Tech nik eingeübt haben. Mehr persönliche Beziehung scheint sich von einer anderen Seite her anzudeuten.
1) Entdeckt von O. Rank und zitiert in der Traumdeutung, 5. Auflage, 1919, Seite 72. § 7Vor kurzem machte Dr. Hugo Dubowitz in Budapest Dr. Fe auf einen kleinen, nur 4 renczi1/2, Seiten umfassenden Aufsatz von Ludwig Börne aufmerksam, der, 1823 verfaßt, im ersten Band seiner Gesammelten Schriften (Ausgabe von 1862) abgedruckt ist. Er ist be titelt: „Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“ und trägt die bekannten Eigentümlichkeiten des Jean Paulschen Stils, dem Börne damals huldigte, an sich. Er schließt mit den Sätzen: „ "Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt einige Bogen“ Papier und schreibt drei Tage hintereinander, ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euren Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom jüngsten Gericht, von euern Vorge setzten — und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwun derung, was ihr für neue unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!"
§ 8Als Prof. Freud veranlaßt wurde, diesen Börneschen Aufsatz zu lesen, machte er eine Reihe von Angaben, die für die hier be rührte Frage nach der Vorgeschichte der psychoanalytischen Einfalls verwertung bedeutungsvoll sein können. Er erzählte, daß er Börnes Werke im 14. Jahr zum Geschenk bekommen habe und dieses Buch heute, 50 Jahre später, noch immer als das einzige aus seiner Jugend zeit besitze. Dieser Schriftsteller sei der erste gewesen, in dessen Schriften er sich vertieft habe. An den in Rede stehenden Aufsatz könne er sich nicht erinnern, aber andere, in denselben Band aufge nommene, wie die Denkrede auf Jean Paul, Der Eßkünstler, Der Narr im weißen Schwan, seien durch lange Jahre ohne ersichtlichen Grund immer wieder in seiner Erinnerung aufgetaucht. Er war besonders er staunt, in der Anweisung zum Originalschriftsteller einige Gedanken ausgesprochen zu finden, die er selbst immer gehegt und vertreten habe, z. B.: „ "Eine schimpfliche Feigheit zu denken, hält uns alle zurück.“ (Hier findet sich Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt." übrigens die „Zensur“ erwähnt, die in der Psychoanalyse als Traum zensur wiedergekommen ist….) „ "Nicht an Geist, an Charakter man“ gelt es den meisten Schriftstellern, um besser zu sein, als sie sind Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genialität, und die Menschen wären geistreicher, wenn sie sittlicher wären...."
§ 9Es scheint uns also nicht ausgeschlossen, daß dieser Hinweis viel
leicht jenes Stück Kryptomnesie aufgedeckt hat, das in so vielen Fällen hinter einer anscheinenden Originalität vermutet werden darf. F.