199 § 1

Der Realitätsverlust bei
001 Neurose und Psychose
002

§ 2

(1924)
003

§ 3

Ich habe kürzlich1 einen der unterscheidenden Züge zwischen
004 Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das
005 Ich in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es
006 (Trieblebens) unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der
007 Psychose im Dienste des Es von einem Stück der Realität
008 zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht des
009 Realeinflusses, für die Psychose die des Es maßgebend. Der
010 Realitätsverlust wäre für die Psychose von vorneherein ge-
011geben; für die Neurose, sollte man meinen, wäre er ver-
012mieden.
013

§ 4

Das stimmt nun aber gar nicht zur Erfahrung, die wir
014 alle machen können, daß jede Neurose das Verhältnis des
015 Kranken zur Realität irgendwie stört, daß sie ihm ein Mittel
016 ist, sich von ihr zurückzuziehen und in ihren schweren Aus-
017bildungen direkt eine Flucht aus dem realen Leben bedeutet.[/]
018

200Dieser Widerspruch erscheint bedenklich, allein er ist leicht
019 zu beseitigen und seine Aufklärung wird unser Verständnis
020 der Neurose nur gefördert haben.
021

¹⁾ Neurose und Psychose. [S. 186 dieses Bandes.]
022 § 5

Der Widerspruch besteht nämlich nur so lange, als wir
023 die Eingangssituation der Neurose ins Auge fassen, in welcher
024 das Ich im Dienst der Realität die Verdrängung einer Trieb-
025regung vornimmt. Das ist aber noch nicht die Neurose selbst.
026 Diese besteht vielmehr in den Vorgängen, welche dem ge-
027schädigten Anteil des Es eine Entschädigung bringen, also in
028 der Reaktion gegen die Verdrängung und im Mißglücken
029 derselben. Die Lockerung des Verhältnisses zur Realität ist
030 dann die Folge dieses zweiten Schrittes in der Neurosen-
031bildung und es sollte uns nicht verwundern, wenn die
032 Detailuntersuchung zeigte, daß der Realitätsverlust gerade
033 jenes Stück der Realität betrifft, über dessen Anforderung
034 die Triebverdrängung erfolgte.
035

§ 6

Die Charakteristik der Neurose als Erfolg einer mißglück-
036ten Verdrängung ist nichts Neues. Wir haben es immer so
037 gesagt und nur infolge des neuen Zusammenhanges war es
038 notwendig, es zu wiederholen.
039

§ 7

Das nämliche Bedenken wird übrigens in besonders ein-
040drucksvoller Weise wieder auftreten, wenn es sich um einen
041 Fall von Neurose handelt, dessen Veranlassung („die trau-
042matische Szene“) bekannt ist und an dem man sehen kann,
043 wie sich die Person von einem solchen Erlebnis abwendet
044 und es der Amnesie überantwortet. Ich will zum Beispiel
045 auf einen vor langen Jahren analysierten Fall zurück-
046greifen,2 in dem das in ihren Schwager verliebte Mädchen
047 am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird:
048 Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird
049 sofort vergessen und damit der Regressionsvorgang einge-
050leitet, der zu den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber[/]
051

201gerade hier lehrreich zu sehen, auf welchem Wege die
052 Neurose den Konflikt zu erledigen versucht. Sie entwertet
053 die reale Veränderung, indem sie den in Betracht kommen-
054den Triebanspruch, also die Liebe zum Schwager, verdrängt.
055 Die psychotische Reaktion wäre gewesen, die Tatsache des
056 Todes der Schwester zu verleugnen.
057

²⁾ In den „Studien über Hysterie“, 1895. (Ges. Schriften, Bd. I)
058 § 8

Man könnte nun erwarten, daß sich bei der Entstehung
059 der Psychose etwas dem Vorgang bei der Neurose Analoges
060 ereignet, natürlich zwischen anderen Instanzen. Also daß
061 auch bei der Psychose zwei Schritte deutlich werden, von
062 denen der erste das Ich diesmal von der Realität losreißt,
063 der zweite aber den Schaden wieder gutmachen will und
064 nun die Beziehung zur Realität auf Kosten des Es wieder-
065herstellt. Wirklich ist auch etwas Analoges an der Psychose
066 zu beobachten; es gibt auch hier zwei Schritte, von denen
067 der zweite den Charakter der Reparation an sich trägt, aber
068 dann weicht die Analogie einer viel weiter gehenden Gleich-
069sinnigkeit der Vorgänge. Der zweite Schritt der Psychose
070 will auch den Realitätsverlust ausgleichen, aber nicht auf
071 Kosten einer Einschränkung des Es, wie bei Neurose auf
072 Kosten der Realbeziehung, sondern auf einem anderen, mehr
073 selbstherrlichen Weg durch Schöpfung einer neuen Realität,
074 welche nicht mehr den nämlichen Anstoß bietet wie die
075 verlassene. Der zweite Schritt wird also bei der Neurose wie
076 bei der Psychose von denselben Tendenzen getragen, er
077 dient in beiden Fällen dem Machtbestreben des Es, das sich
078 von der Realität nicht zwingen läßt. Neurose wie Psychose
079 sind also beide Ausdruck der Rebellion des Es gegen die
080 Außenwelt, seiner Unlust oder, wenn man will, seiner
081 Unfähigkeit, sich der realen Not, der 'Ανάγκη, anzupassen.
082 Neurose und Psychose unterscheiden sich weit mehr von
083 einander in der ersten einleitenden Reaktion als in dem auf
084 sie folgenden Reparationsversuch.
085

202 § 9

Der anfängliche Unterschied kommt dann im Endergebnis
086 in der Art zum Ausdruck, daß bei der Neurose ein Stück
087 der Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber
088 umgebaut wird. Oder: bei der Psychose folgt auf die anfäng-
089liche Flucht eine aktive Phase des Umbaus, bei der Neurose
090 auf den anfänglichen Gehorsam ein nachträglicher Flucht-
091versuch. Oder noch anders ausgedrückt: Die Neurose ver-
092leugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr
093 wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.
094 Normal oder „gesund“ heißen wir ein Verhalten, welches
095 bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so
096 wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die
097 Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige,
098 normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren Arbeits-
099leistung an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei
100 der Psychose mit der Herstellung innerer Veränderungen;
101 es ist nicht mehr autoplastisch, sondern allo-
102plastisch.
103

§ 10

Die Umarbeitung der Realität geschieht bei der Psychose
104 an den psychischen Niederschlägen der bisherigen Beziehungen
105 zu ihr, also an den Erinnerungsspuren, Vorstellungen und
106 Urteilen, die man bisher von ihr gewonnen hatte und durch
107 welche sie im Seelenleben vertreten war. Aber diese Beziehung
108 war nie eine abgeschlossene, sie wurde fortlaufend durch
109 neue Wahrnehmungen bereichert und abgeändert. Somit
110 stellt sich auch für die Psychose die Aufgabe her, sich solche
111 Wahrnehmungen zu verschaffen, wie sie der neuen Realität
112 entsprechen würden, was in gründlichster Weise auf dem
113 Wege der Halluzination erreicht wird. Wenn die Erinnerungs-
114täuschungen, Wahnbildungen und Halluzinationen bei so
115 vielen Formen und Fällen von Psychose den peinlichsten
116 Charakter zeigen und mit Angstentwicklung verbunden sind,
117 so ist das wohl ein Anzeichen dafür, daß sich der ganze[/]
118

203Umbildungsprozeß gegen heftig widerstrebende Kräfte voll-
119zieht. Man darf sich den Vorgang nach dem uns besser
120 bekannten Vorbild der Neurose konstruieren. Hier sehen wir,
121 daß jedesmal mit Angst reagiert wird, so oft der verdrängte
122 Trieb einen Vorstoß macht, und daß das Ergebnis des
123 Konflikts doch nur ein Kompromiß und als Befriedigung
124 unvollkommen ist. Wahrscheinlich drängt sich bei der Psy-
125chose das abgewiesene Stück der Realität immer wieder dem
126 Seelenleben auf, wie bei der Neurose der verdrängte Trieb,
127 und darum sind auch die Folgen in beiden Fällen die gleichen.
128 Die Erörterung der verschiedenen Mechanismen, welche bei
129 den Psychosen die Abwendung von der Realität und den
130 Wiederaufbau einer solchen bewerkstelligen sollen, so wie
131 des Ausmaßes von Erfolg, das sie erzielen können, ist eine
132 noch nicht in Angriff genommene Aufgabe der speziellen
133 Psychiatrie.
134

§ 11

Es ist also eine weitere Analogie zwischen Neurose und
135 Psychose, daß bei beiden die Aufgabe, die im zweiten Schritt
136 in Angriff genommen wird, teilweise mißlingt, indem sich
137 der verdrängte Trieb keinen vollen Ersatz schaffen kann
138 (Neurose) und die Realitätsvertretung sich nicht in die
139 befriedigenden Formen umgießen läßt. (Wenigstens nicht bei
140 allen Formen der psychischen Erkrankungen.) Aber die
141 Akzente sind in den zwei Fällen anders verteilt. Bei der
142 Psychose ruht der Akzent ganz auf dem ersten Schritt, der
143 an sich krankhaft ist und nur zu Kranksein führen kann,
144 bei der Neurose hingegen auf dem zweiten, dem Mißlingen
145 der Verdrängung, während der erste Schritt gelingen kann
146 und auch im Rahmen der Gesundheit ungezählte Male
147 gelungen ist, wenn auch nicht ganz ohne Kosten zu machen
148 und Anzeichen des erforderten psychischen Aufwandes zu
149 hinterlassen. Diese Differenzen und vielleicht noch viele
150 andere sind die Folge der topischen Verschiedenheit in der[/]
151

204Ausgangssituation des pathogenen Konflikts, ob das Ich darin
152 seiner Anhänglichkeit an die reale Welt oder seiner Abhängig-
153keit vom Es nachgegeben hat.
154

§ 12

Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das be-
155treffende Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das
156 Zusammentreffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unter-
157schied zwischen Neurose und Psychose wird aber dadurch
158 abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen
159 nicht fehlt, die unerwünschte Realität durch eine wunsch-
160gerechtere zu ersetzen. Die Möglichkeit hiezu gibt die
161 Existenz einer Phantasiewelt, eines Gebiets, das seiner-
162zeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der realen
163 Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer
164 „Schonung“ von den Anforderungen der Lebensnotwendig-
165keit frei gehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich
166 ist, aber ihm nur lose anhängt. Aus dieser Phantasiewelt
167 entnimmt die Neurose das Material für ihre Wunschneubil-
168dungen und findet es dort gewöhnlich auf dem Wege der
169 Regression in eine befriedigendere reale Vorzeit.
170

§ 13

Es ist kaum zweifelhaft, daß die Phantasiewelt bei der
171 Psychose die nämliche Rolle spielt, daß sie auch hier die
172 Vorratskammer darstellt, aus der der Stoff oder die Muster
173 für den Aufbau der neuen Realität geholt werden. Aber
174 die neue phantastische Außenwelt der Psychose will sich an
175 die Stelle der äußeren Realität setzen, die der Neurose hin-
176gegen lehnt sich wie das Kinderspiel gern an ein Stück der
177 Realität an, — ein anderes als das, wogegen sie sich wehren
178 mußte, — verleiht ihm eine besondere Bedeutung und einen
179 geheimen Sinn, den wir nicht immer ganz zutreffend einen
180 symbolischen heißen. So kommt für beide, Neurose wie
181 Psychose, nicht nur die Frage des Realitätsverlusts,
182 sondern auch die eines Realitätsersatzes in Betracht.
183