§ 1

Z
001

§ 2

Psychnpathnlngie des filltagslahens
002

§ 3

(Über Vergessen, Versprechen,
003 Vergreifen, Aberglaube und Irrtum)
004

§ 4

Von
005 Prof. Dr. Sigm. Freud
006

§ 5

in Wien
007

§ 6

Vierte, vermehrte Auflage
008 }
009

§ 7

Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
010 Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
011

§ 8

Faust, II. Teil, V. Akt.
012

§ 9

BERLIN 1912
013 VERLAG VON 8. KARGER
014

§ 10

KARLSTRAS SE 15
015

§ 11

016

§ 12

ALLE RECHTE VORBEHALTEN
017

§ 13

___—___—
018

§ 14

Copyright 1912 by S. Karger-Berlin
019

§ 15

020

[5] § 16

I.
021

§ 17

Vergessen von Eigennamen.
022

§ 18

Im Jahrgange 1898 der Monatsschrift für Psychiatrie und
023 Neurologie habe ich unter dem Titel „Zum psychischen Mechanis-
024mus der Vergeßlichkeit“ einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, dessen
025 Inhalt ich hier wiederholen und zum Ausgang für weitere Er-
026örterungen nehmen werde. Ich habe dort den häufigen Fall des
027 zeitweiligen Vergessens von Eigennamen an einem prägnanten
028 Beispiel aus meiner Selbstbeobachtung der psychologischen Analyse
029 unterzogen und bin zu dem Ergebnis gelangt, daß dieser gewöhn-
030liche und praktisch nicht sehr bedeutsame Einzelvorfall von Ver-
031sagen einer psychischen Funktion — des Erinnerns — eine Auf-
032klärung zuläßt, welche weit über die gebräuchliche Verwertung
033 des Phänomens hinausführt.
034

§ 19

Wenn ich nicht sehr irre, würde ein Psycholog, von dem man
035 die Erklärung forderte, wie es zugehe, daß einem so oft ein Name
036 nicht einfällt, den man doch zu kennen glaubt, sich begnügen,
037 zu antworten, daß Eigennamen dem Vergessen leichter unterliegen
038 als andersartiger Gedächtnisinhalt. Er würde die plausiblen Gründe
039 für solche Bevorzugung der Eigennamen anführen, eine ander-
040weitige Bedingtheit des Vorganges aber nicht vermuten.
041

§ 20

Für mich wurde zum Anlaß einer eingehenden Beschäftigung
042 mit dem Phänomen des zeitweiligen Namensvergessens die Be-
043obachtung gewisser Einzelheiten, die sich zwar nicht in allen
044 Fällen, aber in einzelnen deutlich genug erkennen lassen. In
045 solchen Fällen wird nämlich nicht nur vergessen, sondern auch
046 falsch erinnert. Dem sich um den entfallenden Namen Be-
047mühenden kommen andere — Ersatznamen — zum Bewußtsein,
048 die zwar sofort als unrichtig erkannt werden, sich aber doch mit
049 großer Zähigkeit immer wieder aufdrängen. Der Vorgang, der
050 zur Reproduktion des gesuchten Namens führen soll, hat sich[/]
051

6gleichsam verschoben und so zu einem unrichtigen Ersatz ge-
052führt. Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht
053 psychischer Willkür überlassen ist, sondern gesetzmäßige und be-
054rechenbare Bahnen einhält. Mit anderen Worten, ich vermute,
055 daß der oder die Ersatznamen in einem aufspürbaren Zusammen-
056hang mit dem gesuchten Namen stehen, und hoffe, wenn es mir
057 gelingt, diesen Zusammenhang nachzuweisen, dann auch Licht über
058 den Hergang des Namenvergessens zu verbreiten.
059

§ 21

In dem 1898 von mir zur Analyse gewählten Beispiele war
060 es der Name des Meisters, welcher im Dom von Orvieto die
061 großartigen Fresken von den „letzten Dingen“ geschaffen, den zu
062 erinnern ich mich vergebens bemühte. Anstatt des gesuchten
063 Namens — Signorelli — drängten sich mir zwei andere Namen
064 von Malern auf — Botticelli und Boltraffio —, die mein
065 Urteil sofort und entschieden als unrichtig abwies. Als mir der
066 richtige Name von fremder Seite mitgeteilt wurde, erkannte ich
067 ihn sogleich und ohne Schwanken. Die Untersuchung, durch
068 welche Einflüsse und auf welchen Assoziationswegen sich die
069 Reproduktion in solcher Weise — von Signorelli auf Botti-
070celli und Boltraffio — verschoben hatte, führte zu folgenden
071 Ergebnissen :
072

§ 22

a) Der Grund für das Entfallen des Namens Signorelli ist
073 weder in einer Besonderheit dieses Namens selbst noch in einem
074 psychologischen Charakter des Zusammenhanges zu suchen, in
075 welchen derselbe eingefügt war. Der vergessene Name war mir
076 ebenso vertraut wie der eine der Ersatznamen — Botticelli —
077 und ungleich vertrauter als der andere der Ersatznamen — Bol-
078traffio —, von dessen Träger ich kaum etwas anderes anzugeben
079 wüßte als seine Zugehörigkeit zur mailändischen Schule. Der
080 Zusammenhang aber, in dem sich das Namenvergessen ereignete,
081 erscheint mir harmlos und führt zu keiner weiteren Aufklärung:
082 Ich machte mit einem Fremden eine Wagenfahrt von Ragusa in
083 Dalmatien nach einer Station der Herzegowina; wir kamen auf
084 das Reisen in Italien zu sprechen, und ich fragte meinen Reise-
085gefährten, ob er schon in Orvieto gewesen und dort die berühmten
086 Fresken des *** besichtigt habe.
087

§ 23

b) Das Namenvergessen erklärt sich erst, wenn ich mich an
088 das in jener Unterhaltung unmittelbar vorhergehende Thema er-
089

§ 24

__7____
090

§ 25

innere, und gibt sich als eine Störung des neu auftauchen— "
091 den Themas durch das vorhergehende zu erkennen. Kurz
092 ehe ich an meinen Reisegefährten die Frage stellte, ob er schon
093 in Orvieto „gewesen, hatten wir uns über die Sitten der in Bosnien
094 und in der Herzegowina lebenden Türken unterhalten. Ich
095 hatte erzählt, was ich von einem unter diesen Leuten praktizieren-
096den Kollegen gehört hatte, daß sie sich voll Vertrauen in den
097 Arzt und voll Ergebung in das Schicksal zu zeigen pflegen. Wenn
098 man ihnen ankündigen muß, daß es für den Kranken keine Hilfe
099 gibt, so antworten sie: „Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß,
100 wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet.“ —— Erst in
101 diesen Sätzen finden sich die Worte und Namen: Bosnien,
102 Herzegowina, Herr vor, welche sich in eine Assoziationsreihe
103 zwischen Signorelli — Botticelli und Boltraffio einschalten
104 lasse-n.
105

§ 26

c) Ich nehme an, daß der Gedankenreihe von den Sitten der
106 Türken in Bosnien usw. die Fähigkeit, einen nächsten Gedanken
107 zu stören, darum zukam, weil ich ihr meine Aufmerksamkeit ent-
108zogen hatte, ehe sie noch zu Ende gebracht war. Ich erinnere
109 nämlich, daß ich eine zweite Anekdote erzählen wollte, die nahe
110 bei der ersten in meinem Gedächtnis ruhte. Diese Türken
111 schätzen den Sexualgenuß über alles und verfallen bei sexuellen
112 Störungen in eine Verzweiflung, welche seltsam gegen ihre Re—
113 signation bei Todesgefahr absticht Einer der Patienten meines
114 Kollegen hatte ihm einmal gesagt: „Du weißt ja, Herr, wenn
115 das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.“ Ich
116 unterdrückte die Mitteilung dieses charakteristischen Zuges, weil
117 ich das heikle Thema nicht im Gesmäch mit einem Fremden be-
118rühren wollte. Ich tat aber noch mehr; ich lenkte meine Auf-
119merksamkeit auch von der Fortsetzung der Gedanken ab, die
120 sich bei mir an das Thema „Tod und Sexualität“ hätten knüpfen
121 können. Ich stand damals unter der Nachwirkung einer Nach-
122richt, die ich wenige Wochen vorher während eines kurzen Auf-
123enthaltes in Trafoi erhalten hatte. Ein Patient, mit dem ich mir
124 viele Mühe gegeben, hatte wegen einer unheilbaren sexuellen
125 Störung seinem Leben ein Ende gemacht. Ich weiß bestimmt,
126 daß mir auf jener Reise in die Herzegowina dieses traurige Er-
127eignis und alles, was damit zusammenhängt, nicht zur bewüßten
128

§ 27

129

§ 28

—8—
130

§ 29

Erinnerung kam. ,Aber die Übereinstimmung Trafoi —— Bol-
131traffic nötigt mich anzunehmen, daß damals diese Reminiszenz
132 trotz der absichtlichen Ablenkung meiner Aufmerksamkeit in mir
133 zur Wirksamkeit gebracht worden ist.
134

§ 30

d) Ich kann das Vergessen des Namens Signorelli nicht mehr
135 als ein zufälliges Ereignis auffassen. Ich muß den Einfluß eines
136 Motive bei diesem Vorgang anerkennen. Es waren Motive, die
137 mich veranlaßten, mich in der Mitteilung meiner Gedanken (über
138 die Sitten der Türken usw.) zu unterbrechen, und die mich ferner
139 beeinflußten, die daran sich knüpfenden Gedanken, die bis zur
140 Nachricht in Trafoi geführt hätten, in mir vom Bewußtwerden
141 auszuschließen. Ich wollte also etwas vergessen, ich hatte etwas
142 verdrängt. Ich wollte allerdings etwas anderes vergessen als
143 den Namen des Meisters von Orvieto; aber dieses andere brachte
144 es zustande, sich mit diesem Namen in assoziative Verbindung zu
145 setzen, so daß mein Willensakt das Ziel verfehlte, und ich das-
146eine wider Willen vergaß, während ich das .andere mit Ab-
147sicht vergessen wollte. Die Abneigung, zu erinnern, richtete sich
148 gegen den einen Inhalt; die Unfähigkeit, zu erinnern, trat an
149 einem anderen hervor. Es wäre offenbar ein einfacherer Fall,
150 wenn Abneigung und Unfähigkeit, zu erinnern, denselben Inhalt-
151beträfen. ;— Die Ersatznamen erscheinen mir auch nicht mehr so
152 völlig unberechtigt wie vor der Aufklärung; sie mahnen mich
153 (nach Art eines Kompromisses) eben so sehr an das, was ich
154 vergessen, wie an das, was ich erinnern wollte, und zeigen mir,
155 daß meine Absicht, etwas zu vergessen, weder ganz gelungen noch
156 ganz mißglückt ist.
157

§ 31

e) Sehr auffällig ist die Art der Verknüpfung, die sich zwischen
158 dem gesuchten Namen und dem verdrängten Thema (von Tod und
159 Sexualität usw., in dem die Namen Bosnien, Herzegowina, Trafoi
160 vorkommen) hergestellt hat. Das hier’ eingeschaltete, aus der Ab-
161handlung des Jahres 1898 wiederholte Schema sucht diese Ver-
162knüpfung anschaulich darzustellen.
163

§ 32

Der Name Signorelli ist dabei in zwei Stücke zerlegt worden.
164 Das eine Silbenpaar ist in einem der Ersatznamen unverändert
165 wiedergekehrt (elli), das andere hat durch die Übersetzung Signor
166 —— Herr mehrfache und verschiedenartige Beziehungen zu den im
167 verdrängten Thema enthaltenen Namen gewonnen, ist aber dadurch
168

§ 33

169

§ 34

__9__
170

§ 35

für die Reproduktion verloren gegangen. Sein Ersatz hat so
171 stattgefunden, als ob eine Verschiebung längs der Namenverbindung
172 „Herzegowina und Bosnien“ vorgenommen wäre, ohne Rücksicht
173 auf den Sinn und auf die akustische Abgrenzung der Silben zu
174 nehmen. Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich be-
175handelt worden wie die Schriftbilder eines Satzes, der in ein
176 Bilderrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll. Von dem ganzen
177 Hergang, der anstatt des Namens Signorelli auf solchen Wegen
178 die Ersatznamen geschaffen hat, ist dem Bewußtsein keine Kunde
179

§ 36

d T ra ai
180 T0 und Sex ua lila! /
181 \ ( Verdrähgte Gedanken}
182

§ 37

gegeben worden. Eine Beziehung zwischen dem Thema, in dem
183 der Name Signorelli vorkam, und dem zeitlich ihm vorangehenden
184 verdrängten Thema, welche über diese Wiederkehr gleicher Silben
185 (oder vielmehr Buchstabenfolgen) hinausginge, scheint zunächst
186 nicht auffindbar zu sein.
187

§ 38

Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu bemerken, daß die von
188 den Psychologen angenommenen Bedingungen der Reproduktion
189 und des Vergessens, die in gewissen Relationen und Dispositionen
190 gesucht werden, durch die vorstehende Aufklärung einen Wider-
191Spruch nicht erfahren. Wir haben nur für gewisse Fälle zu all
192 den längst anerkannten Momenten, die das Vergessen eines Namens
193 bewirken können, noch ein Motiv hinzugefügt und überdies den
194 Mechanismus des Fehlerinnerns klar gelegt. Jene Dispositionen
195

§ 39

196

§ 40

__10__
197

§ 41

sind auch für unseren Fall unentbehrlich, um die Möglichkeit zu
198 schaffen, daß das verdrängte Element sich assoziativ des gesuchten
199 |Namens bemächtige und es mit sich in die Verdrängung nehme.
200 Bei einem anderen Namen mit günstigeren Reproduktionsbedin-
201gungen wäre dies vielleicht nicht geschehen. Es ist ja wahr-.
202 scheinlich, daß ein unterdrücktes Element allemal bestrebt ist,
203 sich irgendwo anders zur Geltung zu bringen, diesen Erfolg aber
204 nur dort erreicht, wo ihm geeignete Bedingungen entgegenkommen.
205 Andere Male gelingt die Unterdrückung ohne Funktionsstörung,
206 oder, wie wir mit Recht sagen können, ohne Symptome.
207

§ 42

Die Zusammenfassung der Bedingungen für das Vergessen
208 eines Namens mit Fehlerinnern ergibt also: 1. eine gewisse Dis-
209position zum Vergessen desselben, 2. einen kurz vorher abgelaufenen
210 Unterdrückungs‘Vorgang, 3. die Möglichkeit, eine äußerliche
211 Assoziation zwischen dem betreffenden Namen und dem vorher
212 unterdrückten Element herzustellen. Letztere Bedingung wird man
213 wahrscheinlich nicht sehr hoch veranschlagen müssen, da bei den
214 geringen AnSprüchen an die Assoziation" eine solche in den aller-
215meisten Fällen durchzusetzen sein dürfte. Eine andere und tiefer
216 reichende Frage ist es, ob eine solche äußerliche Assoziation wirklich
217 die genügende Bedingung dafür sein kann, daß das verdrängte
218 Element die Reproduktion des gesuchten Namens störe, ob nicht
219 doch notwendig ein intimerer Zusammenhang der beiden Themata
220 erforderlich wird. Bei oberflächlicher Betrachtung würde man
221 letztere Forderung abweisen wollen und das zeitliche Aneinander—
222 stoßen bei völlig disparatem Inhalt für genügend halten. Bei
223 eingehender Untersuchung findet man aber immer häufiger, daß
224 die beiden durch eine äußerliche Assoziation verknüpften Elemente
225 (das verdrängte und das neue) außerdem einen inhaltlichen Zu-
226sammenhang besitzen, und auch in dem Beispiel Signorelli läßt
227 sich ein solcher erweisen.
228

§ 43

Der Wert der Einsicht, die wir bei der Analyse des Beispiels
229 Signorelli gewonnen haben, hängt natürlich davon ab, ob wir
230 diesen Fall für ein typisches oder für ein vereinzeltes Vorkomm-
231nis erklären müssen. Ich muß nun behaupten, daß das Namen-
232vergessen mit Fehlerinnern ungemein häufig so zugeht, wiewir
233 es im Falle: Signorelli aufgelöst haben. Fast allemal, da ich
234 dies Phänomen bei mir selbst beobachten konnte, war ich auch
235

§ 44

236

§ 45

imstande, es mir in der vorerwähnten Weise als durch Verdrängung
237 motiviert zu erklären. Ich muß auch noch einen andern Gesichts-
238punkt zugunsten der typischen Natur unserer Analyse geltend
239 machen. Ich glaube, daß man nicht berechtigt ist, die Fälle von
240 Namenvergessen mit Fehlerinnern prinzipiell von solchen zu trennen,
241 in denen sich unrichtige Ersatznamen nicht eingestellt haben.
242 Diese Ersatznämen kommen in einer Anzahl von Fällen spontan;
243 in anderen Fällen, wo sie nicht spontan aufgetaucht sind, kann
244 man sie durch Anstrengung der Aufmerksamkeit zum Auftauchen
245 zwingen, und sie zeigen dann die nämlichen Beziehungen zum
246 verdrängten Element und zum gesuchten Namen, wie wenn sie
247 spontan gekommen wären. Für das Bewußtwerden der Ersatz-
248namen scheinen zwei Momente maßgebend zu sein, erstens die
249 Bemühung der Aufmerksamkeit, zweitens eine innere Bedingung,
250 die am psychischen Material haftet. Ich könnte letztere in der
251 größeren oder geringeren Leichtigkeit suchen, mit welcher sich
252 die benötigte äußerliche Assoziation zwischen den beiden Elementen
253 herstellt. Ein guter Teil der Fälle von Namenvergessen ohne
254 Fehlerinnern schließt sich so den Fällen mit Ersatznamenbildung
255 an, für welche der Mechanismus des Beispieles Signorelli gilt.
256 Ich werde aber mich gewiß nicht der Behauptung erkühnen, daß
257 alle Fälle von Namenvergessen in die nämliche Gruppe einzureihen
258 seien. Es gibt ohne Zweifel Fälle von Namenvergessen, die weit
259 einfacher zugeben. Wir werden den Sachverhalt wohl vorsichtig
260 genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben dem
261 einfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein
262 Vergessen vor, welches durch Verdrängung“ motiviert ist.
263

§ 46

II. .
264 Vergessen von fremdsprachigen Worten.
265

§ 47

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint
266 innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen ge-
267geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer
268 fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für
269 alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung
270

§ 48

[/]
271

11imstande, es mir in der vorerwähnten Weise als durch Verdrängung
272 motiviert zu erklären. Ich muß auch noch einen andern Gesichts-
273punkt zugunsten der typischen Natur unserer Analyse geltend
274 machen. Ich glaube, daß man nicht berechtigt ist, die Fälle von
275 Namenvergessen mit Fehlerinnern prinzipiell von solchen zu trennen,
276 in denen sich unrichtige Ersatznamen nicht eingestellt haben.
277 Diese Ersatznamen kommen in einer Anzahl von Fällen spontan;
278 in anderen Fällen, wo sie nicht spontan aufgetaucht sind, kann
279 man sie durch Anstrengung der Aufmerksamkeit zum Auftauchen
280 zwingen, und sie zeigen dann die nämlichen Beziehungen zum
281 verdrängten Element und zum gesuchten Namen, wie wenn sie
282 spontan gekommen wären. Für das Bewußtwerden der Ersatz-
283namen scheinen zwei Momente maßgebend zu sein, erstens die
284 Bemühung der Aufmerksamkeit, zweitens eine innere Bedingung,
285 die am psychischen Material haftet. Ich könnte letztere in der
286 größeren oder geringeren Leichtigkeit suchen, mit welcher sich
287 die benötigte äußerliche Assoziation zwischen den beiden Elementen
288 herstellt. Ein guter Teil der Fälle von Namenvergessen ohne
289 Fehlerinnern schließt sich so den Fällen mit Ersatznamenbildung
290 an, für welche der Mechanismus des Beispieles Signorelli gilt.
291 Ich werde aber mich gewiß nicht der Behauptung erkühnen, daß
292 alle Fälle von Namenvergessen in die nämliche Gruppe einzureihen
293 seien. Es gibt ohne Zweifel Fälle von Namenvergessen, die weit
294 einfacher zugehen. Wir werden den Sachverhalt wohl vorsichtig
295 genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben dem
296 einfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein
297 Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.
298

§ 49

II.
299

§ 50

Vergessen von fremdsprachigen Worten.
300

§ 51

Der gebräuchliche Sprachschatz unserer eigenen Sprache scheint
301 innerhalb der Breite normaler Funktion gegen das Vergessen ge-
302geschützt. Anders steht es bekanntlich mit den Vokabeln einer
303 fremden Sprache. Die Disposition zum Vergessen derselben ist für
304 alle Redeteile vorhanden, und ein erster Grad von Funktionsstörung
305

§ 52

__12_
306

§ 53

zeigt sich in der Ungleichmäßigkeit unserer Verfügung über den
307 fremden Sprachschatz, je nach unserem Allgemeinbefinden und dem
308 Grade unserer Ermüdung. Dieses Vergessen geht in einer Reihe
309 von Fällen nach demselben Mechanismus vor sich, den uns das
310 Beispiel Signorelli enthüllt hat. Ich werde zum Beweise hier-
311für eine einzige, aber durch wertvolle Eigentümlichkeiten ausge-
312zeichnete Analyse mitteilen, die den Fall des Vergessens eines
313 nicht substantivischen Wortes aus einem lateinischen Zitat betrifft.
314 Man gestatte mir, den kleinen Vorfall breit und anschaulich vor-
315zutragen.
316

§ 54

Im letzten Sommer erneuerte ich, -— wiederum auf der Ferien-
317reise —— die Bekanntschaft eines jungen Mannes von akademischer
318 Bildung, der, wie ich bald merkte, mit einigen meiner psycholo-
319gischen Publikationen vertraut war. Wir waren im Gespräch —
320 ich weiß nicht mehr wie — auf die soziale Lage' des Volks-
321stammes gekommen, dem wir beide angehören, und er, der Ehr-
322geizige, erging sich in Bedauern darüber, daß seine Generation,
323 wie er sich äußerte, zur Verkümmerung bestimmt sei, ihre Talente
324 nicht entwickeln und ihre Bedürfnisse nicht befriedigen könne.
325 Er schloß seine leidenschaftlich bewegte Rede mit dem bekannten
326 Vergilschen Vers, in dem die unglückliche Dido ihre Rache an
327 Aeneas der Nachwelt überträgt: Exoriare ..... , vielmehr er
328 wollte so schließen, denn er brachte das Zitat nicht zustande und
329 suchte eine offenkundige Lücke der Erinnerung durch Umstellung
330 von Worten zu verdecken: Exoriar(e) ex nostris ossibus ultor!
331 Endlich sagte er geärgert: „Bitte machen Sie nicht ein so
332 Spöttisches Gesicht, als ob Sie sich an meiner Verlegenheit weiden
333 würden, und helfen Sie mir lieber. An dem Vers fehlt etwas.
334 Wie heißt er eigentlich vollständig?“
335

§ 55

Gerne, erwiderte ich und zitierte, wie es richtig lautet:
336

§ 56

Exoriar(e) aliquis nostris ex ossibus ultor!
337

§ 57

„Zu dumm, ein solches Wort zu vergessen. Übrigens von
338 Ihnen hört man ja, daß man nichts ohne Grund vergißt. Ich
339 wäre doch zu neugierig, zu erfahren, wie ich zum Vergessen dieses
340 unbestimmten Pronomen aliquis komme.“
341

§ 58

Ich nahm diese Herausforderung bereitwilligst an, da ich
342 einen Beitrag zu meiner Sammlung erhoffte. Ich sagte also: Das
343 können wir gleich haben. Ich muß Sie nur bitten, mir auf-
344

§ 59

345

§ 60

__13__
346

§ 61

richtig und kritiklos alles mitzuteilen, was Ihnen einiällt, wenn
347 Sie ohne bestimmte Absicht Ihre Aufmerksamkeit auf das ver-
348gessene Wort richten’).
349

§ 62

„Gut, da komme ich also auf den lächerlichen Einfall, mir
350 das Wort in folgender Art zu zerteilen: a und liquis.“
351

§ 63

Was soll das? — „Weiß ich nicht.“ —- Was fällt Ihnen weiter
352 dazu ein? —- „Das setzt sich so fort: Reliquien —— Liqui-
353dation —— Flüssigkeit —- Fluid. Wissen Sie jetzt schon etwas?“
354

§ 64

Nein, noch lange nicht. Aber fahren Sie fort.
355

§ 65

„Ich denke,“ fuhr er höhnisch lachend fort, „an Simon von
356 Trient, dessen Reliquien ich vor zwei Jahren in einer Kirche in
357 Trient gesehen habe. Ich denke an die Blutbeschuldigung, die
358 gerade jetzt wieder gegen die Juden erhoben wird, und an die
359 Schrift von Klein paul, der in all diesen angeblichen Opfern
360 Inkarnationen, sozusagen Neuauflagen, des Heilands sieht.“
361

§ 66

Der Einfall ist nicht ganz ohne Zusammenhang mit dem
362 Thema, über das wir uns unterhielten, ehe Ihnen das lateinische
363 Wort entfiel. ‘
364

§ 67

„Richtig. Ich denke ferner an einen Zeitungsartikel in einem
365 italienischen Journal, den ich kürzlich gelesen. Ich glaube, er
366 war überschrieben: Was der h. Augustinus über die Frauen
367 sagt. Was machen Sie damit?“
368

§ 68

Ich warte.
369

§ 69

„Also jetzt kommt etwas, was ganz gewiß außer Zusammen—-
370hang mit unserem Thema steht.“
371

§ 70

Enthalten Sie sich gefälligst jeder Kritik und ——
372

§ 71

„Ich weiß schon. Ich erinnere mich eines prächtigen alten
373 Herrn, den ich vorige Woche auf der Reise getroffen. Ein wahres
374 Original. Er sieht aus wie ein großer Raubvogel. Er heißt,
375 wenn Sie es wissen wollen, Benedikt.“ '
376

§ 72

Doch wenigstens eine Aneinanderreihung von Heiligen ' und
377 Kirchenvätern: Der heilige Simon, St. Augustinus, St. Bene-
378diktus. Ein Kirchenvater hieß, glaube ich, Origines. Drei
379 dieser Namen sind übrigens auch Vornamen, wie Paul im Namen
380 Kleinpaul.
381

§ 73

'1) Dies ist der allgemeine Weg, um Vorstellungselemente, die sich ver-
382

§ 74

bergen, dem Bewußtsein zuzuführen. Vgl. meine „Traumdeutung“, p. 69.
383 (3. Aufl., p. 72—73.)
384

§ 75

385

§ 76

--_14-
386

§ 77

„Jetzt fällt mir der heilige J anuarius ein und sein Blut-
387wunder —— ich finde, das geht mechanisch so weiter.“
388

§ 78

Lassen Sie das; der heilige J anuarius und der heilige
389 Augustinus haben beide mit dem Kalender zu tun. Wollen Sie
390 mich nicht an das Blutwunder erinnern ?
391

§ 79

„Das werden Sie doch kennen? In einer Kirche zu Neapel
392 wird in einer Phiole das Blut des heiligen Januarius aufbewahrt,
393 welches durch ein Wunder an einem bestimmten Festtage wieder
394 flüssig wird. . Das Volk hält viel auf dieses Wunder und wird
395 sehr aufgeregt, wenn es sich verngert, wie es einmal zur Zeit
396 einer französischen Okkupation geschah. Da nahm der komman-
397dierende General —— oder irre ich mich? war es Garibaldi? —-
398den geistlichen Herrn bei Seite und bedeutete ihm mit einer sehr
399 verständlichen Geberde auf die draußen aufgestellten Soldaten, er
400

§ 80

hoffe, das Wunder werde sich sehr bald vollziehen. Und es
401 vollzog sich wirklich . . .“
402

§ 81

Nun und weiter? Warum stocken Sie?
403

§ 82

„Jetzt ist mir allerdings etwas eingefallen . . . das ist aber
404 zu intim für die Mitteilung . . . Ich sehe übrigens keinen Zu-
405sammenhang und keine N ötigung, es zu erzählen.“
406

§ 83

Für den Zusammenhang würde ich sorgen. Ich kann Sie
407 ja nicht zwingen zu erzählen, was Ihnen unangenehm ist; dann
408 verlangen Sie aber auch nicht von mir zu wissen, auf welchem
409 Wege Sie jenes Wort „aliquis“ vergessen haben.
410

§ 84

„Wirklich? Glauben Sie? Also ich habe plötzlich an eine
411

§ 85

Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte,
412 die uns beiden recht unangenehm wäre.“
413

§ 86

Daß ihr die Periode ausgeblieben ist?
414

§ 87

„Wie können Sie das erraten?“
415

§ 88

Das ist nicht mehr schwierig. Sie haben mich genügend
416 darauf vorbereitet. Denken Sie an die Kalenderheiligen, an
417 das Flüssigwerden des Blutes zu einem bestimmten Tage,
418 den Aufruhr, wenn das Ereignis nicht eintritt, die deut-
419liche Drohung, daß das Wunder vor sich gehen muß,
420 sonst . . . Sie haben ja das Wunder des heiligen Januarius
421 zu einer prächtigen Anspielung auf die Periode der Frau ver-
422arbeitet.
423

§ 89

„Ohne daß ich es gewußt hätte. Und Sie meinen wirklich,
424

§ 90

425

§ 91

__15_
426

§ 92

wegen dieser ängstlichen Erwartung hätte ich das Wörtchen
427 „aliquis“ nicht reproduzieren können?“
428

§ 93

Das scheint mir nnzweifelhaft. Erinnern Sie sich doch an
429 Ihre Zerlegung in a—liquis und an die Assoziationen: Reli-
430quien, Liquidation, Flüssigkeit. Soll ich noch den als Kind
431 hinge0pferten heiligen Simon, auf den Sie von den Reliquien
432 her kamen, in den Zusammenhang einflechten?
433

§ 94

„Tun Sie das lieber nicht. Ich hoffe, Sie nehmen diese
434 Gedanken, wenn ich sie wirklich gehabt habe, nicht für Ernst.
435 Ich will Ihnen dafür gestehen, daß die Dame Italienerin ist, in
436 deren Gesellschaft ich auch Neapel besucht habe. Kann das aber
437 nicht alles Zufall sein?“
438

§ 95

Ich muß es Ihrer eigenen Beurteilung überlassen, ob Sie
439

§ 96

sich alle diese Zusammenhänge durch die Annahme eines Zufalls
440 aufklären können. Ich sage Ihnen aber, jeder ähnliche Fall, den
441 Sie analysieren wollen, wird Sie auf ebenso merkwürdige „Zufälle“
442 führen.
443 " Ich habe mehrere Gründe, diese kleine Analyse, für deren
444 Überlassung ich meinem damaligen Reisegenossen Dank schulde,
445 zu schätzen. Erstens, weil mir in diesem Falle gestattet war,
446 aus einer Quelle zu schöpfen, die mir sonst versagt ist. Ich bin
447 zumeist genötigt, die Beispiele von psychischer Funktionsstörung
448 im täglichen Leben, die ich hier zusammenstelle, meiner Selbst-
449beobachtung zu entnehmen. Das weit reichere Material, das mir
450 meine neurotisChen Patienten liefern, suche ich zu vermeiden, weil
451 ich den Einwand fürchten muß, die betreffenden Phänomene seien
452 eben Erfolge und Äußerungen der Neurose. Es hat also besonderen
453 Wert für meine Zwecke, wenn sich eine nervengesunde fremde-
454Person zum Objekt einer solchen Untersuchung erbietet. In
455 anderer Hinsicht wird mir diese Analyse bedeutungsvoll, indem
456 sie einen Fall von Wortvergessen ohne Ersatzerinnern beleuchtet
457 und. meinen vorhin aufgestellten Satz bestätigt, daß das _Auftauchen
458 oder Ausbleiben von unrichtigen Ersatzerinnerungen eine wesent-
459liche Unterscheidung nicht begründen kann 1).
460

§ 97

1) Feinere Beobachtung schränkt den Gegensatz zwischen der Analyse:
461 Signorelli und der: aliquis betreffs der Ersatzerinnerungen um Einiges
462 ein. Auch hier scheint nämlich das Vergessen von einer Ersatzbildung be—
463 gleitet zu sein. Als ich an meinen Partner nachträglich die Frage stellte,.
464

§ 98

465

§ 99

—-16—
466

§ 100

Der Hauptwert des Beispieles: aliqnis ist aber in einem
467 anderen seiner Unterschiede von dem Falle: Signorelli gelegen.
468 Im letzteren Beispiel wird die Reproduktion des Namens gestört
469 durch die Nachwirkung eines Gedankenganges, der kurz vorher
470 begonnen und abgebrochen wurde, dessen Inhalt aber in keinem
471 deutlichen Zusammenhang mit dem neuen Thema stand, in dem
472 der Name Signorelli enthalten war. Zwischen dem verdrängten
473 und dem Thema des vergessenen Namens bestand bloß die Be-
474ziehung der zeitlichen Kontiguität; dieselbe reichte hin, damit sich
475 die beiden durch eine äußerliche Assoziation in Verbindung setzen
476 konnten 1). Im Beispiele: aliquis hingegen ist von einem solchen
477

§ 101

ob ihm bei seinen Bemühungen, das ,fehlende Wort zu erinnern, nicht irgend
478 etwas zum Ersatz eingefallen sei, berichtete er, daß er zunächst die Ver-
479suchung verSpürt habe, ein ab in den Vers zu bringen: nostris ab ossibus
480 (vielleicht das unverkniipfte Stück von a-liquis) und dann, daß sich ihm das
481 Exoriare besonders deutlich und hartnäckig aufgedrängt habe. Als Skep-
482tiker setzte er hinzu, offenbar weil es das erste Wort des Verses war. Als
483 ich ihn bat, doch auf die Assoziationen von Exoriare aus zu achten, gab er
484 mir Exorzismus an. Ich kann mir also sehr wohl denken, daß die Ver-
485stärkung von Exoriare in der Reproduktion eigentlich den Wert einer
486 solchen Ersatzbildung hatte. Dieselbe wäre über die Assoziation: Exor-_
487 zismus von den Namen der Heiligen her erfolgt. Indes sind dies Fein-
488heiten, auf die man keinen Wert zu legen braucht. — Es erscheint nun
489 aber wohl möglich, daß das Auftreten irgendeiner Art von Ersatzerinnerung
490 ein konstantes, vielleicht auch nur ein charakteristisches und verräterisches
491 Zeichen des tendenziösen, durch Verdrängung motivierten Vergessene ist.
492 Diese Ersatzbildung bestände auch dort, wo das Auftauchen unrichtiger
493 Ersatznamen ausbleibt, in der Verstärkung eines Elementes, welches dem
494 vergessenen benachbart ist. Im Beispiele: Signorelli war z. B., solange mir
495 der Name des Malers unzugänglich blieb, die visuelle Erinnerung an den
496 Zyklus von Fresken und an sein in der Ecke eines Bildes angebrachtes
497 Selbstporträt überdeutlich, jedenfalls weit intensiver als visuelle Er-
498innerungsspuren sonst bei mir auftreten. In einem anderen Falle. der gleich-
499falls in der Abhandlung von 1898 mitgeteilt ist, hatte ich von der Adresse
500 eines mir unbequemen Besuches in einer fremden Stadt den Straßennamen
501 hoffnungslos vergessen, die Hausnummer aber wie zum Spott -— überdeutlich
502 gemerkt, während sonst das Erinnern von Zahlen mir die größte Schwierig—
503 keit bereitet.
504

§ 102

1) Ich möchte für das Fehlen eines inneren Zusammenhanges zwischen
505 den beiden Gedankenkreisen im Falle Signorelli nicht mit voller Überzeugung
506 einstehen. Bei sorgfältiger Verfolgung der verdrängten Gedanken über das
507 Thema von Tod und. Sexualleben stößt man doch auf eine Idee, die sich mit
508 dem Thema der Fresken von Orvieto nahe berührt.
509

§ 103

510

§ 104

__17_
511

§ 105

unabhängigen verdrängten Thema, welches unmittelbar vorher das
512 bewußte Denken beschäftigt hätte und nun als Störung nachklänge,
513 nichts zu merken. Die Störung der Reproduktion erfolgt hier aus
514 dem Innern des angeschlagenen Themas heraus, indem sich un-
515bewußt ein Widerspruch gegen die im Zitat dargestellte Wunsch-
516idee erhebt. Man muß sich den Hergang in folgender Art kon-
517struieren: Der Redner hat bedauert, daß die gegenwärtige Gene-
518ration seines Volkes in ihren Rechten verkürzt wird; eine neue
519 Generation, weissagt er wie Dido, wird die Rache an den Be-
520drängern übernehmen. Er hat also den Wunsch nach Nach-
521kommenschaft ausgeswochen. In diesem Momente fährt ihm ein
522 widersprechender Gedanke dazwischen. „Wünschest du dir Nach-
523kommenschaft wirklich so lebhaft? Das ist nicht wahr. In welche
524 Verlegenheit kämest du, wenn du jetzt die Nachricht erhieltest,
525 daß du von der einen Seite, die du kennst, Nachkommen zu er-
526warten hast? Nein, keine Nachkommenschaft, -— wiewohl wir sie
527 für die Rache brauchen.“ Dieser Widerspruch bringt sich nun
528 zur Geltung, indem er genau wie im Beispiel: Signorelli eine
529 äußerliche Assoziation zwischen einem seiner Vorstellungselemente
530 und einem Elemente des beanstandeten Wunsches herstellt, und
531 zwar diesmal auf eine höchst gewaltsame Weise durch einen ge-
532künstelt erscheinenden Assoziationsumweg. Eine zweite wesent-
533liche Übereinstimmung mit dem Beispiel Signorelli ergibt sich
534 daraus, daß der Widerspruch aus verdrängten Quellen stammt und
535 von Gedanken ausgeht, welche eine Abwendung der Aufmerksam-
536keit hervorrufen würden. -— Soviel über die Verschiedenheit und
537 über die innere Verwandtschaft der beiden Paradigmata des Namen-
538vergessens. Wir haben einen zweiten Mechanismus des Vergessens
539 kennen gelernt, die Störung eines Gedankens durch einen aus
540 dem Verdrängtem kommenden inneren Widerspruch. Wir werden
541 diesem Vorgang, der uns als der leichter verständliche erscheint,
542 im Laufe dieser Erörterungen noch wiederholt begegnen.
543

§ 106

Freud, Psychopathologie des Alltagslebehs. 2
544

§ 107

545

18 § 108

III.
546

§ 109

Vergessen von Namen und Wortfolgen.
547

§ 110

Erfahrungen, wie die eben erwähnte, über den Hergang des
548 Vergessens eines Stückes aus einer fremdsprachigen Wortfolge
549 können die Wißbegierde rege machen, ob denn das Vergessen von
550 Wortfolgen in der Muttersprache eine wesentlich andere Auf-
551klärung erfordere. Man pflegt zwar nicht verwundert zu sein,
552 wenn man eine auswendig gelernte Formel oder ein Gedicht nach
553 einiger Zeit nur ungetreu, mit Abänderungen und Lücken re-
554produzieren kann. Da aber dieses Vergessen das im Zusammen-
555hang Erlernte nicht gleichmäßig betrifft, sondern wiederum einzelne
556 Stücke daraus loszubröckeln scheint, könnte es sich der Mühe
557 verlohnen, einzelne Beispiele von solcher fehlerhaft gewordenen
558 Reproduktion analytisch zu untersuchen.
559

§ 111

Ein jüngerer Kollege, der im Gespräch mit mir die Ver-
560mutung äußerte, das Vergessen von Gedichten in der Muttersprache
561 könnte wohl ähnlich motiviert sein wie das Vergessen einzelner
562 Elemente in einer fremdsprachigen Wortfolge, erbot sich zugleich
563 zum Untersuchungsobjekt. Ich fragte ihn, an welchem Gedicht
564 er die Probe machen wolle, und er wählte „Die Braut von Korinth“,
565 welches Gedicht er sehr liebe und wenigstens strophenweise aus-
566wendig zu kennen glaube. Zu Beginn der Reproduktion traf sich ihm
567 eine eigentlich auffällige Unsicherheit. „Heißt es: „Von Korinthos
568 nach Athen gezogen“, fragte er, oder „Nach Korinthos von Athen
569 gezogen“. Auch ich war einen Moment lange schwankend, bis ich
570 lachend bemerkte, daß der Titel des Gedichts „Die Braut von
571 Korinth“ ja keinen Zweifel darüber lasse, welchen Weg der
572 Jüngling ziehe. Die Reproduktion der ersten Strophe ging dann
573 glatt oder wenigstens ohne auffällige Verfälschung vor sich. Nach
574 der ersten Zeile der zweiten Strophe schien der Kollege eine
575 Weile zu suchen; er setzte bald fort und rezitierte also:
576

§ 112

"Aber wird er auch willkommen scheinen,
577 Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt?
578 Denn er ist noch Heide mit den Seinen
579 Und sie sind Christen und — getauft."
580

§ 113

Ich hatte schon vorher wie befremdet aufgehorcht; nach dem
581 Schluß der letzten Zeile waren wir beide einig, daß hier eine[/]
582

19Entstellung stattgefunden habe. Da es uns aber nicht gelang,
583 dieselbe zu korrigieren, eilten wir zur Bibliothek, um Goethes Ge-
584dichte zur Hand zu nehmen, und fanden zu unserer Überraschung,
585 daß die zweite Zeile dieser Strophe einen völlig anderen Wortlaut
586 habe, der vom Gedächtnis des Kollegen gleichsam herausgeworfen und
587 durch etwas anscheinend fremdes ersetzt worden war. Es hieß richtig:
588

§ 114

„ "Aber wird er auch willkommen scheinen,
589 Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft." “
590

§ 115

Auf „erkauft“ reimte „getauft“, und es schien mir sonderbar,
591 daß die Konstellation: Heide, Christen und getauft, ihn bei der
592 Wiederherstellung des Textes so wenig gefördert hatte.
593

§ 116

„Können Sie sich erklären“, fragte ich den Kollegen, „daß
594 Sie in dem Ihnen angeblich so wohl vertrauten Gedicht die Zeile
595 so vollständig gestrichen haben, und haben Sie eine Ahnung, aus
596 welchem Zusammenhang Sie den Ersatz holen konnten?“
597

§ 117

Er war imstande, Aufklärung zu geben, obwohl er es offenbar
598 nicht sehr gerne tat. „Die Zeile: Jetzt, wo jeder Tag was Neues
599 bringt, kommt mir bekannt vor; ich muß sie vor kurzem mit
600 Bezug auf meine Praxis gebraucht haben, mit deren Aufschwung
601 ich, wie Sie wissen, gegenwärtig sehr zufrieden bin. Wie dieser
602 Satz aber dahinein gehört? Ich wüßte einen Zusammenhang. Die
603 Zeile „wenn er teuer nicht die Gunst erkauft“ war mir offenbar
604 nicht angenehm. Es hängt das mit einer Bewerbung zusammen,
605 die ein erstes Mal abgeschlagen worden ist, und die ich jetzt mit
606 Rücksicht auf meine sehr gebesserte materielle Lage zu wieder-
607holen gedenke. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, aber es kann
608 mir doch gewiß nicht lieb sein, wenn ich jetzt angenommen werde,
609 mich daran zu erinnern, daß eine Art von Berechnung damals
610 wie nun den Ausschlag gegeben hat.“
611

§ 118

Das erschien mir einleuchtend, auch ohne daß ich die näheren
612 Umstände zu wissen brauchte. Aber ich fragte weiter: Wie
613 kommen Sie überhaupt dazu, sich und Ihre privaten Verhältnisse
614 in den Text der „Braut von Korinth“ zu mengen? Bestehen
615 vielleicht in Ihrem Falle solche Unterschiede des Religionsbekennt-
616nisses, wie sie im Gedichte zur Bedeutung kommen?
617

§ 119

( "Keimt ein Glaube neu,
618 wird oft Lieb’ und Treu
619 wie ein böses Unkraut ausgerauft." )
620
621

20 § 120

Ich hatte nicht richtig geraten, aber es war merkwürdig zu
622 erfahren, wie die eine wohlgezielte Frage den Mann plötzlich
623 hellsehend machte, so daß er mir als Antwort bringen konnte,
624 was ihm sicherlich bis dahin selbst unbekannt geblieben war. Er
625 sah mich mit einem gequälten und auch unwilligen Blick an,
626 murmelte eine spätere Stelle des Gedichtes vor sich hin:
627

§ 121

„ "Sieh’ sie an genau!" ¹⁾1)
628 "Morgen ist sie grau." “
629

§ 122

und fügte kurz hinzu: Sie ist etwas älter als ich. Um ihm nicht
630 noch mehr Pein zu bereiten, brach ich die Erkundigung ab. Die
631 Aufklärung erschien mir zureichend. Aber es war gewiß über-
632raschend, daß die Bemühung, eine harmlose Fehlleistung des Ge-
633dächtnisses auf ihren Grund zurückzuführen, an so ferne liegende,
634 intime und mit peinlichem Affekt besetzte Angelegenheiten des
635 Untersuchten rühren mußte.
636

§ 123

Ein anderes Beispiel vom Vergessen in der Wortfolge eines
637 bekannten Gedichtes will ich nach C. G. Jung²⁾2) und mit den
638 Worten des Autors anführen.
639

§ 124

„Ein Herr will das bekannte Gedicht rezitieren: „Ein Fichten-
640baum steht einsam usw.“ In der Zeile: „Ihn schläfert“ bleibt er
641 rettungslos stecken, er hat „mit weißer Decke“ total vergessen.
642 Dieses Vergessen in einem so bekannten Vers schien mir auf-
643fallend, und ich ließ ihn nun reproduzieren, was ihm zu „mit
644 weißer Decke“ einfiel. Es entstand folgende Reihe: „Man denkt
645 bei weißer Decke an ein Totentuch — ein Leintuch, mit dem man
646 einen Toten zudeckt — (Pause) — jetzt fällt mir ein naher Freund
647 ein — sein Bruder ist jüngst ganz plötzlich gestorben — er soll
648 an einem Herzschlag gestorben sein — er war eben auch sehr
649 korpulent — mein Freund ist auch korpulent und ich habe schon[/]
650

21gedacht, es könnte ihm auch so gehen — er gibt sich wahr-
651scheinlich zu wenig Bewegung — als ich von dem Todesfall hörte,
652 ist mir plötzlich angst geworden, es könnte mir auch so gehen,
653 da wir in unserer Familie sowieso Neigung zur Fettsucht haben,
654 und auch mein Großvater an einem Herzschlag gestorben ist; ich
655 finde mich auch zu korpulent und habe deshalb in diesen Tagen
656 mit einer Entfettungskur begonnen.“
657

¹⁾ Der Kollege hat übrigens die schöne Stelle des Gedichts sowohl in
ihrem Wortlaut wie nach ihrer Anwendung etwas abgeändert. Das ge-
spenstische Mädchen sagt seinem Bräutigam:
660 „ "Meine Kette hab’ ich dir gegeben;
Deine Locke nehm’ ich mit mir fort.
Sieh sie an genau!
Morgen bist du grau,
Und nur braun erscheinst du wieder dort." “
665 ²⁾ C. G. Jung, Über die Psychologie der Dementia praecox. 1907.
Seite 64.
667 § 125

„Der Herr hat sich also unbewußt sofort mit dem Fichten-
668baum identifiziert“, bemerkt Jung, „der vom weißen Leichentuch
669 umhüllt ist.“
670

§ 126

Das nachstehende Beispiel von Vergessen einer Wortfolge,
671 das ich meinem Freunde Dr. Ferenczi in Budapest verdanke,
672 bezieht sich, anders als die vorigen, auf eine selbstgeprägte Rede,
673 nicht auf einen vom Dichter übernommenen Satz. Es mag uns
674 auch den nicht ganz gewöhnlichen Fall vorführen, daß sich das
675 Vergessen in den Dienst unserer Besonnenheit stellt, wenn ihr die
676 Gefahr droht, einem augenblicklichen Gelüste zu erliegen. Die
677 Fehlleistung gelangt so zu einer nützlichen Funktion. Wenn wir
678 wieder ernüchtert sind, geben wir dann jener inneren Strömung
679 Recht, welche sich vorhin nur durch ein Versagen — ein Ver-
680gessen, eine psychische Impotenz — äußern konnte.
681

§ 127

„In einer Gesellschaft fällt das Wort „Tout comprendre c’est
682 tout pardonner.“ Ich bemerke dazu, daß der erste Teil des Satzes
683 genügt; das „Pardonnieren“ sei eine Überhebung, man überlasse
684 das Gott und den Geistlichen. Ein Anwesender findet diese Be-
685merkung sehr gut; das macht mich verwegen und — wahrschein-
686lich um die gute Meinung des wohlwollenden Kritikers zu sichern
687 — sage ich, daß mir unlängst etwas Besseres eingefallen sei.
688 Wie ich es aber erzählen will — fällt es mir nicht ein. — Ich
689 ziehe mich sofort zurück und schreibe die Deckeinfälle auf. —
690 Zuerst kommt der Name des Freundes und der Straße in Budapest,
691 die die Zeugen der Geburt jenes (gesuchten) Einfalles waren; dann
692 der Name eines anderen Freundes, Max, den wir gewöhnlich
693 Maxi nennen. Das führt mich zum Worte Maxime und zur Er-
694innerung, daß es sich damals (wie im eingangs erwähnten Falle)
695 um die Abänderung einer bekannten Maxime handelte. Seltsamer-
696weise fällt mir dazu nicht eine Maxime, sondern folgendes ein:
697 „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ und dessen[/]
698

22veränderte Fassung „der Mensch schuf Gott nach dem
699 seinigen.“ Daraufhin taucht sofort die Erinnerung an das Ge-
700suchte auf:
701

§ 128

„Mein Freund sagte zu mir damals in der Andrássygasse:
702 „Nichts Menschliches ist mir fremd,“ worauf ich — auf die
703 psychoanalytischen Erfahrungen anspielend — sagte: „Du solltest
704 weitergehen und bekennen, daß dir nichts Tierisches
705 fremd ist.“
706

§ 129

„Nachdem ich aber endlich die Erinnerung an das Gesuchte
707 hatte, konnte ich es in der Gesellschaft, in der ich mich gerade
708 befand, erst recht nicht erzählen. Die junge Gattin des Freundes,
709 den ich an die Animalität des Unbewußten erinnert hatte, war
710 auch unter den Anwesenden, und ich mußte wissen, daß sie zur
711 Kenntnisnahme solcher unerfreulicher Einsichten gar nicht vor-
712bereitet war. Durch das Vergessen ist mir eine Reihe unange-
713nehmer Fragen ihrerseits und eine aussichtslose Diskussion erspart
714 worden, und gerade das muß das Motiv der „temporären Amnesie“
715 gewesen sein.“
716

§ 130

„Es ist interessant, daß sich als Deckeinfall ein Satz ein-
717stellte, in dem die Gottheit zu einer menschlichen Erfindung
718 degradiert wird, während im gesuchten Satze auf das Tierische
719 im Menschen hingewiesen wurde. Also die Capitis diminutio ist
720 das Gemeinsame. Das Ganze ist offenbar nur die Fortsetzung des
721 durch das Gespräch angeregten Gedankenganges über das Verstehen
722 und Verzeihen.“
723

§ 131

„Daß sich in diesem Falle das Gesuchte so rasch einstellte,
724 verdanke ich vielleicht auch dem Umstande, daß ich mich aus der
725 Gesellschaft, in der es zensuriert war, sofort in ein menschenleeres
726 Zimmer zurückzog.“
727

§ 132

Ich habe seither zahlreiche andere Analysen in Fällen von
728 Vergessen oder fehlerhafter Reproduktion einer Wortfolge angestellt
729 und bin durch das übereinstimmende Ergebnis dieser Unter-
730suchungen der Annahme geneigt worden, daß der in den Beispielen
731 „aliquis“ und „Braut von Korinth“ nachgewiesene Mechanismus
732 des Vergessens fast allgemeine Gültigkeit hat. Es ist meist nicht
733 sehr bequem, solche Analysen mitzuteilen, da sie wie die vor-
734stehend erwähnten stets zu intimen und für den Analysierten pein-
735lichen Dingen hinleiten; ich werde die Zahl solcher Beispiele darum[/]
736

23auch nicht weiter vermehren. Gemeinsam bleibt all diesen Fällen
737 ohne Unterschied des Materials, daß das Vergessene oder Entstellte
738 auf irgendeinem assoziativen Wege, mit einem unbewußten Ge-
739dankeninhalt in Verbindung gebracht wird, von welchem die als
740 Vergessen sichtbar gewordene Wirkung ausgeht. —
741

§ 133

Ich wende mich nun wiederum zu dem Vergessen von Namen,
742 wovon wir bisher weder die Kasuistik noch die Motive erschöpfend
743 betrachtet haben. Da ich gerade diese Art von Fehlleistung bei
744 mir zu Zeiten reichlich beobachten kann, bin ich um Beispiele
745 hierfür nicht verlegen. Die leisen Migränen, an denen ich noch
746 immer leide, pflegen sich Stunden vorher durch Namenvergessen
747 anzukündigen, und auf der Höhe des Zustandes, während dessen
748 ich die Arbeit aufzugeben nicht genötigt bin, bleiben mir häufig
749 alle eigenen Namen aus. Nun könnten gerade Fälle wie der
750 meinige zu einer prinzipiellen Einwendung gegen unsere analytischen
751 Bemühungen Anlaß geben. Soll man aus solchen Beobachtungen
752 nicht folgern müssen, daß die Verursachung der Vergeßlichkeit
753 und speziell des Namensvergessens in Zirkulations- und allgemeinen
754 Funktionsstörungen des Großhirns gelegen ist, und sich darum
755 psychologische Erklärungsversuche für diese Phänomene ersparen?
756 Ich meine keineswegs; das hieße den in allen Fällen gleichartigen
757 Mechanismus eines Vorgangs mit dessen variabeln und nicht not-
758wendig erforderlichen Begünstigungen verwechseln. An Stelle einer
759 Auseinandersetzung will ich aber ein Gleichnis zur Erledigung des
760 Einwandes bringen.
761

§ 134

Nehmen wir an, ich sei so unvorsichtig gewesen, zur Nacht-
762zeit in einer menschenleeren Gegend der Großstadt spazieren zu
763 gehen, werde überfallen und meiner Uhr und Börse beraubt.
764 An der nächsten Polizeiwachstelle erstatte ich dann die Meldung
765 mit den Worten: Ich bin in dieser und jener Straße gewesen,
766 dort haben Einsamkeit und Dunkelheit mir Uhr und Börse
767 weggenommen. Obwohl ich in diesen Worten nichts gesagt hätte,
768 was nicht richtig wäre, liefe ich doch Gefahr, nach dem Wortlaut
769 meiner Meldung für nicht ganz richtig im Kopie gehalten zu werden.
770 Der Sachverhalt kann in korrekter Weise nur so beschrieben
771 werden, daß, von der Einsamkeit des Ortes begünstigt, unter
772 dem Schutze der Dunkelheit unbekannte Täter mich meiner
773 Kostbarkeiten beraubt haben. Nun denn, der Sachverhalt beim[/]
774

24Namenvergessen braucht kein anderer zu sein; durch Ermüdung,
775 Zirkulationsstörung und Intoxikation begünstigt raubt mir eine
776 unbekannte psychische Macht die Verfügung über die meinem
777 Gedächtnis zustehenden Eigennamen, dieselbe Macht, welche in
778 anderen Fällen dasselbe Versagen des Gedächtnisses bei voller
779 Gesundheit und Leistungsfähigkeit zustande bringen kann.
780

§ 135

Wenn ich die an mir selbst beobachteten Fälle von Namen-
781vergessen analysiere, so finde ich fast regelmäßig, daß der vor-
782enthaltene Name eine Beziehung zu einem Thema hat, welches
783 meine Person nahe angeht, und starke, oft peinliche Affekte in
784 mir hervorzurufen vermag. Nach der bequemen und empfehlens-
785werten Übung der Züricher Schule (Bleuler, Jung, Riklin) kann
786 ich dasselbe auch in der Form ausdrücken: Der entzogene Name
787 habe einen „persönlichen Komplex“ in mir gestreift. Die Beziehung
788 des Namens zu meiner Person ist eine unerwartete, meist durch
789 oberflächliche Assoziation (Wortzweideutigkeit, Gleichklang) ver-
790mittelte; sie kann allgemein als eine Seitenbeziehung gekenn-
791zeichnet werden. Einige einfache Beispiele werden die Natur der-
792selben am Besten erläutern:
793

§ 136

a) Ein Patient bittet mich, ihm einen Kurort an der Riviera
794 zu empfehlen. Ich weiß einen solchen Ort ganz nahe bei Genua,
795 erinnere auch den Namen des deutschen Kollegen, der dort
796 praktiziert, aber den Ort selbst kann ich nicht nennen, so gut ich
797 ihn auch zu kennen glaube. Es bleibt mir nichts anderes übrig,
798 als den Patienten warten zu heißen und mich rasch an die Frauen
799 meiner Familie zu wenden. „Wie heißt doch der Ort neben
800 Genua, wo Dr. N. seine kleine Anstalt hat, in der die und jene
801 Frau so lange in Behandlung war?“ „Natürlich, gerade du mußtest
802 diesen Namen vergessen. Nervi heißt er.“ Mit Nerven habe ich
803 allerdings genug zu tun.
804

§ 137

b) Ein anderer spricht von einer nahen Sommerfrische und
805 behauptet, es gebe dort außer den zwei bekannten ein drittes
806 Wirtshaus, an welches sich für ihn eine gewisse Erinnerung knüpft;
807 den Namen werde er mir sogleich sagen. Ich bestreite die Existenz
808 dieses dritten Wirtshauses und berufe mich darauf, daß ich sieben
809 Sommer hindurch in jenem Ort gewohnt habe, ihn also besser
810 kennen muß als er. Durch den Widerspruch gereizt, hat er sich
811 aber schon des Namens bemächtigt. Das Gasthaus heißt: der[/]
812

25Hochwartner. Da muß ich freilich nachgehen, ja ich muß be-
813kennen, daß ich sieben Sommer lang in der nächsten Nähe dieses
814 von mir verleugneten Wirtshauses gewohnt habe. Warum sollte
815 ich hier Namen und Sache vergessen haben? Ich meine, weil der
816 Name gar zu deutlich an den eines Wiener Fachkollegen anklingt,
817 wiederum den „professionellen“ Komplex in mir anrührt.
818

§ 138

c) Ein andermal, im Begriffe auf dem Bahnhof von Reichen-
819hall eine Fahrkarte zu lösen, will mir der sonst so sehr vertraute
820 Name der nächsten großen Bahnstation, die ich schon so oft passiert
821 habe, nicht einfallen. Ich muß ihn allen Ernstes auf dem Fahrplan
822 suchen. Er lautet: Rosenheim. Dann weiß ich aber sofort, durch
823 welche Assoziation er mir abhanden gekommen ist. Eine Stunde
824 vorher hatte ich meine Schwester in ihrem Wohnorte ganz nahe bei
825 Reichenhall besucht; meine Schwester heißt Rosa, also auch ein
826 Rosenheim. Diesen Namen hat mir der „Familienkomplex“ weg-
827genommen.
828

§ 139

d) Das geradezu räuberische Wirken des „Familienkomplexes“
829 kann ich dann in einer ganzen Anzahl von Beispielen verfolgen.
830

§ 140

Eines Tages kam ein junger Mann in meine Ordination,
831 jüngerer Bruder einer Patientin, den ich ungezählte Male gesehen
832 hatte, und dessen Person ich mit dem Vornamen zu bezeichnen
833 gewohnt war. Als ich dann von seinem Besuch erzählen wollte,
834 hatte ich seinen, wie ich wußte, keineswegs ungewöhnlichen Vor-
835namen vergessen und konnte ihn durch keine Hilfe zurückrufen.
836 Ich ging dann auf die Straße, um Firmenschilder zu lesen, und
837 erkannte den Namen, sowie er mir das erste Mal entgegentrat.
838 Die Analyse belehrte mich darüber, daß ich zwischen dem Be-
839sucher und meinem eigenen Bruder eine Parallele gezogen hatte,
840 die in der verdrängten Frage gipfeln wollte: Hätte sich mein
841 Bruder im gleichen Falle ähnlich oder vielmehr entgegengesetzt
842 benommen? Die äußerliche Verbindung zwischen den Gedanken
843 über die fremde und über die eigene Familie war durch den
844 Zufall ermöglicht worden, daß die Mütter hier und dort den gleichen
845 Vornamen: Amalia tragen. Ich verstand dann auch nachträglich
846 die Ersatznamen: Daniel und Franz, die sich mir aufgedrängt
847 hatten, ohne mich aufzuklären. Es sind dies, wie auch Amalia,
848 Namen aus den Räubern von Schiller, an welche sich ein Scherz
849 des Wiener Spaziergängers Daniel Spitzer knüpft.
850

§ 141

26
851

§ 142

e) Ein anderes Mal kann ich den Namen eines Patienten
852 nicht finden, der zu meinen Jugendbeziehungen gehört. Die Analyse
853 führt über einen langen Umweg, ehe sie mir den gesuchten Namen
854 liefert. Der Patient hatte die Angst geäußert, das Augenlicht zu
855 verlieren; dies rief die Erinnerung an einen jungen Mann wach,
856 der durch einen Schuß blind geworden war; daran knüpfte sich
857 wieder das Bild eines anderen Jünglings, der sich angeschossen
858 hatte, und dieser letztere trug denselben Namen wie der erste
859 Patient, obwohl er nicht mit ihm verwandt war. Den Namen
860 fand ich aber erst, nachdem mir die Übertragung einer ängstlichen
861 Erwartung von diesen beiden juvenilen Fällen auf eine "Person
862 meiner eigenen Familie bewußt geworden war.
863

§ 143

Ein beständiger Strom von „Eigenbeziehung“ geht so durch
864 mein Denken, von dem ich für gewöhnlich keine Kunde erhalte,
865 der sich mir aber durch solches Namenvergessen verrät. Es ist,
866 als wäre ich genötigt, alles, was ich über fremde Personen höre,
867 mit der eigenen Person zu vergleichen, als ob meine persönlichen
868 Komplexe bei jeder Kenntnisnahme von anderen rege Würden.
869 Dies kann unmöglich eine individuelle Eigenheit meiner Person
870 sein; es muß vielmehr einen Hinweis auf die Art, wie wir über-
871haupt „Anderes“ verstehen, enthalten. Ich habe Gründe anzu-
872nehmen, daß esbei anderen Individuen gänz ähnlich zugeht wie
873 bei mir.
874

§ 144

Das Schönste dieser Art hat mir als eigenes Erlebnis ein Herr
875 Lederer berichtet. Er traf auf seiner Hochzeitsreise in Venedig
876 mit einem ihm oberflächlich bekannten Herrn zusammen, den er
877 seiner jungen Frau vorstellen mußte. Da er“ aber den Namen des
878 Fremden vergessen hatte, half er sich das erstemal mit einem un-
879verständlichen Gemurmel. Als er dann dem Herrn, wie in Venedig
880 unausweichlich, ein zweites Mal begegnete, nahm er ihn beiseite
881 und bat ihn, ihm doch aus der Verlegenheit zu helfen, indem er
882 ihm seinen Namen sage, den er leider vergessen habe. Die Ant-
883wort des Fremden zeugte von überlegener Menschenkenntnis: Ich
884 glaube es gerne, daß Sie sich meinen Namen nicht gemerkt haben.
885 Ich heiße wie Sie: Lederer! —— Man kann sich einer leicht un-
886angenehmen Empfindung nicht erwehren, wenn man seinen eigenen
887 Namen bei einem Fremden wiederfindet. Ich verspürte sie un-
888längst recht deutlich, als sich mir in der ärztlichen Sprechstunde
889

§ 145

890

§ 146

ein Herr S. Freud vorstellte. Übrigens nehme ich Notiz von der
891 Versicherung eines meiner Kritiker, daß er sich in diesem Punkte
892 entgegengesetzt wie ich verhalte.
893

§ 147

f) Die Wirksamkeit der Eigenbeziehung erkennt man auch in
894 folgendem, von J ung1) mitgeteilten Beispiel:.
895

§ 148

„Ein Herr Y verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche
896 „ bald darauf einen Herrn X heiratete. Trotzdem nun Herr Y den
897 Herrn X schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäft-
898lichen Verbindungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer
899 wieder dessen Namen, so daß er sich mehrere Male bei anderen
900 Leuten danach erkundigen mußte, als er mit Herrn X korre-
901spondieren wollte.“
902

§ 149

Indes ist die Motivierung des Vergessens in diesem Falle
903 durchsichtiger als in den vorigen, welche unter der Konstellation
904 der Eigenbeziehung stehen. Das Vergessen scheint hier direkte
905 Folge der Abneigung des Herrn Y gegen seinen glücklicheren
906 Rivalen; er will nichts von ihm wissen; „nicht gedacht soll seiner
907 werden“.
908

§ 150

g) Auf etwas anderem Wege führte die Eigenbeziehung zum
909 Vergessen eines Namens in dem folgenden von Ferenczi mit-
910geteilten Falle, dessen Analyse besonders durch die Aufklärung
911 der Ersatzeinfälle (wie Botticelli —— Boltraffio zu Signorelli) lehr-
912reic-h wird.
913

§ 151

' „Einer Dame, die etwas von Psychoanalyse gehört hat, will
914 der Name des Psychiaters Jung nicht einfallen.“
915

§ 152

„Dafür stellen sich folgende Einfälle ein: Kl. (ein Name) -——-
916Wilde—Nietzsche—Hauptmann.“
917

§ 153

' „Ich sage ihr den Namen nicht und fordere sie auf, an jeden
918 einzelnen Einfall frei zu assoziieren.“
919

§ 154

„Bei Kl. denkt sie sofort an Frau Kl., und daß sie eine
920 gezierte,affektierte Person sei, die aber für ihr Alter sehr gut
921 _aussehe. „Sie wird nicht alt.“ Als gemeinsamen Oberbegriff
922 von Wilde und Nietzsche nennt sie „Geisteskrankheit“.
923 Dann sagt sie spöttisch: „Sie Freudianer werden so lange die
924 Ursachen der Geisteskrankheiten suchen, bis sie selbst geistes-
925krank-werden.“ Dann: „Ich kann Wilde und Nietzsche nicht
926

§ 155

1) Dementia praecox, S. 52.
927

§ 156

928

§ 157

ausstehen. Ich verstehe sie nicht. Ich höre, sie waren beide
929 homosexuell; Wilde hat sich mit jungen Leuten abgegeben.“
930 (Trotzdem sie in diesem Satze den richtigen Namen —— allerdings
931 ungarisch -—— schon ausge53prochen hat, kann sie sich dessen immer
932 noch nicht erinnern.)“ '
933

§ 158

„Zu Hauptmann fällt ihr Halbe, dann Jugend ein, und
934 jetzt erst, nachdem ich ihre Aufmmksamkeit auf das Wort Jugend
935 lenke, weiß sie, daß sie den Namen Jung gesucht hat.“
936

§ 159

„Allerdings hat diese Dame, die im Alter von 39 Jahren
937 den Gatten verlor und keine Aussicht hat, sich wieder zu ver-
938heiraten, Grund genug, der Erinnerung an alles, was an Jugend
939 oder Alter gemahnt, auszuweichen. Auffallend ist die rein inhalt-
940liche Assoziierung der Deck-Einfälle zu dem gesuchten Namen
941 und das Fehlen von Klangassoziationen.“
942

§ 160

h) Noch anders und. sehr fein motiviert ist ein Beispiel von
943 Namenvergessen, welches sich der Betreffende selbst aufgeklärt hat:
944

§ 161

„Als ich Prüfung aus Philoswhie als Nebengegenstand machte,
945 wurde ich vom Examinator nach der Lehre Epikurs gefragt,
946 und dann weiter, ob ich wiSse, wer dessen Lehre in späteren
947 Jahrhunderten wieder aufgenommen habe. Ich antwortete mit
948 dem Namen Pierre Gassendi, den ich gerade zwei Tage vor-
949her im Café als Schüler Epikurs hatte nennen hören. Auf die
950 erstaunte Frage, woher ich das wisse, gab ich kühn die Antwort,
951 daß ich mich seit Langem für Gassendi interessiert habe. Daraus
952 ergab sich ein magna cum laude fürs Zeugnis, aber leider auch
953 für später eine hartnäckige Neigung, den Namen Gassendi zu
954 vergessen. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen ist schuld daran,
955 wenn ich diesen Namen allen Bemühungen zum Trotz jetzt nicht
956 behalten kann. Ich hätte ihn ja auch damals nicht wissen sollen.“
957

§ 162

Will man die Intensität der Abneigung gegen die Erinnerung
958 an diese Prüfungsepisode bei unserem Gewährsmann richtig
959 würdigen, so muß man erfahren haben, wie hoch er seinen
960 Doktortitel anschlägt, und für wieviel anderes ihm dieser Ersatz
961 bieten muß.
962

§ 163

Ich schalte hier noch ein BeiSpiel von Vergessen eines Städte-
963namens ein, welches vielleicht nicht so einfach ist wie die vorher
964 angeführten, aber jedem mit solchen Untersuchungen vertrauteren
965 glaubwürdig und wertvoll erscheinen wird. Der Name einer
966

§ 164

967

§ 165

_29_
968

§ 166

italienischen Stadt entzieht sich der Erinnerung infolge seiner
969 weitgehenden Klangähnlichkeit mit einem weiblichen Vornamen,
970 an den sich vielerlei affektvolle, in der Mitteilung wohl nicht
971 erschöpfend ausgeführte Erinnerungen knüpfen. Dr. S. Ferenczi
972 (Budapest), der diesen Fall von Vergessen an sich selbst beob-
973achtete, hat ihn behandelt, wie man einen Traum oder eine neu-
974rotische Idee analysiert, und dies gewiß mit Recht.
975

§ 167

„Ich war heute bei einer befreundeten Familie; es kamen
976 oberitalienische Städte zur Sprache. Da erwähnt jemand, daß
977 diese den österreichischen Einfluß noch erkennen lassen. Man
978 zitiert einige dieser Städte; auch ich will eine nennen, ihr Name
979 fällt mir aber nicht ein, obzwar ich weiß, daß ich dort zwei sehr
980 angenehme Tage verlebte, was nicht gut zu Freud’s Theorie
981 des Vergessens stimmt. —-— Statt des gesuchten Städtenamens
982 drängen sich mir folgende Einfälle auf: „Capua.“ ——-- „Brescia.“
983 —— „Der Löwe von Brescia.“
984

§ 168

„Diesen „Löwen“ sehe ich in Gestalt einer Marmorstatue
985 wie gegenständlich vor mir stehen, merke aber sofort, daß er
986 weniger dem Löwen auf dem F reiheitsdenkmal zu Brescia (das
987 ich nur im Bild gesehen habe), als jenem anderen marmornen
988 Löwen ähnelt, den ich am Grabdenkmal der in den Tuilerien
989 gefallenen Schweizer Garde in Luzern gesehen habe, und
990 dessen Reproduktion en miniature auf meinem Bücherschrank
991 steht. Endlich fällt mir der gesuchte Name doch ein: es ist
992 Veronaß
993

§ 169

„Ich weiß auch sofort, wer an dieser Amnesie schuld war.
994 Niemand anderer als eine frühere Bedienstete der Familie, bei
995 der ich gerade zu Gaste war. Sie hieß Veronika, auf ungarisch
996 Verona, und war mir wegen ihrer abstoßenden Physiognomie
997 wie auch wegen ihrer heiseren, kreischenden Stimme und
998 unleidlichen Konfidenz (wozu sie sich durch die lange Dienstzeit
999 berechtigt glaubte) sehr antipathisch. Auch die tyrannische
1000 Art, wie sie seinerzeit die Kinder des Hauses behandelte, war
1001 mir unausstehlich. Nun wußte ich auch, was die Ersatzeinfälle
1002 bedeuteten.“
1003

§ 170

„An Capua assoziiere ich sofort caput mortuum. Ich ver-
1004glich Veronikas K0pf sehr oft mit einem Totenschädel. —— Das
1005 ungarische Wort kapzoi (geldgierig) gab sicher auch eine Deter-
1006

§ 171

1007

§ 172

minierung für die Verschiebung her. Natürlich finde ich auch
1008 jene viel direkteren Assoziationswege, die Capua und Verona
1009 als geographische Begriffe und als italienische Worte mit gleichem
1010 Rhythmus miteinander verbinden.“
1011

§ 173

„Das gleiche gilt von Brescia; aber auch hier finden sich
1012 verschlungenere Seitenwege der Ideenverknüpfung.“
1013

§ 174

„Meine Antipathie war seinerzeit so heftig, daß ich Veronika
1014 förmlich ekelhaft fand und mehrere Male mein Erstaunen darüber
1015 äußerte, daß sie doch ein Liebesleben haben und geliebt werden
1016 konnte; „sie zu küssen“ —— sagte ich — „muß ja einen Brech-
1017reiz hervorrufen. Und doch war sie sicher längst in Beziehung
1018 zu bringen zur Idee der gefallenen Schweizer Garde.“
1019

§ 175

„Brescia wird, wenigstens hier in Ungarn, nicht mit dem
1020 Löwen, sondern einem anderen wilden Tier zusammen sehr
1021 oft genannt. Der bestgehaßte Name in diesem Lande wie auch
1022 in Oberitalien ist der des Generals Hayn au , der kurzwegs die
1023 Hyäne von Brescia genannt wird. Vom gehaßten Tyrannen
1024 Haynau führt also der eine Gedankenfaden über Brescia zur Stadt
1025 Verona, der andere über die Idee des Totengräbertieres mit
1026 der heiseren Stimme (der das Auftauchen eines Grabdenk-
1027mals mitbestimmt) zum Totenschädel und zum unangenehmen
1028 Organ der durch mein Unbewußtes so arg beschimpften Veronika,
1029 die seinerzeit in diesem Hause beinahe so tyrannisch gehaust hat
1030 wie der österreichische General nach den ungarischen und ita-
1031lienischen Freiheitskämpfen.“
1032

§ 176

„An Luzern knüpft sich der Gedanke an den Sommer, den
1033 Veronika mit ihrer Dienstherrschaft beim Vierwaldstätter See in
1034 der Nähe von Luzern verbrachte; an die „Schweizer Garde“
1035 wiederum die Erinnerung, daß sie nicht nur die Kinder, sondern
1036 auch die erwachsenen Mitglieder der Familie zu tyrannisieren
1037 verstand und sich in der Rolle der Garde-Dame gefiel.“
1038

§ 177

„Ich bemerke ausdrücklich, daß diese meine Antipathie gegen
1039 V. — bewußt -— zu den längst überwundenen Dingen gehört. Sie
1040 hat sich inzwischen äußerlich wie in ihren Manieren sehr zu ihrem
1041 Vorteile verändert, und ich kann ihr (wozu ich allerdings selten
1042 Gelegenheit habe) mit aufrichtiger Freundlichkeit begegnen. Mein
1043 Unbewußtes hält, wie gewöhnlich, zäher an den Eindrücken fest,
1044 es ist „nachträglich“ und nachtragend.
1045

§ 178

1046

§ 179

__31_
1047

§ 180

„Die Tuilerien sind eine Anspielung auf eine zweite Per-
1048sönlichkeit, eine ältere französische Dame, die die Frauen des
1049 Hauses bei vielen Anlässen tatsächlich „gardiert“ hat, und die
1050 von Groß und Klein geachtet —— wohl ein wenig auch gefürchtet
1051 wird. Ich war eine zeitlang ihr eleve in französischer Konversation.
1052 Zum Wort „eleve“ fällt mir noch ein, daß, als ich beim Schwager
1053 meines heutigen Gastgebers in Nordböhmen auf Besuch war, ich
1054 viel darüber lachen mußte, daß die dortige Landbevölkerung die
1055 Eléven der dortigen Forstakademie konsequent „Löwen“ nannte.
1056 Auch diese lustige Erinnerung mag an der Verschiebung von der
1057 Hyäne zum Löwen beteiligt gewesen sein.“
1058

§ 181

i) Auch das nachstehende Beispiefl) kann zeigen, wie ein
1059 zur Zeit die Person beherrschender Eigenkomplex ein Namenver-
1060gessen an weit abliegender Stelle hervorruft:
1061

§ 182

„Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, die vor sechs
1062 Monaten gemeinsam in Sizilien gereist sind, tauschen Erinnerungen
1063 an jene schönen und inhaltsreichen Tage aus. „Wie hat nur der
1064 Ort geheißen,“ fragt der Jüngere, „an dem wir übernachtet haben,
1065 um die Partie nach Selinunt zu machen? Calatafimi, nicht
1066 wahr?“ -—— Der Ältere weist dies zurück: „Gewiß nicht, aber ich
1067 habe den Namen ebenfalls vergessen, obwohl ich mich an alle
1068 Einzelheiten des Aufenthaltes dort sehr gut erinnere. Es reicht
1069 bei mir hin, daß ich merke, ein anderer habe einen Namen ver-
1070gessen; sogleich wird auch bei mir das Vergessen induziert.
1071 Wollen wir den Namen nicht suchen? Mir fällt aber kein anderer
1072 ein als Caltanisetta, der doch gewiß nicht der richtige ist.“ ——
1073 „Nein“, sagt der Jüngere, „der Name fängt mit w an oder es
1074 kommt ein w darin vor.“ —— „Ein w gibt es doch im Italienischen
1075 nicht“, mahnt der Ältere. ——-— „Ich meinte ja auch nur ein v und
1076 habe nur w gesagt, weil ich’s von meiner Muttersprache her so
1077 gewöhnt bin.“ -— Der Ältere sträubt sich gegen das v. Er meint:
1078 „Ich glaube, ich habe überhaupt schon viele sizilianische Namen
1079 vergessen; es wäre an der Zeit, Versuche zu machen. Wie heißt
1080 z. B. der hochgelegene Ort, der im Altertum Enna geheißen hat?
1081 —— Ah ich weiß schon: Castrogiovanni.“ —— Im nächsten Moment
1082 hat der Jüngere auch den verlorenen Namen wiedergefunden. Er
1083

§ 183

1) Zentralblatt für Psychoanalyse I. 9. 1911.
1084

§ 184

1085

§ 185

_32__
1086

§ 186

ruft: Castelvetrano und freut sich, das behauptete v nachweisen
1087 zu können. Der Ältere vermißt noch eine Weile das Bekanntheits-
1088gefühl; nachdem er aber den Namen akzeptiert hat, soll er Aus-
1089kunft darüber geben, weshalb er ihm entfallen war. Er meint:
1090 „Offenbar weil die zweite Hälfte vetr ano an „Veteran“ anklingt.
1091 Ich weiß schon, daß ich nicht gerne ans Altern denke und in
1092 sonderbarer Weise reagiere, wenn ich daran gemahnt werde. So
1093 z. B. habe ich unlängst einem hochgeschätzten Freund in der
1094 merkwürdigsten Einkleidung vorgehalten, daß er „längst über die
1095 Jahre der Jugend hinaus sei“, weil dieser früher einmal mitten unter
1096 den schmeichelhaftesten Äußerungen über mich auch behauptete:
1097 „Ich sei kein junger Mann mehr.“ Daß sich der Widerstand bei
1098 mir gegen die zweite Hälfte des Namens Castelvetrano gerichtet
1099 hat, geht ja auch daraus hervor, daß der Anlaut desselben in dem
1100 Ersatznamen Caltanisetta wiedergekehrt war.“ —— „Und der
1101 Name Oaltanisetta selbst?“ fragt der Jüngere. — „Der ist mir
1102

§ 187

immer wie ein Kosenamen für ein junges Weib erschienen“, ge—
1103 steht der Altere ein.
1104

§ 188

Einige Zeit später setzt er hinzu: „Der Name für Enna war
1105 ja auch ein Ersatzname. Und nun fällt mir auf, daß dieser mit
1106 Hilfe einer Rationalisierung vordringende Namen Castrogiovanni
1107 genau so an giovane jung anklingt, wie der verlorene Name
1108 Castelvetrano an Veteran alt.“
1109

§ 189

Der Ältere glaubt so für sein Namenvergessen Rechenschaft
1110 gegeben zu haben. Aus welchem Motiv der Jüngere zum gleichen
1111 Ausfallphänomen gekommen war, wurde nicht untersucht.
1112

§ 190

In manchen Fällen werdenalle Feinheiten der psychoanaly-
1113tischen Technik in Anspruch genommen, um ein Namenvergessen
1114 aufzuklären. Wer von solcher Arbeit ein Beispiel kennen lernen
1115 will, den verweise ich auf eine Mitteilung von Prof. E. Jones
1116 (Toronto), die aus dem Englischen übersetzt ist 1).
1117

§ 191

Ich könnte die Beispiele von Namenvergessen vermehren und
1118 die Diskussion derselben sehr viel weiter führen, wenn ich nicht
1119 vermeiden wollte, fast alle Gesichtspunkte, die für spätere Themata
1120 in Betracht kommen, schon hier beim ersten zu erörtern. Doch
1121

§ 192

1) Analyse eines Falles von N amenvergessen. Zentralblatt für Psycho-
1122analyse. Jahrg. II. Heft 2. 1911.
1123

§ 193

1124

§ 194

_33__
1125

§ 195

darf ich mir gestatten, die Ergebnisse der hier mitgeteilten Ana-
1126lysen in einigen Sätzen zusammenzufassen:
1127

§ 196

Der Mechanismus des Namenvergessens (richtiger: des Ent-
1128fallens, zeitweiligen Vergessens) besteht in der Störung der inten-
1129dierten Reproduktion des Namens durch eine fremde und derzeit
1130 nicht bewußte Gedankenfolge. Zwischen dem gestörten Namen
1131 und dem störenden Komplex besteht entweder ein Zusammenhang
1132 von vorne herein, oder ein solcher hat sich, oft auf gekünstelt
1133 erscheinenden Wegen, durch oberflächliche (äußerliche Assozia-
1134tionen) hergestellt.
1135

§ 197

Unter den störenden Komplexen erweisen sich die der Eigen-
1136beziehung ‘(die persönlichen, familiären, beruflichen) als die wirk-
1137samsten.
1138

§ 198

Ein Name, der infolge von Mehrdeutigkeit mehreren Gedanken-
1139kreisen (Komplexen) angehört, wird häufig im Zusammenhange
1140 der einen Gedankenfolge durch seine Zugehörigkeit zum anderen,
1141 stärkeren Komplex gestört.
1142

§ 199

Unter den Motiven dieser Störungen leuchtet die Absicht
1143 hervor, die Erweckung von Unlust durch Erinnern zu vermeiden.
1144

§ 200

Man kann im allgemeinen zwei Hauptfälle des Namenver-
1145gessens unterscheiden, wenn der Name selbst an Unangenehmes
1146 rührt, oder wenn er mit anderem in Verbindung gebracht ist,
1147 dem solche Wirkung zukäme, so daß Namen um ihrer selbst
1148 willen oder wegen ihrer näheren oder entferhteren Assoziations—
1149 beziehungen in der Reproduktion gestört werden können.
1150

§ 201

Ein Überblick dieser allgemeinen Sätze laßt uns verstehen,
1151 daß das zeitweilige Namenvergessen als die häufigste unserer
1152 Fehlleistungen zur Beobachtung kommt.
1153

§ 202

Wir sind indes weit davon entfernt, alle Eigentümlichkeiten
1154 dieses Phänomens verzeichnet zu haben. Ich will noch darauf
1155 hinweisen, " daß das Namenvergessen in hohem Grade ansteckend
1156 ist. In einem Gespräche zweier Personen reicht es oft hin, daß
1157 die eine äußere, sie habe diesen oder jenen Namen vergessen,
1158 um ihn auch bei der zweiten Person entfallen zu lassen. Doch
1159 stellt sich dort, wo das Vergessen induziert ist, der vergessene
1160 Name leicht wieder ein.
1161

§ 203

Es kommt auch ein fortgesetztes Namenvergessen vor, in dem
1162

§ 204

ganze Ketten von Namen dem Gedächtnis entzogen werden. Hascht
1163 Freud, Psychopathologie des Alltagslebens. _ 3
1164

§ 205

1165

§ 206

_ 34 __
1166

§ 207

man, um einen entfallenen Namen wiederzufinden, nach anderen,
1167 mit denen jener in fester Bindung steht, so entfliehen nicht selten
1168 auch diese neuen als Anhalt aufgesuchten Namen. Das Vergessen
1169 springt so von einem Namen zum andern über, wie um die Exi-
1170stenz eines nicht leicht zu beseitigenden Hindernisses zu beweisen.
1171

§ 208

IV.
1172 Über Kindheits- und Deckerinnerungen.
1173

§ 209

In einer zweiten Abhandlung (1899 in der Monatsschrift für
1174 Psychiatrie und Neurologie veröffentlicht) habe ich die tendenziöse
1175 Natur unseres Erinnerns an unvermuteter Stelle nachweisen können.
1176 Ich bin von der auffälligen Tatsache ausgegangen, daß die frühesten
1177 Kindheitserinnerungen einer Person häufig bewahrt zu haben
1178 scheinen, was gleichgültig und nebensächlich ist, während von
1179 wichtigen, eindrucksvollen und affektreichen Eindrücken dieser
1180 Zeit (häufig, gewiß nicht allgemein!) sich im Gedächtnis der Er-
1181wachsenen keine Spur vorfindet. Da es bekannt ist, daß das
1182 Gedächtnis unter den ihm dargebotenen Eindrücken eine Auswahl
1183 trifft, stände man hier vor der Annahme, daß diese Auswahl im
1184 Kindesalter nach ganz anderen Prinzipien vor sich geht als zur
1185 Zeit der intellektuellen Reife. Eingehende Untersuchung weist
1186 aber nach, daß diese Annahme überflüssig ist. Die indifferenten
1187 Kindheitserinnerungen verdanken ihre Existenz einem Verschiebungs-
1188vorgang; sie sind der Ersatz in der Reproduktion für andere
1189 wirklich bedeutsame Eindrücke, deren Erinnerung sich durch
1190 psychische Analyse aus ihnen entwickeln läßt, deren direkte Re-
1191produktion aber durch einen Widerstand gehindert ist. Da sie
1192 ihre Erhaltung nicht dem eigenen Inhalt, sondern einer assozia-
1193tiven Beziehung ihres Inhaltes zu einem anderen, verdrängten, ver-
1194danken, haben sie auf den Namen „Deckerinnerungen “, mit welchem
1195 ich sie ausgezeichnet habe, begründeten Anspruch.
1196

§ 210

Die Mannigfaltigkeiten in den Beziehungen und Bedeutungen
1197 der Deckerinnerungen habe ich in dem erwähnten Aufsatze nur
1198 gestreift, keineswegs erschöpft. An dem dort au3führlich analy-
1199sierten Beispiel habe ich eine Besonderheit der zeitlichen Re-
1200

§ 211

[/]
1201

34man, um einen entfallenen Namen wiederzufinden, nach anderen,
1202 mit denen jener in fester Bindung steht, so entfliehen nicht selten
1203 auch diese neuen als Anhalt aufgesuchten Namen. Das Vergessen
1204 springt so von einem Namen zum andern über, wie um die Exi-
1205stenz eines nicht leicht zu beseitigenden Hindernisses zu beweisen.
1206

§ 212

IV.
1207

§ 213

Über Kindheits- und Deckerinnerungen.
1208

§ 214

In einer zweiten Abhandlung (1899 in der Monatsschrift für
1209 Psychiatrie und Neurologie veröffentlicht) habe ich die tendenziöse
1210 Natur unseres Erinnerns an unvermuteter Stelle nachweisen können.
1211 Ich bin von der auffälligen Tatsache ausgegangen, daß die frühesten
1212 Kindheitserinnerungen einer Person häufig bewahrt zu haben
1213 scheinen, was gleichgültig und nebensächlich ist, während von
1214 wichtigen, eindrucksvollen und affektreichen Eindrücken dieser
1215 Zeit (häufig, gewiß nicht allgemein!) sich im Gedächtnis der Er-
1216wachsenen keine Spur vorfindet. Da es bekannt ist, daß das
1217 Gedächtnis unter den ihm dargebotenen Eindrücken eine Auswahl
1218 trifft, stände man hier vor der Annahme, daß diese Auswahl im
1219 Kindesalter nach ganz anderen Prinzipien vor sich geht als zur
1220 Zeit der intellektuellen Reife. Eingehende Untersuchung weist
1221 aber nach, daß diese Annahme überflüssig ist. Die indifferenten
1222 Kindheitserinnerungen verdanken ihre Existenz einem Verschiebungs-
1223vorgang; sie sind der Ersatz in der Reproduktion für andere
1224 wirklich bedeutsame Eindrücke, deren Erinnerung sich durch
1225 psychische Analyse aus ihnen entwickeln läßt, deren direkte Re-
1226produktion aber durch einen Widerstand gehindert ist. Da sie
1227 ihre Erhaltung nicht dem eigenen Inhalt, sondern einer assozia-
1228tiven Beziehung ihres Inhaltes zu einem anderen, verdrängten, ver-
1229danken, haben sie auf den Namen „Deckerinnerungen“, mit welchem
1230 ich sie ausgezeichnet habe, begründeten Anspruch.
1231

§ 215

Die Mannigfaltigkeiten in den Beziehungen und Bedeutungen
1232 der Deckerinnerungen habe ich in dem erwähnten Aufsatze nur
1233 gestreift, keineswegs erschöpft. An dem dort ausführlich analy-
1234sierten Beispiel habe ich eine Besonderheit der zeitlichen Re-
1235

§ 216

__35___
1236

§ 217

lation zwischen der Deckerinnerung und dem durch sie gedeckten
1237 Inhalt besonders hervorgehoben. Der Inhalt der Deckerinnerung
1238 gehörte dort nämlich einem der ersten Kinderjahre an, während
1239 die durch sie im Gedächtnis vertretenen Gedankenerlebnisse, die
1240 fast unbewußt geblieben waren, in späte Jahre des Betreffenden
1241 fielen. Ich nannte diese Art der Verschiebung eine rückgreifende
1242 oder rückläufige. Vielleicht noch häufiger begegnet man dem
1243 entgegengesetzten Verhältnis, daß ein indifferenter Eindruck der
1244 jüngsten Zeit sich als Deckerinnerung im Gedächtnis festsetzt,
1245 der diese Auszeichnung nur der Verknüpfung mit einem früheren
1246 Erlebnis verdankt, gegen dessen direkte Reproduktion sich Wider-
1247stände erheben. Dies wären vorgreifende oder vorgeschobene
1248 Deckerinnerungen. Das Wesentliche, was das Gedächtnis be-
1249kümmert, liegt hier der Zeit nach hinter der Deckerinnerung.
1250 Endlich wird der dritte noch mögliche Fall nicht vermißt, daß die
1251 Deckerinnerung nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch
1252 Kontinguität in der Zeit mit dem von ihr gedeckten Eindruck
1253 verknüpft ist, also die gleichzeitige oder anstoßende Deck-
1254erinnerung.
1255

§ 218

Ein wie großer Teil unseres Gedächtnisschatzes in die Kategorie
1256 der Deckerinnerungen gehört, und welche Rolle bei verschiedenen
1257 neurotischen Denkvorgängen diesen zufällt, das sind Probleme,
1258 in deren Würdigung ich weder dort eingegangen bin, noch hier
1259 eintreten werde. Es kommt mir nur darauf an, die Gleichartigkeit
1260 zwischen dem Vergessen von Eigennamen mit Fehlerinnern und
1261 der Bildung der Deckerinnerungen hervorzuheben.
1262

§ 219

Auf den ersten Anblick sind die Verschiedenheiten der beiden
1263 Phänomene weit auffälliger als ihre etwaigen Analogien. Dort
1264 handelt es sich um Eigennamen, hier um komplette Eindrücke,
1265 um entweder in der Realität oder in Gedanken Erlebtes; dort um
1266 ein manifestes Versagen der Erinnerungsfunktion, hier um eine
1267 Erinnerungsleistung, die uns befremdend erscheint; dort um eine
1268 momentane Störung —— denn der eben vergessene Name kann
1269 vorher hundert Male richtig reproduziert worden sein und es von
1270 morgen an wieder werden —, hier um dauernden Besitz ohne
1271 Ausfall, denn die indifferenten Kindheitserinnerungen scheinen
1272 uns durch ein langes Stück unseres Lebens begleiten zu können.
1273 Das Rätsel scheint in diesen beiden Fällen ganz anders orientiert
1274

§ 220

3>l<
1275

§ 221

1276

§ 222

_36_
1277

§ 223

zu sein. Dort ist es das Vergessen, hier das Merken, was unsere
1278 wissenschaftliche Neugierde rege macht. Nach einiger Vertiefung
1279 merkt man, daß trotz der Verschiedenheit im psychischen Material
1280 und in der Zeitdauer der beiden Phänomene die Übereinstimmungen
1281 weit überwiegen. Es handelt sich hier wie dort um das Fehl-
1282gehen des Erinnerns; es wird nicht das vom Gedächtnis repro—
1283 duziert, was korrekterweise reproduziert werden sollte, sondern
1284 etwas anderes zum Ersatz. Dem Falle des Namenvergessens fehlt
1285 nicht die Gedächtnisleistung in der Form der Ersatznamen. Der
1286 Fall der Deckerinnerungsbildung beruht auf dem Vergessen von
1287 anderen, wesentlichen Eindrücken. In beiden Fällen gibt uns
1288 eine intellektuelle Empfindung Kunde von der Einmengung einer
1289 Störung, nur jedesmal in anderer Form. Beim Namenvergessen
1290 wissen wir, daß die Ersatznamen falsch sind; bei den Deck--
1291erinnerungen verwundern wir uns, daß wir sie überhaupt
1292 besitzen. Wenn dann die psychologische Analyse nachweist, daß
1293 die Ersatzbildung in beiden Fällen auf die nämliche Weise durch
1294 Verschiebung längs einer oberflächlichen Assoziation zustande
1295 gekommen ist, so tragen gerade die Verschiedenheiten im Material,
1296 in der Zeitdauer und in der Zentrierung der beiden Phänomene
1297 dazu bei, unsere Erwartung zu steigern, daß wir etwas Wichtiges
1298 und Allgemeingültiges aufgefunden haben. Dieses Allgemeine
1299 würde lauten, daß das Versagen und Irregehen der reproduzierenden
1300 Funktion weit häufiger, als wir vermuten, auf die Einmengung
1301 eines parteiischen Faktors, einer Tendenz hinweist, welche die
1302 eine Erinnerung begünstigt, während sie einer anderen entgegen—
1303 zuarbeiten bemüht ist.
1304

§ 224

Das Thema der Kindheitserinnerungen erscheint mir so
1305 bedeutsam und interessant, daß ich ihm noch einige Bemerkungen
1306 widmen möchte, die über die bisherigen Gesichtspunkte hinaus-
1307gehen.
1308

§ 225

Wie weit zurück in die Kindheit reichen die Erinnerungen?
1309 Es sind mir einige Untersuchungen-über diese Frage bekannt, so
1310 von V. et 0. Henri1) und Potwin2); dieselben ergeben, daß
1311 große individuelle Verschiedenheiten bei den Untersuchten bestehen,
1312

§ 226

1) Enquéte sur les premiers souvenirs de l’enfance. L’année psycho-
1313logique, III, 1897.
1314 2) Study of early memories. Psycholog. Review, 1901.
1315

§ 227

1316

§ 228

__37_
1317

§ 229

indem einzelne ihre erste Erinnerung in den sechsten Lebensmonat
1318 verlegen, andere von ihrem Leben bis zum vollendeten, sechsten,
1319 ja achten Lebensjahr nichts wissen. Aber womit hängen diese
1320 Verschiedenheiten im Verhalten der Kindheitserinnerungen zu-
1321sammen, und welche Bedeutung kommt ihnen zu? Es ist offenbar
1322 nicht ausreichend, das Material für diese Fragen durch Sammel-
1323erkundigung herbeizuschafi°en; es bedarf dann noch einer Be-
1324arbeitung desselben, an der die auskunftgebende Person beteiligt
1325 sein muß.
1326

§ 230

Ich meine, wir nehmen die Tatsache der infantilen Amnesie,
1327 des Ausfalls der Erinnerungen für die ersten Jahre unseres Lebens
1328 viel zu gleichmütig hin, und versäumen es, ein seltsames Rätsel
1329 in ihr zu finden. Wir vergessen, welch hoher intellektueller
1330 Leistungen und wie komplizierter Gefühlserregungen ein Kind von
1331 etwa vier Jahren fähig ist, und sollten uns geradezu verwundern,
1332 daß das Gedächtnis späterer Jahre von diesen seelischen Vorgängen
1333 in der Regel so wenig bewahrt hat, zumal da wir allen Grund
1334 zur Annahme haben, daß diese selben vergessenen Kindheits-
1335leistungen nicht etwa spurlos an der Entwicklung der Person ab-
1336geglitten sind, sondern einen für alle späteren Zeiten bestimmenden
1337 Einfluß ausgeübt haben. Und trotz dieser unvergleichlichen Wirk-
1338samkeit sind sie vergessen worden! Es weist dies auf ganz speziell
1339 geartete‘ Bedingungen des Erinnerns (im Sinne der bewußten
1340 Reproduktion) hin, die sich unserer Erkenntnis bisher entzogen
1341 haben. Es ist sehr wohl möglich, daß das Kindheitsvergessen uns
1342 den Schlüssel zum Verständnis jener Amnesien liefern kann, die
1343 nach unseren neueren Erkenntnissen der Bildung aller neurotischen
1344 Symptome zugrunde liegen.
1345

§ 231

Von den erhaltenen Kindheitserinnerungen erscheinen uns
1346 einige gut begreiflich, andere befremdend oder unverständlich. Es
1347 ist nicht schwer, einige Irrtümer inbetreff beider Arten zu berich-
1348tigen. Unterzieht man die erhaltenen Erinnerungen eines Menschen
1349 einer analytischen Prüfung, so kann man leicht feststellen, daß
1350 eine Gewähr für die Richtigkeit derselben nicht besteht. Einige
1351 der Erinnerungsbilder sind sicherlich gefälscht, unvollständig oder
1352 zeitlich und räumlich verschoben. Die Angaben der untersuchten
1353 Personen wie, ihre erste Erinnerung rühre etwa aus dem zweiten
1354 Lebensjahr her, sind offenbar unverläßlich. Es gelingt bald auch
1355

§ 232

1356

§ 233

——38——
1357

§ 234

Motive zu finden, welche die Entstellung und Verschiebung des
1358 Erlebten verständlich machen, aber auch beweisen, daß nicht ein-
1359fache Gedächtnisuntreue die Ursache dieser Erinnerungsfehler sein
1360 kann. Starke Mächte aus der späteren Lebenszeit haben die Er-
1361innerungsfähigkeit der Kindheitserlebnisse gemodelt, dieselben
1362 Mächte wahrscheinlich, an denen es liegt, daß wir uns allgemein
1363 dem Verständnis unserer Kindheitsjahre so weit entfremdet haben.
1364

§ 235

Das Erinnern der Erwachsenen geht bekanntlich an ver-
1365schiedenem psychischem Material vor sich. Die einen erinnern in
1366 Gesichtsbildern, ihre Erinnerungen haben visuellen Charakter;
1367 andere Individuen können kaum die dürftigsten Umrisse des Er-
1368lebten in der Erinnerung reproduzieren; man nennt solche Personen
1369 „Auditifs“ und „Moteurs“ - im Gegensatz zu den „Visuels“ nach
1370 Charcots Vorschlag. Im Träumen verschwinden diese Unter-
1371schiede, wir träumen alle in vorwiegenden Gesichtsbildern. Aber
1372 ebenso bildet sich diese Entwicklung für die Kindheitserinnerungen
1373 zurück; diese sind plastisch visuell auch bei jenen Personen, deren
1374 Späteres Erinnern des visuellen Elementes entbehren muß. Das
1375 visuelle Erinnern bewahrt somit den Typus des infantilen Er—
1376 innerns. Bei mir sind die frühesten Kindheitserinnerungen die
1377 einzigen von visuellem Charakter; es sind geradezu plastisch
1378 herausgearbeitete Szenen, nur den Darstellungen auf der Bühne
1379 vergleichbar. In diesen Szenen aus der Kindheit, ob sie sich
1380 nun als wahr oder als verfälscht erweisen, sieht man regelmäßig
1381 auch die eigene kindliche Person in ihren Umrissen und mit ihrer
1382 Kleidung. Dieser Umstand muß Befremden erregen; erwachsene
1383 Visuelle sehen nicht mehr ihre Person in ihren Erinnerungen an
1384 spätere Erlebnisse 1). Es widempricht auch allen unseren Er-
1385fahrungen anzunehmen, daß die Aufmerksamkeit des Kindes bei
1386 seinen Erlebnissen auf sich selbst anstatt ausschließlich auf die
1387 äußeren Eindrücke gerichtet wäre. Man wird so von verschiedenen
1388 Seiten her zur Vermutung gedrängt, daß wir in den sog. frühesten
1389 Kindheitserinnerungen nicht die wirkliche Erinnerungsspur, sondern
1390 eine spätere Bearbeitung derselben besitzen, eine Bearbeitung,
1391 welche die Einflüsse mannigfacher Späterer psychischer Mächte
1392 erfahren haben mag. Die „Kindheitserinnerungen“ der Individuen
1393

§ 236

1) Ich behaupte dies nach einigen von mir eingehalten Erkundigungen.
1394

§ 237

1395

§ 238

_39__
1396

§ 239

rücken so ganz allgemein zur Bedeutung von „Deckerinnerungen“
1397 vor und gewinnen dabei eine bemerkenswerte Analogie mit den
1398 in Sagen und Mythen niedergelegten Kindheitserinnerungen der
1399 Völker.
1400

§ 240

Wer eine Anzahl von Personen mit der Methode der Psycho-
1401analyse seelisch untersucht hat, hat bei dieser Arbeit reichlich
1402 Beispiele von Deckerinnerungen jeder Art gesammelt. Die Mit-
1403teilung dieser Beispiele wird aber gerade durch die vorhin er-
1404örterte Natur der Beziehungen der Kindheitserinnerungen zum
1405 späteren Leben außerordentlich erschwert; um eine Kindheits-
1406erinnerung als Deckerinnerung würdigen zu lassen, müßte man
1407 oft die ganze Lebensgeschichte der betreffenden Person zur Dar-
1408stellung bringen. Es ist nur selten, wie im nachstehenden hübschen
1409 Beispiel möglich, eine einzelne Kindheitserinnerung aus ihrem Zu—
1410 sammenhange für die Mitteilung herauszuheben.
1411

§ 241

Ein 24jähriger Mann hat folgendes Bild aus seinem fünften
1412 Lebensjahr bewahrt. Er sitzt im Garten eines Sommerhauses auf
1413 einem Stühlchen neben der Tante, die bemüht ist, ihm die Kennt-
1414nis der Buchstaben beizubringen. Die Unterscheidung von m und
1415 n bereitet ihm Schwierigkeiten, und er bittet die Tante, ihm doch
1416 zu sagen, woran man erkennt, was das eine und was das andere
1417 ist. Die Tante macht ihn aufmerksam, daß das m doch um ein
1418 ganzes Stück, um den dritten Strich mehr habe als das n. —- Es
1419 fand sich kein Anlaß, die Zuverlässigkeit dieser Kindheitserinnerung
1420 zu bestreiten; ihre Bedeutung hatte sie aber erst später erworben,
1421 als sie sich geeignet zeigte, die symbolische Vertretung für eine
1422 andere Wißbegierde des Knaben zu übernehmen. Denn, so wie
1423 er damals den Unterschied zwischen m und n wissen wollte, so
1424 bemühte er sich später, den Unterschied zwischen Knaben und
1425 Mädchen zu erfahren, und wäre gewiß einverstanden gewesen,-
1426daß geradediese Tante seine Lehrmeisterin werde. Er fand dann
1427 auch heraus, daß der Unterschied ein ähnlicher sei, daß der Bub
1428 wiederum ein ganzes Stück mehr habe als das Mädchen, und zur
1429 Zeit dieser Erkenntnis weckte er die Erinnerung an die ent—
1430 sprechende kindliche Wißbegierde. _
1431

§ 242

An einem einzigen Bei3piel möchte ich noch zeigen, welchen
1432 ' Sinn eine Kindheitserinnerung durch analytische Bearbeitung ge-
1433winnen kann, die vorher keinen Sinn zu enthalten schien. Als
1434

§ 243

1435

§ 244

__40_;_
1436

§ 245

ich in meinem 43. Jahr begann, mein Interesse den Resten der
1437 Erinnerung an die eigene Kindheit zuzuwenden, fiel mir eine Szene
1438 auf, die mir seit langem — wie ich meinte, seit jeher —— von
1439 Zeit zu Zeit zum Bewußtsein gekommen war, und die nach guten
1440 .Merkzeichen vor das vollendete dritte Lebensjahr verlegt werden
1441 durfte. Ich sah mich fordernd und heulend vor einem Kasten
1442 stehen, dessen Türe mein um 20 Jahre älterer Halbbruder geöffnet
1443 hielt, und dann trat plötzlich meine Mutter, schön und schlank,
1444 wie von der Straße zurückkehrend ins Zimmer. In diese Worte
1445 hatte ich die plastisch gesehene Szene gefaßt, mit der ich sonst
1446 nichts anzufangen wußte. Ob mein Bruder den Kasten — in der
1447 ersten Übersetzung des Bildes hieß es „Schrank“ —— öffnen oder
1448 schließen wollte, warum ich dabei weinte, und was die Ankunft
1449 der Mutter damit zu tun habe, das alles war mir dunkel; ich war
1450 versucht, mir die Erklärung zu geben, daß es sich um die Er-
1451innerung an eine Hänselei des älteren Bruders handle, die durch
1452 die Mutter unterbrochen wurde. Solche Mißverständnisse einer im
1453 Gedächtnis bewahrten Kindheitsszene sind nichts Seltenes; man
1454 erinnert sich einer Situation, aber dieselbe ist nicht zentriert, man
1455 weiß nicht, auf welches Element derselben der psychische Akzent
1456 zu setzen ist. Analytische Bemühung führte mich zu einer ganz
1457 unerwarteten Auffassung des Bildes. Ich hatte die Mutter ver-
1458mißt, war auf den Verdacht gekommen, daß sie in diesem Schrank
1459 oder Kasten eingesperrt sei, und forderte darum den Bruder auf,
1460 den Kasten aufzusperren. Als er mir willfahrte und ich mich
1461 überzeugte, die Mutter sei nicht im Kasten, fing ich zu schreien
1462 an; dies ist der von der Erinnerung festgehaltene Moment, auf
1463 den alsbald das meine Sorge oder Sehnsucht beschwichtigende
1464 Erscheinen der Mutter folgte. Wie kam aber das Kind zu der
1465 Idee, die abwesende Mutter im Kasten zu suchen? Gleichzeitige
1466 Träume wiesen dunkel auf eine Kinderfrau hin, von welcher noch
1467 andere Reminiszenzen erhalten waren, wie z. B. daß sie mich ge-
1468wissenhaft anzuhalten pflegte, ihr die kleinen Münzen abzuliefern,
1469 die ich als Geschenke. erhalten hatte, ein Detail, das selbst wieder
1470 auf den Wert einer Deckerinnerung für Späteres Anspruch machen
1471 kann. So beschloß ich denn, mir diesmal die Deutungsaufgabe
1472 zu erleichtern, und meine jetzt alte Mutter nach jener Kinderfrau
1473 zu befragen. Ich erfuhr allerlei, darunter, daß die kluge aber
1474

§ 246

1475

§ 247

__41__
1476

§ 248

unredliche Person während des Wochenbettes der Mutter große
1477 Hausdiebstähle verübt hatte und auf Betreiben meines Halbbruders
1478 dem Gerichte übergeben worden sei. Diese Auskunft gab mir das
1479 Verständnis der Kinderszene wie durch eine Art von Erleuchtung.
1480 Das plötzliche Verschwinden der Kinderfrau war mir nicht gleich-
1481gültig gewesen; ich hatte mich gerade an diesen Bruder mit der
1482 Frage gewendet, wo sie sei, wahrscheinlich, weil ich gemerkt
1483 hatte, daß ihm eine Rolle bei ihrem Verschwinden zukomme, und
1484 er hatte ausweichend und wortspielerisch, wie seine Art noch
1485 heute ist, geantwortet: sie ist „eingekastelt“. Diese Antwort ver-
1486stand ich nun nach kindlicher Weise, ließaber zu fragen ab, weil
1487 nichts mehr zu erfahren war. Als mir nun kurze Zeit darauf die
1488 . Mutter abging, ärgwöhnte ich, der schlimme Bruder habe mit ihr
1489 dasselbe angestellt wie mit der Kinderfrau und nötigte ihn, mir
1490 den Kasten zu öffnen. Ich verstehe nun auch, warum in der
1491 Übersetzung der visuellen Kinderszene die Schlankheit der Mutter
1492 betont ist, die mir als neu wiederhergestellt aufgefallen sein muß. _
1493 Ich bin 21/2 Jahre älter als die damals geborene Schwester, und
1494

§ 249

als ich drei Jahre alt wurde, fand das Zusammenleben mit dem
1495 Halbbruder ein Ende.
1496

§ 250

V.
1497 Das Versprechen.
1498

§ 251

Wenn das gebräuchliche Material unserer Rede in der Mutter-
1499sprache gegen das Vergessen geschützt erscheint, so unterliegt
1500 dessen Anwendung um so häufiger einer anderen Störung, die als
1501 „Versprechen“ bekannt ist. Das beim normalen Menschen be-
1502obachtete Versprechen macht den Eindruck der Vorstufe für die
1503 unter pathologischen Bedingungen auftretenden sogenannten „Para-
1504phasien.“
1505

§ 252

Ich befinde mich hier in der ausnahmsweisen Lage, eine Vor-
1506arbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben Meringer
1507 und 0. Mayer eine Studie über „Versprechen und Verlesen“
1508 publiziert, an deren Gesichtspunkte die meinigen nicht heran-
1509reichen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist
1510 nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur
1511

§ 253

1512

§ 254

__41__
1513

§ 255

unredliche Person während des Wochenbettes der Mutter große
1514 Hausdiebstähle verübt hatte und auf Betreiben meines Halbbruders
1515 dem Gerichte übergeben worden sei. Diese Auskunft gab mir das
1516 Verständnis der Kinderszene wie durch eine Art von Erleuchtung.
1517 Das plötzliche Verschwinden der Kinderfrau war mir nicht gleich-
1518gültig gewesen; ich hatte mich gerade an diesen Bruder mit der
1519 Frage gewendet, wo sie sei, wahrscheinlich, weil ich gemerkt
1520 hatte, daß ihm eine Rolle bei ihrem Verschwinden zukomme, und
1521 er hatte ausweichend und wortspielerisch, wie seine Art noch
1522 heute ist, geantwortet: sie ist „eingekastelt“. Diese Antwort ver-
1523stand ich nun nach kindlicher Weise, ließaber zu fragen ab, weil
1524 nichts mehr zu erfahren war. Als mir nun kurze Zeit darauf die
1525 . Mutter abging, ärgwöhnte ich, der schlimme Bruder habe mit ihr
1526 dasselbe angestellt wie mit der Kinderfrau und nötigte ihn, mir
1527 den Kasten zu öffnen. Ich verstehe nun auch, warum in der
1528 Übersetzung der visuellen Kinderszene die Schlankheit der Mutter
1529 betont ist, die mir als neu wiederhergestellt aufgefallen sein muß. _
1530 Ich bin 21/2 Jahre älter als die damals geborene Schwester, und
1531

§ 256

als ich drei Jahre alt wurde, fand das Zusammenleben mit dem
1532 Halbbruder ein Ende.
1533

§ 257

V.
1534 Das Versprechen.
1535

§ 258

Wenn das gebräuchliche Material unserer Rede in der Mutter-
1536sprache gegen das Vergessen geschützt erscheint, so unterliegt
1537 dessen Anwendung um so häufiger einer anderen Störung, die als
1538 „Versprechen“ bekannt ist. Das beim normalen Menschen be-
1539obachtete Versprechen macht den Eindruck der Vorstufe für die
1540 unter pathologischen Bedingungen auftretenden sogenannten „Para-
1541phasien.“
1542

§ 259

Ich befinde mich hier in der ausnahmsweisen Lage, eine Vor-
1543arbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben Meringer
1544 und 0. Mayer eine Studie über „Versprechen und Verlesen“
1545 publiziert, an deren Gesichtspunkte die meinigen nicht heran-
1546reichen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist
1547 nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur
1548

§ 260

1549

§ 261

_42___
1550

§ 262

Untersuchung veranlaßt worden, den Regeln nachzugehen, nach
1551 denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen Regeln auf das
1552 Vorhandensein „eines gewissen geistigen Mechanismus“ schließen
1553 zu können, „in welchem die Laute eines Wortes, eines Satzes,
1554 und auch die Worte untereinander in ganz eigentümlicher Weise
1555 verbunden und verknüpft sind“ (8. 10).
1556

§ 263

Die Autoren gruppieren die von ihnen gesammelten Beispiele
1557 des „Versprechens“ zunächst nach rein deskriptiven Gesichtspunkten
1558 als Vertauschungen (z. B. die Milo von Venus anstatt Venus
1559 von Milo), Vorklänge oder Antizipationen (z. B. es war mir
1560 auf der Schwest . . . auf der Brust so schwer), Nachklänge,
1561 Postposition en (z. B. „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres
1562 Chefs aufzustoßen“ für anzustoßen), Kontaminationen (z. B.
1563 „Er setzt sich auf den Hinterk0pf“ aus: „Er setzt sich einen K0pf
1564 auf“ und: „Er stellt sich auf die Hinterbeine“), Substitutionen
1565 (z. B. „Ich gebe die Präparate in den Briefkasten“ statt Bröt—
1566 kasten), zu welchen Hauptkategorien noch einige minder wichtige
1567 (oder für unsere Zwecke minder bedeutsame) hinzugefügt werden.
1568 Es macht bei dieser Gruppierung keinen Unterschied, ob die Um-
1569stellung, Entstellung, Verschmelzung usw. einzelne Laute des Wortes,
1570 Silben oder ganze Worte des intendierten Satzes betrifit.
1571

§ 264

Zur Erklärung der beobachteten Arten des Versprechens stellt
1572 Meringer eine verschiedene psychische Wertigkeit der Sprach-
1573laute auf. Wenn wir den ersten Laut eines Wortes, das erste
1574 Wort eines Satzes innervieren, wendet sich der Erregungsvorgang
1575 bereits den späteren Lauten, den folgenden Worten zu, und soweit
1576 diese Innervationen miteinander gleichzeitig sind, können sie ein-
1577ander abändernd beeinflussen. Die Erregung des psychisch inten-
1578siveren Lautes klingt vor oder hallt nach und stört so den minder-
1579wertigen Innervationsvorgang. Es handelt sich nun darum, zu be-
1580stimmen, welche die höchstwertigen Laute eines Wortes sind.
1581 Merin ger meint: „Wenn man wissen will, welchem Laute eines
1582 Wortes die höchste Intensität zukommt, so beobachte man sich
1583 beim Suchen nach einem vergessenen Wort, z. B. einem Namen.
1584 Was zuerst wieder ins Bewußtsein kommt, hatte jedenfalls die
1585 größte Intensität vor dem Vergessen (S. 160). Die hochwertigen
1586 Laute sind also der Anlaut der Wurzelsilbe und der Wortanlaut
1587 und der oder die betonten Vokale“ (S. 162).
1588

§ 265

1589

§ 266

__43___
1590

§ 267

Ich kann nicht umhin, hier einen Widerspruch zu erheben.
1591 Ob der Anlaut des Namens zu den höchstwertigen Elementen
1592 des Wortes gehöre oder nicht, es ist gewiß nicht richtig, daß er
1593 im Falle des Wortvergessens zuerst wieder ins Bewußtsein tritt;
1594 die obige Regel ist also unbrauchbar. Wenn man sich bei der
1595 Suche nach einem vergessenen Namen beobachtet, so wird man
1596 verhältnismäßig häufig die Überzeugung äußern müssen, er fange
1597 mit einem bestimmten Buchstaben an. Diese Überzeugung erweist
1598 sich nun ebenso oft als unbegründet wie als begründet. Ja, ich
1599 möchte behaupten, man proklamiert in der Mehrzahl der Fälle
1600 einen falschen AnlaUt. Auch in unserem Beispiel: Signorelli
1601 ist bei dem Ersatznamen der Anlaut und sind die wesentlichen
1602 Silben verloren gegangen; gerade das minderwertige Silbenpaar
1603 elli ist im Ersatznamen Botticelli dem Bewußtsein wieder-
1604gekehrt. Wie wenig die Ersatznamen den Anlaut des entfallenen
1605 Namen respektieren, mag z. B. folgender Fall lehren: Eines Tages
1606 ist es mir unmöglich, den Namen des kleinen Landes zu erinnern,
1607 dessen Hauptort Monte Carlo ist. Die Ersatznamen für ihn
1608 lauten:
1609

§ 268

Piemont, Albanien, Montevideo, Colico.
1610

§ 269

Für Albanien tritt bald Montenegro ein, und dann fällt mir auf,
1611 daß die Silbe Mont (Mon ausgesmrochen) doch allen Ersatznamen
1612 bis auf den letzten zukommt. Es wird mir so erleichtert, vom
1613 Namen des Fürsten Albert aus das vergessene Monaco aufzufinden.
1614 Colic o ahmt die Silbenfolge und Rhythmik des vergessenen Namens
1615 ungefähr nach.
1616

§ 270

Wenn man der Vermutung Raum gibt, daß ein ähnlicher Mecha-
1617nismus wie der fürs Namenvergessen nachgewiesene auch an den
1618 Erscheinungen des Versprechens Anteil haben könne, so wird man"
1619 zu einer tiefer begründeten Beurteilung der Fälle von Vers.prechen
1620 geführt. Die Störung in der Rede, welche sich als Versprechen
1621 kundgibt, kann erstens verursacht sein durch den Einfluß eines
1622 anderen Bestandteils derselben Rede, also durch das Vorklingen
1623 oder Nachhallen, oder durch eine zweite Fassung innerhalb des
1624 Satzes oder des Zusammenhanges, den auszusprechen man inten- '
1625 diert —— hierher gehören alle oben Mehringer und Meyer ent-
1626lehnten Beispiele —: zweitens aber könnte die Störung analog dem
1627 Vorgang im Falle Signorelli zustande kommen durch Einflüsse
1628

§ 271

1629

§ 272

__44__
1630

§ 273

außerhalb dieses Wortes, Satzes oder Zusammenhanges, von
1631 Elementen her, die auszusprechen man nicht intendiert, und von
1632 deren Erregung man erst durch eben die Störung Kenntnis erhält.
1633 In der Gleichzeitigkeit der Erregung läge das Gemeinsame, in der
1634 Stellung innerhalb oder außerhalb desselben Satzes oder Zasammen-
1635hanges das Unterscheidende für die beiden Entstehungsarten des
1636 Versprechens. Der Unterschied erscheint zunächst nicht so groß,
1637 als er für gewisse Folgerungen aus der Symptomat010gie des Ver-
1638sprechens in Betracht kommt. Es ist aber klar, daß man nur im
1639 ersteren Falle Aussicht hat, aus den Erscheinungen des Ver-
1640sprechens Schlüsse auf einen Mechanismus zu ziehen, der Laute
1641 und Worte zur gegenseitigen Beeinflussung ihrer Artikulation mit-
1642einander verknüpft, also Schlüsse, wie sie der Sprachiorscher aus
1643 dem Studium des Versprechens zu gewinnen hoffte. Im Falle der
1644 Störung durch Einflüsse außerhalb des nämlichen Satzes oder
1645 Bedezusammenhanges würde es sich vor allem darum handeln,
1646 die störenden Elemente kennen zu lernen, und dann entstände die
1647 Frage, ob auch der Mechanismus dieser Störung die zu vermutenden
1648 Gesetze der Sprachbildung verraten kann.
1649

§ 274

Man darf nicht behaupten, daß Meringer und Mayer die
1650 Möglichkeit der Sprechstörung durch „komplizierte psychische Ein-
1651flüsse“, durch Elemente außerhalb desselben Wortes, Satzes oder
1652 derselben Redeiolge übersehen haben. Sie mußten ja bemerken,
1653 daß die Theorie der psychischen Ungleichwertigkeit der Laute
1654 strenge genommen nur für die Aufklärung der Lautstörungen,
1655 sowie der Vor- und Nachklänge ausreicht. Wo sich die Wort-
1656störungen nicht auf Lautstörungen reduzieren lassen, z. B. bei den
1657 Substitutionen und Kontaminationen von Worten, haben auch sie
1658 unbedenklich die Ursache des Versprechens außerhalb des inten—
1659 dierten Zusammenhanges gesucht und diesen Sachverhalt durch
1660 schöne Beispiele erwiesen. Ich zitiere folgende Stellen:
1661

§ 275

(S. 62.) „Bu. erzählt von Vorgängen, die er in seinem Innern
1662 für „Schweinereien“ erklärt. Er sucht aber nach einer milden Form
1663 und beginnt: „Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein ge-
1664kommen . . .“ Mayer und ich waren anwesend und Bu. bestätigte,
1665 daß er „Schweinereien“ gedacht hatte. Daß sich dieses gedachte
1666 Wort bei „Vorscbein“ verriet und plötzlich wirksam wurde, findet
1667 in der Ähnlichkeit der Wörter seine genügende Erklärung.“ ——
1668

§ 276

1669

§ 277

___45__
1670

§ 278

(S. 73.) „Auch bei den Substitutionen spielen wie bei den
1671 Kontaminationen und in wahrscheinlich viel höherem Grade die
1672 „schwebenden“ oder „vagierenden“ Sprachbilder eine große Rolle.
1673 Sie sind, wenn auch unter der Schwelle des Bewußtseins, so doch
1674 noch in wirksamer Nähe, können leicht durch eine Ähnlichkeit
1675 des zu smechenden Komplexes herangezogen werden und führen
1676 dann eine Entgleisung herbei oder kreuzen den Zug der Wörter.
1677 Die „schwebendeu“ oder „vagierenden “ Sprachbilder sind, wie
1678 gesagt, oft die Nachzügler von kürzlich abgelaufenen Sprach-
1679prozessen (Nachklänge).“
1680

§ 279

(s. 97.) „Eine Entgleisung ist auch durch Ähnlichkeit möglich,
1681 wenn ein anderes ähnliches Wort nahe unter der Bewußtseins-
1682_schwelle liegt, ohne daß es gesprochen zu werden bestimmt
1683 wäre. Das ist der Fall bei den Substitutionen. -——— So hoffe ich,
1684 daß man beim Nachprüfen meine Regeln wird bestätigen müssen.
1685 Aber dazu ist notwendig, daß man (wenn ein anderer Spricht)
1686 sich Klarheit darüber verschafft, an was Alles der
1687 Sprecher gedacht hat?) Hier ein lehrreicher Fall. Klassen-
1688direktor Li. sagte in unserer Gesellschaft: „Die Frau würde mir
1689 Furcht einlagen“. Ich wurde stutzig, denn das 1 schien mir un—
1690 erklärlich. Ich glaube mir, den Sprecher auf seinen Fehler „ein-
1691lagen“ für „einjagen“ aufmerksam zu machen, worauf er sofort
1692 antwortete: „Ja, das kommt daher, weil ich dachte: ich wäre nicht
1693 in der Lage usw.
1694

§ 280

„Ein anderer Fall. Ich frage B. v. Schid„ wie es seinem
1695 kranken Pferd gehe. Er antwortete: „Ja, das draut . . dauert
1696 vielleicht noch einen Monat. „Das „draut“ mit seinem r war
1697 mir unverständlich, denn das r von dauert konnte unmöglich so
1698 gewirkt haben. Ich machte also B. v. S. aufmerksam, worauf er
1699 erklärte, er habe gedacht, „das ist eine traurige Geschichte.“
1700 Der Sprecher hatte also zwei Antworten im Sinne und diese ver-
1701mengten sich.“
1702

§ 281

Es ist wohl unverkennbar, wie nahe die Rücksichtnahme auf
1703 die „vagierenden“ Sprachbilder, die unter der Schwelle des Bewußt-
1704seins stehen und nicht zum Gesprochenwerden bestimmt sind, und
1705 die Forderung, sich zu erkundigen, an was der Sprecher alles
1706

§ 282

1) Von mir hervorgehoben.
1707

§ 283

1708

§ 284

—46—
1709

§ 285

gedacht habe, an die Verhältnisse bei unseren „Analysen“ heran-
1710kommen. Auch wir suchen unbewußtes Material, und zwar auf
1711 dem nämlichen Wege, nur daß wir von den Einfällen des Befragten
1712 bis zur Auffindung des störenden Elementes einen längeren Weg
1713 durch eine komplexe Assoziationsreihe zurückzulegen haben.
1714

§ 286

Ich weile noch bei einem anderen interessanten Verhalten,
1715 für das die Beispiele Meringers Zeugnis ablegen. Nach de1
1716 Einsicht des Autors selbst ist es irgendeine Ähnlichkeit eines Wortes
1717 im intendierten Satz mit einem anderen nicht intendierten, welche
1718 dem letzteren gestattet, sich durch die Verursachung einer Ent-
1719stellung, Mischbildung, Kompromißbildung (Kontamination) im Be-
1720wußtsein zur Geltung zu bringen.
1721

§ 287

lagen, dauert, Vorschein.
1722 jagen, traurig, .. . schwein.
1723

§ 288

Nun habe ich in meiner Schrift über die „Traumdeutung“ 1)
1724 dargetan, welchen Anteil die Verdichtungsarbeit an der Ent-
1725stehung des sog. manifesten Trauminhaltes aus den latenten Traum—
1726 gedanken hat. Irgendeine Ähnlichkeit der Dinge oder der Wort-
1727vorstellungen Zwischen zwei Elementen des unbewußten Materials
1728 wird da zum Anlaß genommen, um ein Drittes, eine Misch- oder
1729 Kompromißvorstellung zu schaffen, welche im Trauminhalt ihre
1730 beiden Komponenten vertritt, und die infolge dieses Ursprungs so
1731 häufig mit widersprechenden Einzelbestimmungen ausgestattet ist.
1732 Die Bildung von Substitutionen und Kontaminationen beim Ver-
1733sprechen ist somit ein Beginn jener Verdichtungsarbeit, die wir in
1734 eifrigster Tätigkeit am Aufbau des Traumes beteiligt finden.
1735

§ 289

In eine-m kleinen für weitere Kreise bestimmten Aufsatz (Neue
1736 freie Presse vom 23. Aug. 1900: „Wie man sich versprechen kann“)
1737 hat Meringer eine besondere praktische Bedeutung für gewisse
1738 Fälle von Wortvertauschungen in AnSpruch genommen, für solche
1739 nämlich, in denen man ein Wort durch sein Gegenteil dem Sinne
1740 nach ersetzt. „Man erinnert sich wohl noch der Art, wie vor
1741 einiger Zeit der Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses
1742 die Sitzung eröffnete: „Hohes Haus! Ich konstatiere die An-
1743wesenheit von so und soviel Herren und erkläre somit die Sitzung
1744 für geschlossen!“ Die allgemeine Heiterkeit machte ihn erst
1745

§ 290

1) Die Traumdeutung. Leipzig und Wien, 1900, 3. Aufl. 1911.
1746

§ 291

1747

§ 292

_47_
1748

§ 293

aufmerksam, und er verbesserte den Fehler. Im vorliegenden
1749 Falle wird die Erklärung wohl diese sein, daß der Präsident sich
1750 wünschte, er wäre schon in der Lage, die Sitzung, von der
1751 wenig Gutes zu erwarten stand, zu schließen, aber ---— eine häufige
1752 Erscheinung —— der Nebengedanke setzte sich wenigstens teilweise
1753 durch, und das Resultat war „geschlossen“ für „eröflnet“, also
1754 das Gegenteil dessen, was zu sprechen beabsichtigt war. Aber
1755 vielfältige Beobachtung hat mich belehrt, daß man gegensätzliche
1756 Worte überhaupt sehr häufig mit einander vertauscht; sie sind eben
1757 schon in unserem Sprachbewußtsein assoziiert, liegen hart neben-
1758einander und werden leicht irrtümlich aufgerufen.“
1759

§ 294

Nicht in allen Fällen von Gegensatzvertauschung wird es so
1760 leicht, wie hier im Beispiel des Präsidenten, wahrscheinlich zu
1761 machen, daß das Versprechen infolge eines Widerspruchs geschieht,
1762 der sich im Innern des Bedners gegen den geäußerten Satz erhebt.
1763 Wir haben den analogen Mechanismus in der Analyse des Beispiels:
1764 aliquis gefunden; dort äußerte sich der innere Widerspruch im
1765 Vergessen eines Wortes anstatt in seiner Ersetzung durch das Gegen-
1766teil. Wir wollen aber zur Ausgleichung des Unterschiedes be-
1767merken, daß das Wörtchen aliquis eines ähnlichen Gegensatzes,
1768 wie ihn „schließen“ und „eröffnen“ ergibt, eigentlich nicht fähig
1769 ist, und daß „eröffnen“ als gebräuchlicher Bestandteil des Rede-
1770schatzes dem Vergessen nicht unterworfen sein kann.
1771

§ 295

Zeigen uns die letzten Beispiele von Mering er und Mayer,
1772 daß die Sprechstörung ebensowohl durch den Einfluß vor- und
1773 nachklingender Laute und Worte desselben Satzes entstehen kann,
1774 die zum AusgeSprochenwerden bestimmt sind, wie durch die Ein-
1775wirkung von Worten außerhalb des intendierten Satzes, deren
1776 Erregung sich sonst nicht verraten hätte, so werden wir
1777 zunächst erfahren wollen, ob man die beiden Klassen von Ver-
1778sprechen scharf sondern, und wie man ein Beispiel der einen von
1779 einem Fall der anderen Klasse unterscheiden kann. An dieser
1780 Stelle der Erörterung muß man aber der Äußerungen Wundts
1781 gedenken, der in seiner eben erscheinenden umfassenden Bearbeitung
1782 der Entwicklungsgesetze der Sprache (Völkerpsychologie, 1. Band,
1783 I. Teil S. 371 u. ff., 1900) auch die Erscheinungen des Ver-
1784sprechens behandelt. Was bei diesen Erscheinungen und anderen,
1785 ihnen verwandten, niemals fehlt, das sind nach Wun dt gewisse
1786 psychische Einflüsse. „Dahin gehört zunächst als positive Be-
1787

§ 296

1788

§ 297

—-48——
1789

§ 298

dingung der ungehemmte Fluß der von den gesprochenen Lauten
1790 angeregten Laut- und Wortassoziationen. Ihm tritt der
1791 Wegfall oder der Nachlaß der diesen Lauf hemmenden Wirkungen
1792 des Willens und der auch hier als Willensfunktion sich betätigenden
1793 Aufmerksamkeit als negatives Moment zur Seite. Ob jenes Spiel
1794 der Assoziation darin sich äußert, daß ein kommender Laut anti-
1795zipiert oder die vorausgegangenen reproduziert, oder ein gewohn-
1796heitsmäßig eingeübter zwischen andere eingeschaltet wird, oder
1797 endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen
1798 Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken ——
1799 alles dies bezeichnet nur Unterschiede in der Richtung und allen-
1800falls in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen, nicht in
1801 der allgemeinen Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen
1802 zweifelhaft sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zu-
1803zurechnen, oder ob man sie nicht mit größerem Rechte nach dem
1804 Prinzip der Komplikation der Urs achenl) auf ein Zusammen—
1805 treffen mehrerer Motive zurückzuführen habe“ (S. 380 und 381).
1806

§ 299

Ich halte diese Bemerkungen Wundts für vollberechtigt und
1807 sehr instruktiv. Vielleicht könnte man mit größerer Entschieden-
1808heit als Wundt betonen, daß das positiv begünstigende Moment
1809

§ 300

der Sprechfehler —— der ungehemmte Fluß der Assoziationen _
1810 und das negative —-—— der Nachlaß der hemmenden Aufmerksam—
1811 keit —— regelmäßig miteinander zur Wirkung gelangen, so daß
1812

§ 301

beide Momente nur zu verschiedenen Bestimmungen des nämlichen
1813 Vorganges werden. Mit dem Nachlaß der hemmenden Aufmerk-
1814samkeit tritt eben der ungehemmte Fluß der Assoziationen in
1815 Tätigkeit; noch unzweifelhafter ausgedrückt: durch diesen
1816 Nachlaß.
1817

§ 302

Unter den Beispielen von Versprechen, die ich selbst ge-
1818sammelt, finde ich kaum eines, bei dem ich die Sprechstörung
1819 einzig und allein auf das, was Wun dt „Kontaktwirkung der
1820 Laute“ nennt, zurückführen müßte. Fast regelmäßig entdecke ich
1821 überdies einen störenden Einfluß von etwas außerhalb der in-
1822tendierten Rede, und das Störende ist entweder ein einzelner,
1823 unbewußt gebliebener Gedanke, der sich durch das Versprechen
1824 kundgibt und oft erst durch eingehende Analyse zum Bewußtsein
1825

§ 303

1) Von mir hervorgehoben.
1826

§ 304

1827

§ 305

__49__
1828

§ 306

gefördert werden kann, oder es ist ein allgemeineres psychisches
1829 Motiv, welches sich gegen die ganze Rede richtet.
1830

§ 307

Beispiel a): Ich will gegen meine Tochter, die beim Einbeißen
1831 in einen Apfel ein garstiges Gesicht geschnitten hat, zitieren:
1832

§ 308

Der Affe gar possierlich ist,
1833 Zumal wenn er vom Apfel frißt.
1834

§ 309

Ich beginne aber: Der Apfe . . . Dies scheint eine Kontamination
1835 von „Alle“ und „Apfel“ (Kompromißbildung) oder kann auch
1836 als Antizipation des vorbereiteten „Apfel“ aufgefaßt werden. Der
1837 genauere Sachverhalt ist aber der: Ich hatte das Zitat schon ein-
1838mal begonnen und mich das erstemal dabei nicht versprochen.
1839 Ich versprach mich erst bei der Wiederholung, die sich als not-
1840wendig ergab, weil die Angesprochene, von anderer Seite mit
1841 Beschlag belegt, nicht zuhörte. Diese Wiederholung, die mit ihr
1842 verbundene Ungeduld, des Satzes ledig zu werden, muß ich in
1843 die Motivierung des Sprechfehlers, der sich als eine Verdichtungs-
1844leistung darstellt, mit einrechnen.
1845

§ 310

b) Meine Tochter sagt: Ich schreibe der Frau Schresinger . ..
1846 Die Frau heißt Schlesinger. Dieser Sprechfehler hängt wohl mit
1847 einer Tendenz zur Erleichterung der Artikulation zusammen, denn
1848 das 1 ist nach wiederholtem r schwer auszusprechen. Ich muß
1849 aber hinzufügen, daß sich dieses Versprechen bei meiner Tochter
1850 ereignete, nachdem ich ihr wenige Minuten zuvor „Apie“ anstatt
1851 „Affe“ vorgesagt hatte. Nun ist das Versmechen in hohem Maße
1852 ansteckend, ähnlich wie das Namenvergessen, bei dem M eringer
1853 und Mayer diese Eigentümlichkeit bemerkt haben. Einen Grund
1854 für diese psychische Kontagiosität weiß ich nicht anzugeben.
1855

§ 311

o) „Ich klappe zusammen wie ein T a s s e n m e s c h e r —
1856 Taschenmesser“, sagt eine Patientin zu Beginn der Behandlungs-
1857stunde, die Laute vertauschend, wobei ihr wieder die Artikulations-
1858schwierigkeit („Wiener Weib er Wäscherinnen waschen weiße Wäsche“
1859 ——- „Fischflosse“ und ähnliche Prüfworte) zur Entschuldigung dienen
1860 kann. Auf den Sprechlehler aufmerksam gemacht, erwidert sie
1861 prompt: „Ja, das ist nur, weil Sie heute „Ernscht“ gesagt haben.“
1862 Ich hatte sie wirklich mit der Rede empfangen: „Heute wird es
1863 also Ernst“ (weil es die letzte Stunde vor dem Urlaub werden
1864

§ 312

sollte) und hatte das „Ernst“ scherzhaft zu „Ernscht“ verbreitert.
1865 Freud, Psychopathologie des Alltagslebens. 4
1866

§ 313

1867

§ 314

__50__
1868

§ 315

Im Laufe der Stunde verspricht sie sich immer wieder von
1869 neuem, und ich merke endlich, daß sie mich nicht bloß imitiert,
1870 sondern daß sie einen besonderen Grund hat, im Unbewußten bei
1871 dem Worte Ernst als Namen zu verweilen 1).
1872

§ 316

d) „Ich bin so verschnupft, ich kann nicht durch die Ase
1873 natmen—Nase atmen“ passiert derselben Patientin ein anderes
1874 Mal. Sie weiß sofort, wie sie zu diesem Sprechfehler kommt.
1875 „Ich steige jeden Tag in der Hasenauergasse in die Tramway,
1876 und heute früh ist mir während des Wartens auf den Wagen
1877 eingefallen, wenn ich eine Französin wäre, würde ich Asenauer
1878 aussprechen, denn die Franzosen lassen das H im Anlaut immer
1879 weg.“ Sie bringt dann eine Reihe von Reminiszenzen an
1880 Franzosen, die sie kennen gelernt hat, und langt nach weitläufigen
1881 Umwegen bei der Erinnerung an, daß sie als 14jähriges Mädchen
1882 in dem kleinen Stück „Kurmärker und Picarde“ die Picarde ge-
1883Spielt und damals gebrochen Deutsch gesprochen hat. Die Zu-
1884fälligkeit, daß in ihrem Logierhaus ein Gast aus Paris angekommen
1885 ist, hat die ganze Reihe von Erinnerungen wachgerufen. Die
1886 Lautvertauschung ist also Folge der Störung durch einen un-
1887bewußten Gedanken aus einem ganz fremden Zusammenhang.
1888

§ 317

e) Ähnlich ist der Mechanismus des VerSprechens bei einer
1889 anderen Patientin, die mitten in der Reproduktion einer längst
1890 verschollenen Kindererinnerung von ihrem Gedächtnis verlassen
1891 wird. An welche Körperstelle die vorwitzige und lüsterne Hand
1892 des anderen gegrifien hat, will ihr das Gedächtnis nicht mitteilen.
1893 Sie macht unmittelbar darauf einen Besuch bei einer Freundin
1894 und unterhält sich mit ihr über Sommerwohnungen. Gefragt, wo
1895 denn ihr Häuschen in M. gelegen sei, antwortet sie: an der Berg-
1896lende anstatt Berglehne.
1897

§ 318

f) Eine andere Patientin, die ich nach Abbruch der Stunde
1898

§ 319

1) Sie stand nämlich, wie sich zeigte, unter dem Einfluß von un-
1899bewußten Gedanken über Schwangerschaft und Kinderverhütung. Mit den
1900 Worten: „zusammengeklappt wie ein Taschenmesser“, welche sie bewußt
1901 als Klage vorbrachte, wollte sie die Haltung des Kindes im Mutterleibe be—
1902 schreiben. Das Wort „Ernst“ in meiner Anrede hatte sie an den Namen
1903 (S. Ernst) der bekannten Wiener Firma in der Kärthnerstraße gemahnt,
1904 welche sich als Verkaufsstätte von Schutzmitteln gegen die Konzeption zu
1905 annoncieren pflegt.
1906

§ 320

1907

§ 321

___51_
1908

§ 322

frage, wie es ihrem Onkel geht, antwortet: „Ich weiß nicht, ich
1909 sehe ihn jetzt nur in flagranti“. Am nächsten Tage beginnt
1910 sie: „Ich habe mich recht geschämt, Ihnen eine so dumme Antwort
1911 gegeben zu haben. Sie müssen mich natürlich für eine ganz un-
1912gebildete Person halten, die beständig Fremdwörter verwechselt.
1913 Ich wollte sagen: en passant.“ Wir wußten damals noch nicht,
1914 woher sie die unrichtig angewendeten Fremdworte genommen
1915 hatte. In derselben Sitzung aber brachte sie als Fortsetzung des
1916 vortägigen Themas eine Reminiszenz, in welcher das Ertappt-
1917werden in flagranti die Hauptrolle spielte. Der Sprechfehler
1918 am Tage vorher hatte also die damals noch nicht bewußt ge-
1919wordene Erinnerung antizipiert.
1920

§ 323

g) Gegen eine Andere muß ich an einer gewissen Stelle der
1921 Analyse die Vermutung aussprechen, daß sie sich zu der Zeit,
1922 von welcher wir eben handeln, ihrer Familie geschämt und ihrem
1923 Vater einen uns noch unbekannten Vorwurf gemacht habe. Sie
1924 erinnert sich nicht daran, erklärt es übrigens für unwahrscheinlich.
1925 Sie setzt aber das Gespräch mit Bemerkungen über ihre Familie
1926 fort: „Man muß ihnen das eine lassen: Es sind doch besondere
1927 Menschen, sie haben alle Geiz —— ich wollte sagen Geist.“ Das
1928 war auch denn wirklich der Vorwurf, den sie aus ihrem Ge-
1929dächtnis verdrängt hatte. Daß sich in dem Versprechen gerade
1930 jene Idee durchdrängt, die man zurückhalten will, ist ein häufiges
1931 Vorkommnis (vgl. den Fall von Meringer: zum Vorschwein ge—
1932 kommen). Der Unterschied liegt nur darin, daß die Person bei
1933 Meringer etwas zurückhalten will, was ihr bewußt ist, während
1934 meine Patientin das Zurückgehaltene nicht weiß, oder wie man
1935 auch sagen kann, nicht weiß, daß sie etwas, und was sie zurückhält.
1936

§ 324

b) „Wenn Sie Teppiche kaufen Wollen, so gehen Sie nur zu
1937 Kaufmann in der Mathäusgasse. Ich glaube, ich kann Sie dort
1938 auch empfehlen, sagt mir eine Dame. Ich wiederhole: „Also bei
1939 Mathäus bei Kaufmann will ich sagen.“ Es sieht aus
1940 wie Folge von Zerstreutheit, wenn ich den einen Namen an Stelle
1941 des anderen wiederhole. Die Rede der Dame hat mich auch
1942 wirklich zerstreut gemacht, denn sie hat meine Aufmerksamkeit
1943 auf anderes gelenkt, was mir weit wichtiger ist als Teppiche
1944 In der Mathäusgasse steht nämlich das Haus, in dem meine Frau
1945 als Braut gewohnt hatte. Der Eingang des Hauses war in einer
1946

§ 325

4>l<
1947

§ 326

1948

§ 327

_.52__
1949

§ 328

anderen Gasse, nnd nun merke ich, daß ich deren Namen ver-
1950gessen habe und ihn mir erst auf einem Umweg bewußt machen
1951 muß. Der Name Mathäus, bei dem ich verweile, ist mir also ein
1952 Ersatzname für den vergessenen Namen der Straße. Er eignet
1953 sich besser dazu als der Name Kaufmann, denn Mathäus ist aus—
1954 schließlich ein Personenname, was Kaufmann nicht ist, und die ver-
1955gessene Straße heißt auch nach einem Personennamen: Radetzky.
1956

§ 329

i) Folgenden Fall könnte ich ebensogut bei den später zu
1957 besprechenden „Irrtümern“ unterbringen, führe ihn aber hier an,
1958 weil die Lautbeziehungen, auf Grund deren die Wortersetzung
1959 erfolgt, ganz besonders deutlich sind. Eine Patientin erzählt mir
1960 ihren Traum: Ein Kind hat beschlossen, sich durch einen Schlangen-
1961biß zu töten. Es führt den Beschluß aus. Sie sieht zu, wie es
1962 sich in Krämpfen windet usw. Sie soll nun die Tagesanknüpfung
1963 für diesen Traum finden. Sie erinnert sofort, daß sie gestern
1964 abend eine p0puläre Vorlesung über erste Hilfe bei Schlangen-
1965bissen mit angehört hat. Wenn ein Erwachsener und ein Kind
1966 gleichzeitig gebissen worden sind, so soll man zuerst die Wunde
1967 des Kindes behandeln. Sie erinnert auch, welche Vorschriften für
1968 die Behandlung der Vortragende gegeben hat. Es käme sehr viel
1969 darauf an, hatte er auch geäußert, von welcher Art man gebissen
1970 werden ist. Hier unterbreche ich sie und frage: Hat er denn
1971 nicht gesagt, daß wir nur sehr wenige giftige Arten in unserer
1972 Gegend haben, und welche die gefürchteten sind? „Ja, er hat
1973 die Klapperschlange hervorgehoben.“ Mein Lachen macht sie
1974 dann aufmerksam, daß sie etwas Unrichtiges gesagt hat. Sie
1975 korrigiert jetzt aber nicht etwa den Namen, sondern sie nimmt
1976 ihre Aussage zurück. „Ja so, die kommt ja bei uns nicht vor
1977 er hat von der Viper geSprochen. Wie gerate ich nur auf die
1978 Klapperschlange?“ Ich vermutete, durch die Einmengung der
1979 Gedanken, die sich hinter ihrem Traum verborgen hatten. Der
1980 Selbstmord durch Schlangenbiß kann kaum etwas anderes sein,
1981 als eine Anspielung auf die schöne Kleopatra. Die weitgehende
1982 Lautähnlichkeit der beiden Worte, die Übereinstimmung in den
1983 Buchstaben Kl..p..r in der nämlichen Reihenfolge und in dem
1984 betonten ä sind nicht zu verkennen. Die gute Beziehung zwischen
1985 den Namen Klapperschlange und Kleopatra erzeugt bei ihr
1986 eine momentane Einschränkung des Urteils, derzufolge sie an der
1987

§ 330

1988

§ 331

___53__
1989

§ 332

Behauptung, der Vortragende habe sein Publikum in Wien in der
1990 -Behandlung von Klapperschlangenbissen unterwiesen, keinen An-
1991stoß nimmt. Sie weiß sonst so gut wie ich, daß die3e Schlange
1992 nicht zur Fauna unserer Heimat gehört. Wir wollen es ihr nicht
1993 verübeln, daß sie an die Versetzung der Klapperschlange nach
1994 Ägypten ebensowenig Bedenken knüpfte, denn wir sind gewöhnt,
1995 alles Außereur0pätische, Exotische zusammenzuwerfen, und ich selbst
1996 mußte mich einen Moment besinnen, ehe ich die Behauptung auf-
1997stellte, daß die Klapperschlange nur der neuen Welt angehört.
1998

§ 333

Weitere Bestätigungen ergeben sich bei Fortsetzung der Analyse.
1999 Die Träumerin hat gestern zum erstenmal die in der Nähe ihrer
2000 Wohnung aufgestellte Antoniusgruppe von Straßer besichtigt.
2001 Dies war also der zweite Traumanlaß (der erste der Vortrag über
2002 Schlangenbisse). In der Fortsetzung ihres Traumes wiegte sie ein
2003 Kind in ihren Armen, zu welcher Szene ihr das Gretchen einfüllt.
2004 Weitere Einfälle bringen Reminiszenzen an „Arria und. Messa-
2005lina“. Das Auftauchen so vieler Namen von Theaterstücken in
2006 den Traumgedanken läßt bereits vermuten, daß bei der Träumerin
2007 in früheren Jahren eine geheim gehaltene Schwärmerei für den
2008 Beruf der Schauspielerin bestand. Der Anfang des Traumes:
2009 „Ein Kind hat beschlossen, seinLeben durch einen Schlangenbiß
2010 zu enden“, bedeutet wirklich nichts anderes als: Sie hat sich als
2011 Kind vorgenommen, einst eine berühmte Schauspielerin zu werden.
2012 Von dem Namen Messalina zweigt endlich der Gedankenweg
2013 ab, der zu dem wesentlichen Inhalt dieses Traumes führt. Gewisse
2014 Vorfälle der letzten Zeit haben in ihr die Besorgnis erweckt, daß
2015 ihr einziger Bruder eine nicht standesgemäße Ehe mit einer Nicht-
2016Arierin, eine Mésalliance eingehen könnte.
2017

§ 334

k) Ein völlig harmloses oder Vielleicht uns nicht genügend
2018 in seinen Motiven aufgeklärtes Beispiel will ich hier wiedergeben,
2019 weil es einen durchsichtigen Mechanismus erkennen läßt:
2020

§ 335

Ein in Italien reisender Deutscher bedarf eines Riemens, um
2021 seinen schadhaft gewordenen Koffer zu umschnüren. Das Wörter-
2022buch liefert ihm für Riemen das italienische Wort correggia.
2023 Dieses Wort werde ich mir leicht merken, meint er, indem ich
2024 an den Maler (Correggio) denke. Er geht dann in einen Laden
2025 und verlangt: una ribera.
2026

§ 336

Es war ihm anscheinend nicht gelungen, das deutsche Wort
2027

§ 337

2028

§ 338

__54_
2029

§ 339

in seinem Gedächtnis durch das italienische zu ersetzen, aber seine
2030 Bemühung war doch nicht gänzlich ohne Erfolg geblieben. Er
2031 wußte, daß er sich an den Namen eines Malers halten müsse, und
2032 so geriet er nicht auf jenen Malernamen, der an das italienische
2033 Wort anklingt, sondern an einen andern, der sich dem deutschen
2034 Worte Riemen annähert. Ich hätte dieses Beispiel natürlich
2035 ebensowohl beim Namenvergessen wie hier beim Versprechen unter—
2036 bringen können.
2037

§ 340

Als ich Erfahrungen von Versprechen für die erste Auflage
2038 dieser Schrift sammelte, ging ich so vor, daß ich alle Fälle, die
2039 ich beobachten konnte, darunter also auch die minder eindrucks-
2040vollen, der Analyse unterzog. Seither haben manche andere sich
2041 der amüsanten Mühe, Versprechen zu sammeln und zu analysieren,
2042 unterzogen und mich so in den Stand gesetzt, Auswahl aus einem
2043 reicheren Material zu schöpfen.
2044

§ 341

I) Ein junger Mann sagt zu seiner Schwester: Mit den D. bin
2045 ich jetzt ganz zerfallen, ich grüße sie nicht mehr. Sie antwortet:
2046 Überhaupt eine saubere Lippschait. Sie wollte sagen: Sipp—
2047 schaft, aber sie drängte noch zweierlei in dem Sprechirrtum zu-
2048sammen, daß ihr Bruder einst selbst mit der Tochter dieser
2049 Familie einen Flirt begonnen hatte, und daß es von dieser hieß,
2050 sie habe sich in letzter Zeit in eine ernsthafte unerlaubte Lieb-
2051schaft eingelassen.
2052

§ 342

m) Ein junger Mann spricht eine Dame auf der Straße mit den
2053 Worten an: „Wenn Sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich Sie
2054 begleit-digen.“ Er dachte offenbar, er möchte sie gerne be-
2055gleiten, fürchtete aber, sie mit dem Antrag zu beleidigen. Daß
2056 diese beiden einander widerstreitenden Gefühlsregungen in einem
2057 Worte ——-—- eben dem Versprechen —— Ausdruck fanden, weist darauf
2058 hin, daß die eigentlichen Absichten des jungen Mannes jedenfalls
2059 nicht die lautersten waren und ihm dieser Dame gegenüber selbst
2060 beleidigend erscheinen mußten. Während er aber gerade dies vor
2061 ihr zu verbergen sucht, spielt ihm das Unbewußte den Streich,
2062 seine eigentliche Absicht zu verraten, wodurch er aber anderseits
2063 der Dame gleichsam die konventionelle Antwort: „Ja, was glauben
2064 Sie denn von mir, wie können Sie mich denn so beleidigen“
2065 vorwegnimmt. (Mitgeteilt von O. Rank.)
2066

§ 343

n) Eine Anzahl von Beispielen entnehme ich einem Aufsatze
2067

§ 344

2068

§ 345

_55__
2069

§ 346

v0n W. Stekel aus dem „Berliner Tageblatt“ vom 4. Januar 1904,
2070

§ 347

betitelt „Unbewußte Geständnisse“.
2071 „Ein unangenehmes Stück meiner unbewußten Gedanken ent-
2072

§ 348

hüllt das folgende Beispiel. Ich schicke voraus, daß ich in meiner
2073 Eigenschaft als Arzt niemals auf meinen Erwerb bedacht bin und
2074 immer nur das Interesse des Kranken im Auge habe, was ja eine
2075 selbstverständliche Sache ist. Ich befinde mich bei einer Kranken,
2076 der ich nach schwerer Krankheit in einem Rekonvaleszenten-
2077stadium meinen ärztlichen Beistand leiste. Wir haben schwere
2078 Tage und Nächte mitgemacht. Ich bin glücklich, sie besser zu
2079 finden, male ihr die Wonnen eines Aufenthaltes in Abbazzia aus
2080 und gebrauche dabei den Nachsatz: „wenn Sie, was ich hofie,
2081 das Bett bald nicht verlassen werden —“. Offenbar entsprang
2082 das einem egoistischen Motive des Unbewußten, diese wohlhabende
2083 Kranke noch länger behandeln zu dürfen, einem Wunsche, der
2084 meinem wachen Bewußtsein vollkommen fremd ist, und den ich
2085 mit Entrüstung zurückweisen würde.“
2086

§ 349

0) Ein anderes Beispiel (W. Stekel). „Meine Frau nimmt
2087 eine Französin für die Nachmittage auf und. will, nachdem
2088 man sich über die Bedingungen geeinigt hatte, ihre Zeugnisse
2089 zurückbehalten. Die Französin bittet, sie behalten zu dürfen, mit
2090 der Motivierung: Je cherche encore pour les aprés-midis, pardon,
2091 pour les avant—midis. Offenbar hatte sie die Absicht, sich noch
2092 anderweitig umzusehen und vielleicht bessere Bedingungen zu er-
2093halten -—— eine Absicht, die sie auch ausgeführt hat.“ '
2094

§ 350

p) „Ich soll einer Frau die Leviten lesen, und. ihr Mann, auf
2095 dessen Bitte das geschieht, steht lauschend hinter der Türe. Am
2096 Ende meiner Predigt, die einen sichtlichen Eindruck gemacht
2097 hatte, sagte ich: „Küß die Hand, gnädiger Herr!“ Dem Kundigen
2098 hatte ich damit verraten, daß die Worte an die Adresse des Herrn
2099 gerichtet waren, daß ich sie um seinetwillen gesprochen hatte.“
2100

§ 351

q) Dr. Stekel berichtet von sich selbst, daß er zu einer Zeit
2101 zwei Patienten aus Triest in Behandlung gehabt habe, die er
2102 immer verkehrt zu begrüßen pflegte. „Guten Morgen, Herr Peloni,“
2103 sagte ich zu Askoli —-— „Guten Morgen, Herr Askoli,“ zu Peloni.
2104 Er war anfangs geneigt, dieser Verwechslung keine tiefere Moti-
2105vierung zuzuschreiben, sondern sie durch die mehrfachen Gemein-
2106samkeiten der beiden Herren zu erklären. Er ließ sich aber
2107

§ 352

2108

§ 353

—56——
2109

§ 354

leicht überzeugen, daß die Namenvertauschung hier einer Art
2110 Prahlerei ent3prach, indem er durch sie jeden seiner italienischen
2111 Patienten wissen lassen konnte, er sei nicht der einzige Triestiner,
2112 der nach Wien gekommen sei, um seinen ärztlichen Rat zu
2113 suchen. '
2114

§ 355

r) Dr. Stekel selbst in einer stürmischen Generalversamm—
2115 lung: Wir streiten (schreiten) nun zu Punkt 4 der Tagesordnung.
2116

§ 356

s) Ein Professor in seiner Antrittsvorlesung: „Ich bin nicht
2117 geneigt (geeignet), die Verdienste meines sehr geschätzten Vor-
2118gängers zu schildern.“
2119

§ 357

t) Dr. Stekel zu einer Dame, bei welcher er Basedowsche
2120 Krankheit vermutet: „Sie sind um einen Kropf (K0pf) größer als
2121 Ihre Schwester.“
2122

§ 358

u) Dr. Stekel berichtet: Jemand will das Verhältnis zweier
2123 Freunde schildern, von denen einer als Jude charakterisiert werden
2124 soll. Er sagt: Sie lebten zusammen wie Kastor und Pollak.
2125 Das war durchaus kein Witz, der Redner hatte das Versprechen
2126 selbst nicht bemerkt und wurde erst von mir darauf aufmerksam
2127 gemacht.
2128

§ 359

v) Gelegentlich ersetzt ein Versprechen eine ausführliche
2129 Charakteristik. Eine junge Dame, die das Regiment im Hause
2130 führt, erzählt von ihrem leidenden Manne, er sei beim Arzt ge-
2131wesen, um ihn nach der ihm zuträglichen Diät zu befragen. Der
2132 Arzt habe aber gesagt, darauf käme es nicht an. „Er kann essen
2133 und trinken, was ich will.“
2134

§ 360

w) Auf ein ganz besonders schönes und lehrreiches Beispiel
2135 von Versprechen möchte ich nicht verzichten, obwohl es sich nach
2136 Angabe meines Gewährsmannes vor etwa 20 Jahren zugetragen
2137 hat. Eine Dame äußerte einmal in einer Gesellschaft — man
2138 hört es den Worten an, daß sie im Eifer und unter dem Drucke
2139 allerlei geheimer Regungen zustande gekommen sind: Ja, eine
2140 Frau muß schön sein, wenn sie den Männern gefallen soll. Da
2141 hat es ein Mann viel besser; wenn er nur seine fünf geraden
2142 Glieder hat, mehr braucht er nicht! Dieses Beispiel gestattet uns
2143 einen guten Einblick in den intimen Mechanismus eines Ver-
2144sprechens durch Verdichtung oder einer Kontamination (vgl.
2145 S. 37). Es liegt nahe anzunehmen, daß hier zwei sinnähnliche
2146 Redeweisen verschmolzen sind:
2147

§ 361

2148

§ 362

___.57__
2149

§ 363

wenn er seine vier geraden Glieder hat
2150 wenn er seine fünf Sinne beisammen hat.
2151 Oder aber das Element gerade ist das Gemeinsame zweier Rede-
2152intentionen gewesen, die gelautet haben:
2153 wenn er nur seine geraden Glieder hat
2154 alle fünf gerade sein lassen.
2155 Es hindert uns auch nichts anzunehmen, daß beide Redensarten,
2156 die von den fünf Sinnen und die von den geraden fünf mitgewirkt
2157 haben, um in den Satz von den geraden Gliedern zunächst eine
2158 Zahl und dann die geheimsinnige fünf anstatt der simpeln vier
2159 einzuführen. Diese Verschmelzung wäre aber gewiß nicht erfolgt,
2160 wenn sie nicht in der als VerSprechen resultierenden Form einen
2161 eigenen guten Sinn hätte, den einer zynischen Wahrheit, wie sie
2162 von einer Frau allerdings nicht ohne Bemälntelung bekannt werden
2163 darf. ——-- Endlich wollen wir nicht versäumen aufmerksam zu
2164 machen, daß die Rede der Dame ihrem Wortlaut nach ebensowohl
2165 einen vortreiflichen Witz wie ein lustiges Versprechen bedeuten
2166 kann. Es hängt nur davon ab, ob sie diese Worte mit bewußter
2167 Absicht oder —— mit unbewußter Absicht gesprochen hat. Das
2168 Benehmen der Rednerin in unserem Falle widerlegte allerdings
2169 die bewußte Absicht und schloß den Witz aus.
2170 X) Der Materialähnlichkeit wegen reihe ich hier einen anderen
2171 Fall von Versprechen an, dessen Deutung weniger Kunst erfordert.
2172 „Der Professor bemüht sich in der Anatomie um die Erklärung
2173 der Nasenhöhle, eines bekanntlich sehr schwierigen Abschnittes
2174 der Eingeweidelehre. Auf seine Frage, ob die Hörer seine Aus-—
2175 führungen erfaßt hätten, wird ein allgemeines „Ja“ vernehmlich.
2176 Darauf bemerkt der bekannt selbstbewußte Professor: „Ich glaube
2177 kaum, denn die Leute, welche die Nasenhöhle verstehen, kann
2178 man selbst in einer Millionenstadt wie Wien an einem Finger,
2179 pardon, an den Fingern einer Hand wollte ich sagen, abzählen.“
2180 y) Derselbe Anatom ein anderes Mal: „Beim weiblichen Genitale
2181 hat man trotz vieler Versuchungen —-— pardon, Versuche...“
2182 z) Herrn Dr. Alf. Robitsek in Wien verdanke ich den Hinweis
2183 auf zwei von einem altfranzösischen Autor bemerkte Fälle von
2184 Versprechen, die ich unübersetzt wiedergeben werde.
2185 Brantöme (1527—1614) Vies des Dames galantes. Discours
2186 second: „Si ay—je cogneu une trés belle et honneste dame de par
2187

§ 364

2188

§ 365

—58-
2189

§ 366

le monde, qui, devisant avec un honneste gentilhomme de la cour
2190 des affaires de la guerre durant ces civiles, elle luy dit: „J’ay
2191 ouy dire que le roy a faiet rompre tous les c . .. de ce pays 1a.
2192 Elle vouloit dire le ponts. Pensez que, venant de coucher
2193 d’avec son mary, ou songeant a son amant, elle avoit encor ce
2194 nom frais en la bouche; et le gentilhomme s’en eschaufl’er en
2195 amours d’elle pour ce mot.“
2196

§ 367

„Une autre dame que j’ai cogneue, entretenant une autre
2197 grand dame plus qu’elle, et luy louant et exaltant ses beautez,
2198 elle luy dit aprés: „Non, madame, ce que je vous en dis, ce
2199 n’est point pour vous adultérer; voulant dire adulater, comme
2200 elle le rhabilla ainsi: pensez qu’elle songeoit a adultérer.“
2201

§ 368

Bei dem psychotherapeutischen Verfahren, dessen ich mich
2202 zur Auflösung und Beseitigung neurotischer Symptome bediene,
2203 ist sehr häufig die Aufgabe gestellt, aus den wie zufällig vor-
2204gebrachten Reden und Einfällen des Patienten einen Gedanken-
2205inhalt aufzuspüren, der zwar sich zu verbergen bemüht ist, aber
2206 doch nicht umhin kann, sich in mannigfaltigster Weise unabsichtlich
2207 zu verraten. Dabei leistet oft das Versprechen die wertvollsten
2208 Dienste, wie ich an den überzeugendsten und anderseits sonder-
2209barsten Beispielen dartun könnte. Die Patienten sprechen z. B.
2210 von ihrer Tante und nennen sie konsequent, ohne das Versprechen
2211 zu merken, „meine Mutter“, oder bezeichnen ihren Mann als ihren
2212 „Bruder“. Sie machen mich auf diese Weise aufmerksam, daß
2213 sie diese Personen miteinander „identifiziert“, in eine Reihe ge-
2214bracht haben, welche für ihr Gefühlsleben die Wiederkehr
2215 desselben Typus bedeutet. Oder: ein junger Mann von 20 Jahren
2216 stellt sich mir in der Sprechstunde mit den Worten vor: Ich bin
2217 der Vater des N. N., den sie behandelt haben. —-—- Pardon, ich
2218 will sagen, der Bruder; er ist ja um vier Jahre älter als ich.
2219 Ich verstehe, daß er durch dieses Versprechen ausdrücken will,
2220 daß er wie der Bruder durch die Schuld des Vaters erkrankt
2221 sei, wie der Bruder Heilung verlange, daß aber der Vater der-
2222jenige ist, dem die Heilung am dringlichsten wäre. Andere Male
2223 reicht eine ungewöhnlich klingende Wortfügung, eine gezwungen
2224 erscheinende Ausdrucksweise hin, um den Anteil eines verdrängten
2225 Gedankens an der anders motivierten Rede des Patienten auf—
2226

§ 369

zudecken.
2227

§ 370

2228

§ 371

In groben wie in solchen feineren Redestörungen, die sich
2229 eben noch dem „Versprechen“ subsumieren lassen, finde ich also
2230 nicht den Einfluß von Kontaktwirkungen der Laute, sondern den
2231 von Gedanken außerhalb der Redeintention maßgebend für die
2232 Entstehung des Versprechens und hinreichend zur Aufhellung des
2233 zustande gekommenen Sprechfehlers. Die Gesetze, nach denen
2234 die Laute verändernd aufeinander einwirken, möchte ich nicht an-
2235zweifeln; sie scheinen mir aber nicht wirksam genug, um für
2236 sich allein die korrekte Ausführung der Rede zu stören. In den
2237 Fällen, die ich genauer studiert und durchschaut habe, stellen sie
2238 bloß den vorgebildeten Mechanismus dar, dessen sich ein ferner
2239 gelegenes psychisches Motiv bequemerweise bedient, ohne sich
2240 aber an den Machtbereich dieser Beziehungen zu binden. In
2241 einer großen Reihe von Substitutionen wird beim Ver-
2242sprechen von solchen Lautgesetzen völlig abgesehen.
2243 Ich befinde mich hierbei in voller Übereinstimmung mit Wundt,
2244 der gleichfalls die Bedingungen des Versprechens als zusammen-
2245gesetzte und weit über die Kontaktwirkungen der Laute hinaus-
2246gehende vermutet. ' '
2247

§ 372

Wenn ich diese „entfernteren psychischen Einflüsse“ nach
2248 Wundts Ausdruck für gesichert halte, so weiß ich andererseits
2249 von keiner Abhaltung, um auch zuzugeben, daß bei beschleunigter
2250 Rede und einigermaßen abgelenkter Aufmerksamkeit die Be-
2251dingungen fürs Versprechen sich leicht auf das von Meringer
2252 und Mayer bestimmte Maß einschränken können. Bei einem
2253 Teil der von diesen Autoren gesammelten Beispiele ist wohl eine
2254 kompliziertere Auflösung wahrscheinlicher. Ich greife etwa den
2255 vorhin angeführten Fall heraus:
2256

§ 373

Es war mir auf der Schwest . ..
2257 ' Brust so schwer.
2258

§ 374

Geht es hier wohl so einfach zu, daß das schwe das gleich-
2259wertige Bru als Vorklang verdrängt? Es ist kaum abzuweisen,
2260 daß die Laute schwe außerdem durch eine besondere Relation
2261 zu dieser Vordringlichkeit befähigt werden. Diese könnte dann
2262 keine andere sein als die Assoziation: Schwester —— Bruder,
2263 etwa noch: Brust der Schwester, die zu anderen Gedanken—
2264 kreisen hinüberleitet. Dieser hinter der Szene unsichtbare Helfer
2265

§ 375

2266

§ 376

— 60 -—-
2267

§ 377

verleiht dem sonst harmlosen schwe die Macht, deren Erfolg
2268 sich als Sprechfehler äußert.
2269

§ 378

Fiir anderes Versprechen läßt sich annehmen, daß der An-
2270klang an obszöne Worte und Bedeutungen das eigentlich Störende
2271 ist. Die absichtliche Entstellung und Verzerrung der Worte und
2272 Redensarten, die bei unartigen Menschen so beliebt ist, bezweckt
2273 nichts anderes, als beim harmlosen Anlaß an das Verpönte zu
2274 mahnen, und diese Spielerei ist so häufig, daß es nicht wunderbar
2275 wäre, wenn sie sich auch unabsichtlich und wider Willen durch-
2276setzen sollte. Beispiele wie: Eischeißweibchen für Eiweiß-
2277scheibchen, Ap0pos Fritz für Apropos, Lokuskapitäl für
2278 Lotuskapitäl usw. vielleicht noch die Alabüsterbachse (Alabaster-
2279büchse) der hl. Magdalena gehören wohl in diese Kategorie 1). —
2280 „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen“,
2281 ist kaum etwas anderes als eine unabsichtliche Parodie als Nach-
2282klang einer beabsichtigten. Wenn ich der Chef wäre, zu dessen
2283 Feierlichkeit der Festredner diesen Lapsus beigetragen hätte,
2284 würde ich wohl daran denken, wie klug die Römer gehandelt
2285 haben, als sie den Soldaten des triumphierenden Imperators ge-
2286statteten, den inneren Einspruch gegen den Gefeierten in Spott-
2287liedern laut zu äußern. — Meringer erzählt von sich selbst, daß
2288 er zu einer Person, die als die älteste der Gesellschaft mit dem
2289 vertraulichen Ehrennamen „Senexl“ oder „altes Senexl“ an-
2290gesprochen wurde, einmal gesagt habe: „Prost Senex altesll“ Er
2291 erschrak selbst über diesen Fehler (S. 50). Wir können uns
2292 vielleicht seinen Affekt deuten, wenn wir daran mahnen, wie nahe
2293 „Altesl“ an den Schimpf „alter Esel“ kommt. Auf die Ver-
2294letzung der Ehrfurcht vor dem Alter (d. i., auf die Kindheit
2295 reduziert, vor dem Vater) sind große innere Strafen gesetzt.
2296

§ 379

Ich hoffe, die Leser werden den Wertunterschied dieser
2297 Deutungen, die sich durch nichts beweisen lassen, und der
2298 Beispiele, die ich selbst gesammelt und durch Analysen erläutert
2299 habe, nicht vernachlässigen. Wenn ich aber im stillen immer
2300 noch an der Erwartung festhalte, auch die scheinbar einfachen
2301 Fälle von Versprechen würden sich auf Störung durch eine halb
2302

§ 380

1) Bei einer meiner Patientinnen setzte sich das Versprechen als
2303 Symptom so lange fort, bis es auf den Kinderstreich, das Wort ruinieren
2304 durch urinieren zu ersetzen, zurückgeführt war,
2305

§ 381

2306

§ 382

__51__
2307

§ 383

unterdrückte Idee außerhalb des intendierten Zusammenhanges
2308 zurückführen lassen, so verlockt mich dazu eine sehr beachtens-
2309werte Bemerkung von Meringer. Dieser Autor sagt, es ist
2310 merkwürdig, daß niemand sich versprochen haben will. Es gibt
2311 sehr gescheite und ehrliche Menschen, welche beleidigt sind,
2312 wenn man ihnen sagt, sie hätten sich versprochen. Ich getraue
2313 mich nicht, diese Behauptung so allgemein zu nehmen, wie sie
2314 durch das „niemand“ von Meringer hingestellt wird. Die Spur
2315 Affekt aber, die am Nachweis des Versprechens hängt und oflenbar
2316 von der Natur des Schämens ist, hat ihre Bedeutung. Sie ist
2317 gleichzusetzen dem Ärger, wenn wir“ einen vergessenen Namen
2318 nicht erinnern, und der Verwunderung über die Haltbarkeit einer
2319 scheinbar belanglosen Erinnerung und weist allemal auf die Be-
2320teiligung eines Motivs am Zustandekommen der Störung hin.
2321 Das Verdrehen von Namen entspricht einer Schmähung,
2322 wenn es absichtlich geschieht, und dürfte in einer ganzen Reihe
2323 von Fällen, wo es als unabsichtliches Versprechen auftritt, dieselbe
2324 Bedeutung haben. Jene Person, die nach Mayers Bericht einmal
2325 „Freuder“ sagte anstatt Freud, weil sie kurz darauf den
2326 Namen „Breuer“ vorbrachte (S. 38), ein andermal von einer
2327 Freuer-Breudschen Methode (8. 28) sprach, war wohl ein
2328 Fachgenosse und von dieser Methode nicht sonderlich entzückt.
2329 Einen gewiß nicht anders aufzuklärenden Fall von Namens-
2330entstellung werde ich weiter unten beim Verschreiben mitteilen 1).
2331

§ 384

1) Man kann auch bemerken, daß gerade Aristokraten besonders häufig
2332 die Namen von Ärzten, die sie konsultiert haben, entstehen und darf daraus
2333 schließen, daß sie dieselben innerlich gering schätzen, trotz der Höflichkeit,
2334 mit welcher sie ihnen zu begegnen pflegen. —— Ich zitiere hier einige treffende
2335 Bemerkungen über das Namenvergessen aus der englischen Bearbeitung
2336 unseres Themas durch Prof E. Jones in Toronto (The Psych0pathology
2337 of Everyday Life in American J. of Psychology Oct. 1911):
2338

§ 385

„Wenige Leute können sich einer Anwandlung von Ärger erwehren,
2339 wenn sie finden ,daß man ihren Namen vergessen hat, besonders dann, wenn
2340 sie von der betrefienden Person gehofft oder erwartet hatten, sie würde den
2341 Namen behalten haben. Sie sagen sich sofort ohne Überlegung, daß die
2342 Person den Namen nicht vergessen hätte, wenn man einen stärkeren Eindruck
2343 bei ihr hinterlassen hätte; denn der Name ist ein wesentlicher Bestandteil
2344 der Persönlichkeit. Anderseits gibt es Wenig Dinge, die schmeichelhafter
2345 empfunden werden, als wenn man von einer hohen Persönlichkeit, wo man
2346 es nicht erwartet hätte, mit seinem Namen angeredet wird. Napoleon, ein
2347

§ 386

2348

§ 387

In diesen Fällen mengt sich als störendes Moment eine
2349 Kritik ein, welche beiseite gelassen werden soll, weil sie ge-
2350rade in dem Zeitpunkte der Intention des Redners nicht entspricht.
2351

§ 388

Umgekehrt muß die N amensersetzung, die Aneignung des
2352 fremden Namens, die Identifizierung mittels des Namenversprechens
2353 eine Anerkennung bedeuten, die im Augenblicke aus irgend-
2354welchen Gründen im Hintergrunde verbleiben soll. Ein Erlebnis
2355 dieser Art erzählt Dr. Ferenczi aus seinen Schuljahren:
2356

§ 389

„In der ersten Gymnasialklasse habe ich (zum ersten Male
2357 in meinem Leben) öffentlich (d. h. vor der ganzen Klasse) ein
2358 Gedicht rezitieren müssen. Ich war gut vorbereitet und war be-
2359stürzt, gleich beim Beginn durch eine Lachsalve gestört zu werden.
2360 Der Professor erklärte mir dann diesen sonderbaren Empfang:
2361 ich sagte nämlich den Titel des Gedichtes „Aus der Ferne“ ganz
2362 richtig, nannte aber als Autor nicht den wirklichen Dichter,
2363 sondern —-—— mich selber. Der Name des Dichters ist Alexander
2364 (Sändor) Petöfi. Die Gleichheit des Vornamens mit meinem
2365 ache
2366

§ 390

’fl‘iig T%äilf
2367 Meister in der Kunst, Men30hen zu behandeln, gab während des unglücklichen
2368

§ 391

Feldzuges von 1814 eine erstaunliche Probe seines Gedächtnisses nach dieser
2369 Richtung. Als er sich in einer Stadt bei Craonne befand, erinnerte er sich,
2370 daß er deren Bürgermeiser De Bussy etwa zwanzig Jahre vorher in einem
2371 bestimmten Regiment kennen gelernt hatte; die Folge war, daß der entzückte
2372 De Bussy sich seinem Dienst mit schrankenloser Hingebung widmete. Dem-
2373entsprechend gibt es auch kein verläßlicheres Mittel, einen Menschen zu be-
2374leidigen, als indem man so tut, als habe man seinen Namen vergessen; man
2375 drückt damit aus, die Person sei einem so gleichgültig, daß man sich nicht
2376 die Mühe zu nehmen brauche, sich ihren Namen zu merken. Dieser Kunst-
2377griff spielt auch in der Literatur eine gewisse Rolle. So heißt es in Turgenj ews
2378 „Rauch“ einmal: „Sie finden Baden noch immer amüsant, Herr —— Litvinov?“
2379 Ratmirov pflegte Litvinovs Namen immer zögernd auszu3prechen, als ob er
2380 sich erst auf ihn besinnen müßte. Dadurch, wie durch die hochmütige Art,
2381 wie er seinen Hut beim Gruß lüftete, wollte er Litvinov in seinem Stolze
2382 kränken.“ An einer anderen Stelle in „Väter und Söhne“ schreibt der
2383 Dichter: „Der Gouverneur lud Kirsanov und Bazarov zum Balle ein und
2384 wiederholte diese Einladung einige Minuten später, wobei er sie als Brüder
2385 zu betrachten schien und Kisarov ansprach.“ Hier ergibt das Vergessen
2386 der früheren Einladung, die Irrung in den Namen und die Unfähigkeit, die
2387 beiden jungen Männer auseinander zu halten, geradezu eine Häufung von
2388 kränkenden Momenten. Namensentstellung hat dieselbe Bedeutung wie
2389 Namenvergessen, es ist ein erster Schritt gegen das Vergessen hin.“
2390

§ 392

2391

§ 393

—63——
2392

§ 394

desselben aber war sicherlich die, daß ich mich damals in meinen
2393 geheimen Wünschen mit dem gefeierten Dichterhelden identifizierte.
2394 Ich hegte für ihn auch bewußt eine an Anbetung grenzende Liebe
2395 und Hochachtung. Natürlich steckt auch der ganze leidige
2396

§ 395

Ambitionskomplex hinter dieser Fehlleistung.“
2397 Eine ähnliche Identifizierung mittels des vertauschten Namens
2398

§ 396

wurde mir von einem jungen Arzt berichtet, der sich zaghaft und
2399 verehrungsvoll dem berühmten Virchow mit den Worten vor-
2400stellte: Dr. Virchow. Der Professor wendete sich erstaunt zu
2401 ihm und fragte: Ah, heißen Sie auch Virchow? Ich weiß nicht,
2402 wie der junge Ehrgeizige das Versprechen rechtfertigte, ob er die
2403 anmutende Ausrede fand,— er sei sich so klein neben dem großen
2404 Namen vorgekommen, daß ihm sein eigener entschwinden mußte,
2405 oder ob er den Mut hatte, zu gestehen, er hoffe auch noch einmal
2406 ein so großer Mann wie Virchow zu werden, der Herr Geheim-
2407rat möge ihn darum nicht so geringschätzig behandeln. Einer
2408 dieser beiden Gedanken —-— oder vielleicht gleichzeitig beide -———
2409 mag den jungen Mann bei seiner Vorstellung in Verwirrung ge-
2410bracht haben.
2411

§ 397

Aus höchst persönlichen Motiven muß ich es in der Schwebe
2412 lassen, ob eine ähnliche Deutung auch auf den nun anzuführenden
2413 Fall anwendbar ist. Auf dem internationalen Kongreß in Amsterdam
2414 1907 war die von mir vertretene Hysterielehre Gegenstand einer
2415 lebhaften Diskussion. Einer meiner energischsten Gegner soll sich
2416 in seiner Brandrede gegen mich wiederholt in der Weise ver-
2417sprochen haben, daß er sich an meine Stelle setzte und in meinem
2418 Namen sprach. Er sagte z.B.: Breuer und ich haben bekannt-
2419lich nachgewiesen, während er nur zu sagen beabsichtigen konnte:
2420 Breuer und Freud. 'Der Name dieses Gegners zeigt nicht die
2421 leiseste Klangähnlichkeit mit dem meinigen. Wir werden durch
2422 dieses Beispiel wie durch viele andere Fälle von Namensver-
2423tauschung beim Versmechen daran gemahnt, daß das Versprechen
2424 jener Erleichterung, die ihm der Gleichklang gewährt, völlig ent—
2425 behren und sich, nur auf verdeckte inhaltliche Beziehungen gestützt,
2426

§ 398

durchsetzen kann.
2427

§ 399

In anderen und weit bedeutsameren Fällen ist es Selbstkritik,
2428 innerer Widerspruch gegen die eigene Äußerung, was zum Ver-
2429sprechen, ja zum Ersatz des Intendierten durch seinen Gegensatz
2430

§ 400

2431

§ 401

—64—-
2432

§ 402

nötigt. Man merkt dann mit Erstaunen, wie der Wortlaut einer
2433 Beteuerung die Absicht derselben aufhebt, und wie der Sprach-
2434fehler die innere Unaufrichtigkeit bloßgelegt hat 1). Das Ver-
2435sprechen wird hier zu einem mimischen Ausdrucksmittel, freilich
2436 oftmals für den Ausdruck dessen, was man nicht sagen wollte,
2437 zu einem Mittel des Selbstverrats. 80 z. B. wenn ein Mann, der
2438 in seinen Beziehungen zum Weihe den sog. normalen Verkehr
2439 nicht bevorzugt, in ein Gespräch über ein für kokett erklärtes
2440 Mädchen mit den Worten einfälltz- Im Umgang mit mir würde sie
2441 sich das Koettieren schon abgewöhnen. Kein Zweifel, daß
2442 es nur das andere Wort koitieren sein kann, dessen Ein-
2443wirkung auf das intendierte kokettieren solche Abänderung zuzu-
2444schreiben ist.
2445

§ 403

Die zufällige Gunst des Sprechmaterials läßt oft Beispiele von
2446 Versprechen entstehen, denen die geradezu niederschmetternde
2447 Wirkung einer Enthüllung oder der volle komische Effekt eines
2448 Witzes zukommt.
2449

§ 404

So in nachstehendem von Dr. Reitler beobachteten und mit-
2450geteilten Fall:
2451

§ 405

„Diesen neuen, reizenden Hut haben Sie wohl sich selbst
2452 aufgepatzt? sagte eine Dame in bewunderndem Tone zu einer
2453 anderen.“ ‘
2454

§ 406

„Die Fortsetzung des beabsichtigten Lobes mußte nunmehr
2455 unterbleiben; denn die im stillen geübte Kritik, der Hutaufputz
2456 sei eine „Patzerei“, hatte sich denn doch viel zu deutlich in dem
2457 unliebsamen Versprechen geäußert, als daß irgendwelche Phrasen
2458 konventioneller Bewunderung noch glaubwürdig erschienen wären.“
2459

§ 407

Oder wie in einem von Dr. Ferenczi mitgeteilten Falle:
2460

§ 408

„Kommen Sie geschminkt (anstatt geschwind), sagte
2461 eine meiner Patientinnen zu ihrer deutsch sprechenden Schwieger-
2462mutter. Sie verriet durch diesen Lapsus, was sie gerade vor ihr
2463 verheimlichen wollte: den Unwillen über die Gefallsucht der alten
2464 Frau.“
2465

§ 409

Es kommt gar nicht so selten vor, daß jemand, der in einer
2466 anderen als seiner Muttersprache redet, sein Ungeschick zu den
2467 sinnvollsten Versprechungen in der ihm fremden Sprache verwendet.
2468

§ 410

1) Durch solches Versprechen brandmarkt z. B. Anzengruber im
2469 „G'Wissenswurm“ den heuchlerischen Erbschleicher.
2470

§ 411

2471

§ 412

——65—
2472

§ 413

Oder in folgendem von Dr. Max Graf erlebten Beispiele:
2473

§ 414

„In der Generalversammlung des Journalistenvereins „Con-
2474cordia“ hält ein junges, stets geldbedürftiges Mitglied eine heftige
2475 Oppositionsrede und sagt in seiner Erregung: „Die Herren Vor-
2476schußmitglieder“ (anstatt Vorstands- oder Ausschußmitglieder).
2477 Dieselben haben das Recht, Darlehen zu bewilligen, und auch der
2478 junge Redner hat ein Darlehensgesuch eingebracht.“
2479

§ 415

Das nachstehende Beispiel zeigt einen ernsthaften Fall von
2480 Selbstverrat durch Versprechen. Einige Nebenumstände berechtigen
2481 seine vollständige Wiedergabe aus der Mitteilung von A. A. Brill
2482 im Zentralblatt für Psychoanalyse 11. Jahrg. 11):
2483

§ 416

„Eines Abends gingen Dr. Frink und ich spazieren und be-
2484sprachen einige Angelegenheiten der New Yorker Psychoana-
2485lytischen Gesellschaft. Wir begegneten einem Kollegen, Herrn
2486 Dr. B., den ich seit Jahren nicht gesehen hatte, und von dessen
2487 Privatleben ich nichts wußte. — Wir freuten uns sehr, uns wieder
2488 zu treffen, und gingen auf meine Aufforderung in ein Kaffeehaus,
2489 wo wir uns zwei Stunden lang angeregt unterhielten. Er schien
2490 von mir Näheres zu wissen, denn nach der gewöhnlichen Be-
2491grüßung erkundigte er sich nach meinem kleinen Kinde und erklärte
2492 mir, daß er von Zeit zu Zeit über mich von einem gemeinsamen
2493 Freunde höre und sich für meine Tätigkeit interessiere, nachdem
2494 er darüber in den medizinischen Zeitschriften gelesen hatte. ——
2495 Auf meine Frage, ob er verheiratet sei, gab er eine verneinende
2496 Auskunft und fügte hinzu: „Wozu soll ein Mensch wie ich heiraten?“
2497

§ 417

Beim Verlassen des Kaffeehauses wandte er sich plötzlich an
2498 mich: „Ich möchte wissen, was Sie in folgendem Falle tun würden:
2499 Ich kenne eine Krankenpflegerin, die als Mitschuldige in einen
2500 Ehescheidungsprozeß verwickelt war. Die Ehefrau klagte ihren
2501 Mann auf Scheidung und bezeichnete die Pfiegerin als Mitschuldige
2502 und er bekam die Scheidung?) “ — Ich unterbrach ihn: „Sie
2503 wollen sagen, sie bekam die Scheidung.“ — Er verbesserte sofort:
2504 „Natürlich, sie bekam die Scheidung“ und erzählte weiter, daß
2505 die Pflegerin sich derart über den Prozeß und Skandal aufgeregt
2506

§ 418

1) Im Zentr. f. Psych. irrtümlicherweise E. Jones zugeschrieben.
2507

§ 419

2) Nach unseren Gesetzen wird die Ehescheidung nur ausgesprochen,
2508 wenn bewiesen wird, daß der eine Teil die Ehe gebrochen hat, und zwar wird
2509 die Scheidung nur dem betrogenen Teile bewilligt.
2510

§ 420

F r e u d , Psychopathologie des Alltagslebens. 5
2511

§ 421

2512

§ 422

——66—
2513

§ 423

habe, daß sie zu trinken begann, schwer nervös wurde usw., und
2514 fragte mich um meinen Rat, wie er sie behandeln solle.
2515

§ 424

Sobald ich den Fehler korrigiert hatte, bat ich ihn, ihn zu er-
2516klären, aber ich bekam die gewöhnlichen erstaunten Antworten: ob
2517 es nicht eines jeden Menschen gutes Recht sei, sich zu versprechen,
2518 daß das nur ein Zufall sei, nichts dahinter zu suchen sei usw.
2519 Ich erwiderte, daß jedes Fehlsprechen begründet sein müsse, und
2520 daß ich versucht wäre zu glauben, daß er selbst der Held der
2521 Geschichte sei, wenn er mir nicht früher mitgeteilt hätte, daß er
2522 unvermählt sei, denn dann wäre das Versprechen durch den
2523 Wunsch erklärt, seine Frau und nicht er hätte den Prozeß ver-
2524lieren sollen, damit er nicht (nach unserem Eherecht) Alimente zu
2525 zahlen brauche und in der Stadt New York wieder heiraten könne.
2526 Er lehnte meine Vermutung hartnäckig ab, bestärkte sie aber
2527 gleichzeitig durch eine übertriebene Affektreaktion, deutliche Zeichen
2528 von Erregung und danach Gelächter. Auf meinen Appell, die
2529 Wahrheit im Interesse der wissenschaftlichen Klarstellung zu sagen,
2530 bekam ich die Antwort: „Wenn Sie nicht eine Lüge hören wollen,
2531 müssen Sie an mein Junggesellentum glauben, und daher ist Ihre
2532 psychoanalytische Erklärung durchaus falsch.“ — Er fügte noch
2533 hinzu, daß solch ein Mensch, der jede Kleinigkeit beachte, direkt
2534 gefährlich sei. Plötzlich fiel ihm ein anderes Rendezvous ein, und
2535 er verabschiedete sich.
2536

§ 425

Wir beide, Dr. Frink und ich, waren dennoch von meiner
2537 Auflösung seines Versmechens überzeugt, und ich beschloß, durch
2538 Erkundigung den Beweis oder Gegenbeweis zu erhalten. — Einige
2539 Tage Später besuchte ich einen Nachbar, einen alten Freund des
2540 Dr. R., der mir vollinhaltlich meine Erklärung bestätigen konnte.
2541 Der Prozeß hatte vor wenigen Wochen stattgefunden, und die
2542 Pflegerin war als Mitschuldige vorgeladen worden. — Dr. R. ist
2543 jetzt von der Richtigkeit der Freudschen Mechanismen fest über-
2544zeugt.“
2545

§ 426

Der Selbstverrat ist ebenso unzweifelhaft in folgendem von
2546 O. Rank mitgeteilten Falle: „
2547

§ 427

Ein Vater, der keinerlei patriotisches Gefühl besitzt und seine
2548 Kinder auch von diesem ihm überflüssig erscheinenden Empfinden
2549 frei erziehen will, tadelt seine Söhne wegen ihrer Teilnahme an
2550 einer patriotischen Kundgebung und weist ihre Berufung auf das
2551

§ 428

2552

§ 429

—67—
2553

§ 430

gleiche Verhalten des Onkels mit den Worten zurück: „Gerade
2554 “dem sollt ihr nicht nacheifern; der ist ja ein Idiot.“ Das über
2555 diesen ungewohnten Ton des Vaters erstaunte Gesicht der Kinder
2556 macht ihn aufmerksam, daß er sich versprochen habe, und ent-
2557schuldigend bemerkt er: Ich wollte natürlich sagen Patriot.
2558

§ 431

Erheiternd wirkt das Versprechen, wenn es als Mittel benützt
2559 wird, um . während eines Widerspruches zu bestätigen, was dem
2560 Arzte in der psychoanalytischen Arbeit sehr willkommen sein mag.
2561 Bei einem meiner Patienten hatte ich einst einen Traum zu deuten,
2562 in welchem der Name J auner vorkam. Der Träumer kannte eine
2563 Person dieses Namens, es ließ sich aber nicht finden, weshalb
2564 diese Person in den Zusammenhang des Traumes aufgenommen
2565 war, und darum wagte ich die Vermutung, es könne bloß wegen
2566 des Namens, der an den Schimpf Gauner anklinge, geschehen
2567 Sein. Der Patient widersprach rasch und energisch, versprach
2568 sich aber dabei und bestätigte meine Vermutung, indem er sich
2569 der Ersetzung ein zweites Mal bediente. Seine Antwort lautete:
2570 Das erscheint mir doch zu jewagt. Als ich ihn auf das Ver-
2571sprechen aufmerksam maehte, gab er meiner Deutung nach.
2572

§ 432

Wenn im ernsthaften Wortstreit ein solches Ver3prechen,
2573 welches die Redeabsicht in ihr Gegenteil verkehrt, sich dem einen
2574 der beiden Streiter ereignet, so setzt es ihn sofort in Nachteil gegen
2575 den anderen, der es selten versäumt, sich seiner verbesserten
2576 Position zu bedienen.
2577

§ 433

Es wird dabei klar, daß die Menschen ganz allgemein dem
2578 Versprechen wie anderen Fehlleistungen dieselbe Deutung geben,
2579 wie ich sie in diesem Buche vertrete, auch wenn sie sich in der
2580 Theorie nicht für diese Auffassung einsetzen, und wenn sie für
2581 ihre eigene Person nicht geneigt sind, auf die mit der Duldung
2582 der Fehlhandlungen verbundene Bequemlichkeit zu verzichten.
2583 Die Heiterkeit und der Hohn, die solches Fehlgehen der Rede im
2584 entscheidenden Moment mit Gewißheit hervorrufen, zeugen gegen
2585 die angeblich allgemein zugelassene Konvention, ein Versprechen
2586 sei ein Lapsus linguae und psychologisch bedeutungslos. Es war
2587 kein geringerer als der deutsche Reichskanzler Fürst Bülow, der
2588 durch solchen Einspruch die Situation zu retten versuchte, als ihm
2589 der Wortlaut seiner Verteidigungsrede für seinen Kaiser (Nov. 1907)
2590 durch ein Versprechen ins Gegenteil umschlug.
2591

§ 434

5=1=
2592

§ 435

2593

§ 436

——68-——
2594

§ 437

„Was nun die Gegenwart, die neue Zeit Kaiser Wilhelms II.,
2595 angeht, so kann ich nur wiederholen, was ich vor einem Jahre
2596 gesagt habe, daß es unbillig und ungerecht wäre, von einem
2597 Ring verantwortlicher Ratgeber um unseren Kaiser zu
2598 sprechen (Lebhafte Zurufe: Unverantwortlicher), unverantwort-
2599licher Ratgeber zu sprechen. Verzeihen Sie den Lapsus linguae.“
2600 (Heiterkeit)
2601

§ 438

Indes der Satz des Fürsten Bülow war durch die Häufung der
2602 N egationen einigermaßen undurchsichtig ausgefallen; die Sympathie
2603 für den Redner und die Rücksicht auf seine schwierige Stellung
2604 wirkten dahin, daß dies Versprechen nicht weiter gegen ihn aus-
2605genützt wurde. Schlimmer erging es ein Jahr später an demselben
2606 Orte einem anderen, der zu einer rückhaltlosen Kundgebung
2607 an den Kaiser auflordern wollte und dabei durch ein böses Ver-
2608sprechen an andere in seiner loyalen Brust wohnende Gefühle ge-
2609mahnt wurde:
2610

§ 439

„Lattmann (Dtsch.-soz.)z Wir stellen uns bei der Frage der
2611 Adresse auf den Boden der Geschäftsordnung des Reichstages.
2612 Danach hat der Reichstag das Recht, eine solche Adresse an den
2613 Kaiser einzureichen. Wir glauben, daß der einheitliche Gedanke
2614 und der Wunsch des deutschen Volkes dahin geht, eine einheit-
2615liche Kundgebung auch in dieser Angelegenheit zu erreichen,
2616 und wenn wir das in einer Form tun können, die den monarchischen
2617 Gefühlen durchaus Rechnung trägt, so sollen wir das auch rück-
2618gratlos tun. (Stürmische Heiterkeit, die minutenlang anhält.)
2619 Meine Herren, es hieß nicht rückgratlos, sondern rückhaltlos
2620 (Heiterkeit), und solche rückhaltlose Äußerung des Volkes, das
2621 wollen wir“ hoffen, nimmt auch unser Kaiser in dieser schweren
2622 Zeit entgegen.“
2623

§ 440

Der „Vorwärts“ vom 12. November 1908 versäumte es nicht,
2624 die psychologische Bedeutung dieses Versprechens aufzuzeigen:
2625

§ 441

„Rückgratlos vor dem Kaiserthron.“
2626

§ 442

„Nie ist wohl je in einem Parlament von einem Abgeordneten
2627 in unfreiwilliger Selbstbezichtigung seine und der Parlamentsmehr-
2628heit Haltung gegenüber dem Monarchen so treffend gekennzeichnet
2629 worden, wie das dem Antisemiten Lattmann gelang, als er am
2630 zweiten Tage der Interpellation mit feierlichem Pathos in das
2631

§ 443

2632

§ 444

——69——
2633

§ 445

Bekenntnis entgleiste, er und seine Freunde wollten dem Kaiser
2634 rückgratlos ihre Meinung sagen.
2635

§ 446

Stürmische Heiterkeit auf alien Seiten erstickte die weiteren
2636 Worte des Unglücklichen, der es noch für notwendig hielt, aus-
2637drücklich entschuldigend zu stammeln, er meine eigentlich „rück-
2638haltlos“.“
2639

§ 447

Einischönes Beispiel von Versprechen, welches nicht so sehr
2640 den Verrat des Redners als die Orientierung des außer der Szene
2641 stehenden Hörers bezweckt, findet sich im Wallenstein (Picco-
2642lomini, I. Aufzug, 5. Auftritt) und zeigt uns, daß der Dichter, der
2643 sich hier dieses Mittels bedient, Mechanismus und Sinn des Ver-
2644sprechens wohl gekannt hat. Max Piocolomini hat in der vorher-
2645gehenden Szene aufs leidenschaftlichste für den Herzog Partei ge-
2646nommen und dabei von den Segnungen des Friedens geschwarmt,
2647 die sich ihm auf seiner Reise enthüllt, während er die Tochter
2648 Wallensteins ins Lager begleitete. Er läßt seinen Vater und den
2649 Abgesandten des Hofes, Questenberg, in voller Bestürzung zurück.
2650 Und nun geht der fünfte Auftritt weiter: '
2651

§ 448

Questenberg: O weh uns! Steht es so?
2652 Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn
2653 Dahingehen, rufen ihn nicht gleich
2654 Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle
2655 Ihm öffnen?
2656

§ 449

Octavio (aus einem tiefen Nachdenken zu sich kommend):
2657 Mir hat er sie jetzt geöffnet,
2658 Und mehr erblick ich, als mich freut.
2659

§ 450

Questenberg: Was ist es, Freund?
2660 Octavio: Fluch über diese Reise!
2661 Questenberg: Wieso? Was ist es?
2662

§ 451

Octavio: Kommen Sie! Ich muß
2663 Sogleich die unglückselige Spur verfolgen,
2664

§ 452

Mit meinen Augen sehen —-— kommen Sie ——
2665

§ 453

(will ihn fortführen).
2666

§ 454

Questenberg: Was denn? Wohin?
2667

§ 455

Octavio (pressiert): Zu ihr!
2668

§ 456

Questenberg: Zu —
2669

§ 457

Octavio (korrigiert sich): Zum Herzog! Gehen wir! usw.
2670

§ 458

2671

§ 459

__ 70 _
2672

§ 460

Dies kleine Versprechen: Zu ihr anstatt: Zu ihm soll uns ver-
2673raten, daß der Vater das Motiv der Parteinahme seines Sohnes
2674 durchschaut hat, während der Höfling klagt: „daß er in lauter
2675 Rätseln zu ihm rede“.
2676

§ 461

Ein anderes Beispiel von poetischer Verwertung des Ver-
2677sprechens hat Otto Bank bei Shakespeare entdeckt. Ich
2678 zitiere Banks Mitteilung nach dem Zentralblatt für Psycho-
2679analyse I, 3:
2680

§ 462

„Ein dichterisch überaus fein motiviertes und technisch
2681 glänzend verwertetes Versprechen, welches wie das von Freud
2682 im Wallenstein aufgezeigte (Zur Psych0pathologie des Alltags-
2683lebens, 2. Aufl., S. 48) verät, daß die Dichter Mechanismus und
2684 Sinn dieser Fehlleistung wohl kennen und deren Verständnis auch
2685 beim Zuhörer voraussetzen, findet sich in Shakespeares „Kauf-
2686mann von Venedig“ (III. Aufzug, 2. Szene). Die durch den
2687 Willen ihres Vaters an die Wahl eines Gatten durch das Los ge-
2688fesselte Porzia ist bisher allen ihren unliebsamen Freiern durch
2689 das Glück des Zufalls entronnen. Da sie endlich in Bassanio den
2690 Bewerber gefunden hat, dem sie wirklich zugetan ist, muß sie
2691 fürchten, daß auch er das falsche Los ziehen werde. Sie möchte
2692 ihm nun am liebsten sagen, daß er auch in diesem Falle ihrer
2693 Liebe sicher sein könne, ist aber durch ihr Gelübde daran ge-
2694hindert. In diesem inneren ZwieSpalte läßt sie der Dichter zu
2695 dem willkommenen Freier sagen:
2696

§ 463

Ich bitt Euch, wartet; ein, zwei Tage noch,
2697 Bevor Ihr wagt: denn wählt Ihr falsch, so büße
2698

§ 464

Ich Euern Umgang ein; darum verzieht.;
2699

§ 465

Ein Etwas sagt mir (doch es ist nicht Liebe),
2700

§ 466

Ich möcht Euch nicht verlieren; —— —— ——
2701

§ 467

—— — — Ich könnt Euch leiten
2702

§ 468

Zur rechten Wahl, dann bräch ich meinen Eid;
2703

§ 469

Das will ich nicht; so könnt Ihr mich verfehlen.
2704

§ 470

Doch wenn Ihr’s tut, macht Ihr mich sündlich wünschen,
2705

§ 471

Ich hätt’ ihn nur gebrochen. 0, der Augen,
2706

§ 472

Die mich so übersehn und mich geteilt!
2707 Halb bin ich Euer, die andre Hälfte Euer —
2708 Mein, wollt ich sagen; doch wenn mein, dann Euer,
2709

§ 473

Und so ganz Euer.
2710 (Nach der Übersetzung von Schlegel und Tieck.)
2711

§ 474

2712

§ 475

_71__
2713

§ 476

Gerade das, was sie ihm also bloß leise andeuten möchte, weil
2714 Sie es eigentlich ihm überhaupt verschweigen sollte, daß sie näm-
2715lich schon vor der Wahl ganz die Seine sei und ihn liebe, das
2716 läßt der Dichter mit bewundernswertem psychologischen Feingefühl
2717 in dem Versprechen sich offen durchdrängen und weiß durch diesen
2718 Kunstgriff die unerträgliche Ungewißheit des Liebenden sowie die
2719 - gleichgestimmte Spannung des Zuhörers über den Ausgang der
2720 Wahl zu beruhigen.“
2721

§ 477

Bei dem Interesse, welche solche Parteinahme der großen
2722 Dichter für unsere Auffassung des Versprechens verdient, halte ich
2723 es für gerechtfertigt, ein drittes solches Beispiel anzuführen, welches
2724 von E. Jones mitgeteilt worden ist1):
2725

§ 478

„Otto Rank macht in einem unlängst publiziertem Aufsatz?)
2726 auf ein schönes Beispiel aufmerksam, in welchem Shakespeare eine
2727 seiner Gestalten, die Porzia, ein „Versprechen“ begehen läßt, durch
2728 welches ihre geheimen Gedanken einem aufmerksamen Hörer
2729 offenbar werden. Ich habe die Absicht, ein ähnliches Beispiel aus
2730 „The Egoist“, dem Meisterwerke des größten englischen Roman-
2731schriftstellers, George Meredith, zu erzählen. Die Handlung des
2732 Romans ist kurz folgende: Sir Willoughby Patterne, ein von seinem
2733 Kreise sehr bewunderter Aristokrat, verlobt sich mit einer Miß Kon-
2734stantia Dur-ham. Sie entdeckt in ihm einen intensiven Egoismus, den er
2735 jedoch vor der Welt geschickt verbirgt, und geht, um der Heirat
2736 zu entrinnen, mit einem Kapitän namens Oxford durch. Einige
2737 Jahre später verlobt er sich mit einer Miß Klara Middleton. Der
2738 größte Teil des Buches ist nun mit der ausführlichen Beschreibung
2739 des Konfliktes erfüllt, der in Klara Middletons Seele entsteht, als
2740 sie in ihrem Verlobten denselben hervorstechenden Charakterzug
2741 entdeckt. Äußere Umstände und ihr Ehrbegriff fesseln sie an ihr
2742 gegebenes Wort, während ihr Bräutigam ihr immer verächtlicher
2743 erscheint. Teilweise macht sie Vernon Whitford, dessen Vetter
2744 und Sekretär, (den sie zuletzt auch heiratet) zum Vertrauten. Er
2745 jedoch hält sich aus Loyalität Patterne gegenüber und aus an-
2746deren Motiven zurück.
2747

§ 479

1) Ein Beispiel von literarischer Verwertung des Versprechens. Zentral-
2748blatt f. Psychoanalyse I, 10.
2749 2) Zentralblatt für Psychoanalyse, I. Heft 3, S. 109.
2750

§ 480

2751

§ 481

_72_
2752

§ 482

In einem Monolog über ihren Kummer spricht Klara folgender-
2753maßen: „Wenn doch ein edler Mann mich sehen könnte wie ich
2754 bin, und es nicht zu gering erachtete, mir zu helfen! Oh! befreit
2755 zu werden aus diesem Kerker von Dornen und Gestrüpp. Ich
2756 kann mir allein meinen Weg nicht bahnen. Ich bin ein F eigling.
2757 Ein Fingerzeig 1) —— ich glaube, er würde mich verändern. Zu
2758 einem Kameraden könnt ich fliehn, blutig zerrissen und umbraust
2759 von Verachtung undGeschrei. . . . Konstantia begegnete einem
2760 Soldaten. Vielleicht betete sie, und ihr Gebet ward erhört. Sie
2761 tat nicht recht. Aber, oh, wie lieb ich sie darum. Sein Name
2762 war Harry Oxford. . .. Sie schwankte nicht, sie riß die Ketten,
2763 sie ging ofien zu dem andern über. Tapferes Mädchen, wie denkst
2764 du über mich? Ich aber habe keinen Harry Whitford, ich bin
2765 allein.“ — —
2766

§ 483

Die plötzliche Erkenntnis, daß sie einen andern Namen für
2767 Oxford gebraucht habe, traf sie wie ein F austschlag und übergoß
2768 sie mit flammender Räte.
2769

§ 484

Die Tatsache, daß die Namen beider Männer mit „ford“
2770 endigen, erleichtert das Verwechseln der beiden offensichtlich und
2771 würde von vielen als ein hinreichender Grund dafür angesehen
2772 werden. Der wahre tieferliegende Grund jedoch ist von dem
2773 Dichter klar ausgeführt.
2774

§ 485

An einer anderen Stelle kommt dasselbe Versprechen wieder
2775 vor. Es folgt ihm jene spontane Unschlüssigkeit und jener plötz-
2776liche Wechsel des Themas, mit denen uns die Psychoanalyse und
2777 Jungs Werk über die Assoziationen vertraut machen, und die
2778 nur eintreten, wenn ein halbbewußter Komplex berührt wird.
2779 Patterne sagt in patronisierendem Ton von Whitford: „Falscher
2780 Alarm! Der gute alte Vernon ist gar nicht imstande, etwas Un-
2781gewöhnliches zu tun.“ Klara antwortet: „Wenn aber nun Oxford
2782 ——Whitford . .. da —— Ihre Schwäne kommen gerade den See
2783 durchsegelnd; wie schön sie aussehen, wenn sie indigniert sind!
2784 Was ich Sie eben fragen wollte, Männer, die Zeugen einer ofien-
2785sichtlichen Bewunderung für jemand anderen sind, werden wohl
2786

§ 486

1) Anmerkung des Übersetzers: Ich wollte ursprünglich das Original
2787 „beckoning of a finger“ mit „leiser Wink“ übersetzen, bis mir klar wurde,
2788

§ 487

daß ich durch Unterschlagung des Wortes „Finger“ den Satz einer psycho-
2789logischen Feinheit beraube.
2790

§ 488

2791

§ 489

___73__
2792

§ 490

natürlicherweise entmutigt?“ Sir Willoughby traf eine plötzliche
2793 Erleuchtung, er richtete sich steif auf.
2794

§ 491

Noch an einer anderen Stelle verrät Klara durch ein anderes
2795 Versprechen ihren geheimen Wunsch nach einer innigeren Ver-
2796bindung mit Vernon Whitford. Zu einem Burschen sprechend, sagt
2797 sie: „Sage abends dem Mr. Vernon _ sage abends dem Mr. Whit-
2798ford . . usw.“
2799

§ 492

Die hier vertretene Auffassung des Versprechens hält übrigens
2800 der Probe an dem Kleinsten stand. Ich habe wiederholt zeigen
2801 können, daß die geringfügigsten und naheliegendsten Fälle von
2802 Bedeirrung ihren guten Sinn haben und die nämliche Lösung zu-
2803lassen wie die auffälligeren Beispiele. Eine Patientin, die ganz
2804 gegen meinen Willen, aber mit starkem eigenen Vorsatze einen
2805 kurZen Ausflug nach Budapest unternimmt, rechtfertigt sich vor
2806 mir, sie gehe ja nur für drei Tage dahin, verspricht sich aber
2807 und sagt: nur für drei Wochen. Sie verrät, daß sie mir zum
2808 Trotze lieber drei Wochen als drei Tage in jener Gesellschaft
2809 bleiben will, die ich als unpassend für sie erachte. —— Ich soll
2810 mich eine-s Abends entschuldigen, daß ich meine Frau nicht vom
2811 Theater abgeholt, und sage: Ich war 10 Minuten nach 10 Uhr
2812 beim Theater. Man korrigiert mich: Du willst sagen: vor 10 Uhr.
2813 Natürlich wollte ich vor 10 Uhr sagen. Nach 10 Uhr wäre ja
2814 keine Entschuldigung. Man hatte mir gesagt, auf dem Theater-
2815zettel stehe: Ende vor 10 Uhr. Als ich beim Theater anlangte,
2816 fand ich das Vestibül verdunkelt und das Theater entleert. Die
2817 Vorstellung war eben früher zu Ende gewesen, und meine Frau
2818 hatte nicht auf mich gewartet. Als ich auf die Uhr sah, fehlten
2819 noch 5 Minuten zu 10 Uhr. Ich nahm mir aber vor, meinen Fall
2820 zu Hause günstiger darzustellen und zu sagen, es hätten noch
2821 10 Minuten zur zehnten Stunde gefehlt. Leider verdarb mir das Ver-
2822sprechen die Absicht und stellte meine Unaufrichtigkeit bloß, in-
2823dem es mich selbst mehr bekennen ließ, als ich zu bekennen
2824 hatte.
2825

§ 493

Man gelangt von hier aus zu jenen Redestörungen, die nicht
2826 mehr als Versprechen beschrieben werden, weil sie nicht das ein-
2827zelne Wort, sondern Rhythmus und Ausführung der ganzen Rede
2828 beeinträchtigen, wie z. B. das Stammeln und Stottern der Ver-
2829legenheit. Aber hier wie dort ist es der innere Konflikt, der uns
2830

§ 494

2831

§ 495

_74_
2832

§ 496

durch die Störung der Rede verraten wird. Ich glaube wirklich
2833 nicht, daß jemand sich versprechen würde in der Audienz bei
2834 Seiner Majestät, in einer ernstgemeinten Liebeswerbung, in einer
2835 Verteidigungsrede um Ehre und Namen vor den Geschworenen,
2836 kurz in all den Fällen, in denen man ganz dabei ist, wie wir
2837 so bezeichnend sagen. Selbst bis in die Schätzung des Stils, den
2838 ein Autor schreibt, dürfen wir und sind wir gewöhnt, das Er-
2839klärungsprinzip zu tragen, welches wir bei der Ableitung des
2840 einzelnen Sprechfehlers nicht entbehren können. Eine klare und
2841 unzweideutige Schreibweise belehrt uns, daß der Autor hier mit
2842 sich einig ist, und wo wir gezwungenen und gewundenen Aus-
2843druck finden, der, wie so richtig gesagt wird, nach mehr als einem
2844 Scheine schielt, da können wir den Anteil eines nicht genugsam
2845 erledigten, komplizierenden Gedankens erkennen oder die erstickte
2846 Stimme der Selbstkritik des Autors heraushören 1).
2847

§ 497

Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches haben fremdsprachige
2848 Freunde und Kollegen begonnen, dem Versprechen, das sie in den
2849 Ländern ihrer Zunge beobachten konnten, ihre Aufmerksamkeit zu-
2850zuwenden. Sie haben, wie zu erwarten stand, gefunden, daß die
2851 Gesetze der Fehlleistung vom Sprachmaterial unabhängig sind, und
2852 haben dieselben Deutungen vorgenommen, die hier an Beispielen
2853 von Deutsch redenden Personen erläutert wurden. Ich führe nur
2854 ein Beispiel anstatt ungezählter vieler an:
2855

§ 498

D. A. A. Brill (Newjork) berichtet von sich: A friend de-
2856scribed to me a nervous patient and wished to know whether
2857 I could benefit him. I remarked, I believe that in time I could rc-
2858move all his symptoms by psycho-analysis because it is a durable
2859 case wishing to say „curable“! (A contribution to the Psycho-
2860pathology of Everyday Life aus Psychotherapy vol. III, Nr. 1, 1909).
2861

§ 499

Einen überaus lehrreichen Fall von Verwertung eines ein-
2862fachen Versprechens in einer Psychoanalyse hat W. Stekel im
2863 Zentralblatt f. Psychoanalyse I 1/2 mitgeteilt. (Ein Beispiel von
2864 Versprechen.)
2865

§ 500

(ei — bei — brei — blei.)
2866

§ 501

1) Ce qu’on congoit bien
2867 S’annonce claircmcnt
2868 Et les mots pour le dire
2869 Arrivent aisément, Boileau, Art poétique.
2870

§ 502

2871

§ 503

__75___
2872

§ 504

„Ein an Platzangst Leidender sagt während der Analyse:
2873 „Wenn ich ein Thema anfange, so bleibe ich mit einer gewissen
2874 Hartnäckigkeit dablei.“
2875

§ 505

Dann auf sein Versprechen aufmerksam gemacht, ergänzt er:
2876 „Ich habe wie ein Kind statt „r“ — „I“ gesagt, statt brei blei“
2877 und verspricht sich so ein zweites Mal.
2878

§ 506

Dieses Versprechen muß eine große Bedeutung haben. Die
2879 Silben „bei — brei — blei“ sind Träger wichtiger Assoziationen.“
2880

§ 507

VI.
2881 Verlesen und Verschreiben.
2882

§ 508

Daß für die Fehler im Lesen und Schreiben die nämlichen
2883 Gesichtspunkte und Bemerkungen Geltung haben wie für die
2884 Sprechfehler, ist bei der inneren Verwandtschaft dieser Funktionen
2885 nicht zu verwundern. Ich werde mich hier darauf beschränken,
2886 einige sorgfältig analysierte Beispiele mitzuteilen, und keinen Ver-
2887such unternehmen, das Ganze der Erscheinungen zu umfassen.
2888

§ 509

A. Verlesen.
2889

§ 510

a) Ich durchblättere im Caféhause eine Nummer der „Leip-
2890ziger Illustrierten“, die ich schräg vor mir halte, und lese als
2891 Unterschrift eines sich über die Seite erstreckenden Bildes: Eine
2892 Hochzeitsfeier in der Odyssee. Aufmerksam geworden und ver—
2893 wundert rücke ich mir das Blatt zurecht und korrigiere jetzt: Eine
2894 Hochzeitsfeier an der Ostsee. Wie komme ich zu diesem un-
2895sinnigen Lesefehler? Meine Gedanken lenken sich sofort auf ein
2896 Buch von Ruths „Experimentaluntersuchungen über Musikphan-
2897tome usw.“, das mich in der letzten Zeit viel beschäftigt hat,
2898 weil es nahe an die von mir behandelten psychologischen Pro-
2899bleme streift. Der Autor verspricht für nächste Zeit ein Werk,
2900 welches „Analyse und Grundgesetze der Traumphänomene“
2901 heißen wird. Kein Wunder, daß ich, der ich eben eine
2902 „Traumdeutung“ veröffentlicht habe, mit größter Spannung
2903 diesem Buche entgegensehe. In der Schrift Ruths über
2904 Musikphantome fand ich vorne im Inhaltsverzeichnis die Ankün-
2905

§ 511

2906

§ 512

_75__
2907

§ 513

„Ein an Platzangst Leidender sagt während der Analyse:
2908 „Wenn ich ein Thema anfange, so bleibe ich mit einer gewissen
2909 Hartnäckigkeit d a b le i.“
2910

§ 514

Dann auf sein Versprechen aufmerksam gemacht, ergänzt er:
2911 „Ich habe wie ein Kind statt „r“ — „I“ gesagt, statt brei blei“
2912 und verspricht sich so ein zweites Mal.
2913

§ 515

Dieses Versprechen muß eine große Bedeutung haben. Die
2914 Silben „bei —— brei — blei“ sind Träger wichtiger Assoziationen.“
2915

§ 516

VI.
2916 Verlesen und Verschreiben.
2917

§ 517

Daß für die Fehler im Lesen und Schreiben die nämlichen
2918 Gesichtspunkte und Bemerkungen Geltung haben wie für die
2919 Sprechfehler, ist bei der inneren Verwandtschaft dieser Funktionen
2920 nicht zu verwundern. Ich werde mich hier darauf beschränken,
2921 einige sorgfältig analysierte Beispiele mitzuteilen, und keinen Ver-
2922such unternehmen, das Ganze der Erscheinungen zu umfassen.
2923

§ 518

A. Verlesen.
2924

§ 519

a) Ich durchblättere im Caféhause eine Nummer der „Leip-
2925ziger Illustrierten“, die ich schräg vor mir halte, und lese als
2926 Unterschrift eines sich über die Seite erstreckenden Bildes: Eine
2927 Hochzeitsfeier in der Odyssee. Aufmerksam geworden und ver—
2928 wundert rücke ich mir das Blatt zurecht und korrigiere jetzt: Eine
2929 Hochzeitsfeier an der Ostsee. Wie komme ich zu diesem un-
2930sinnigen Lesefehler? Meine Gedanken lenken sich sofort auf ein
2931 Buch von Ruths „Experimentaluntersuchungen über Musikphan-
2932tome usw.“, das mich in der letzten Zeit viel beschäftigt hat,
2933 weil es nahe an die von mir behandelten psychologischen Pro-
2934bleme streift. Der Autor verspricht für nächste Zeit ein Werk,
2935 welches „Analyse und Grundgesetze der Traumphänomene“
2936 heißen wird. Kein Wunder, daß ich, der ich eben eine
2937 „Traumdeutung“ veröffentlicht habe, mit größter Spannung
2938 diesem Buche entgegensehe. In der Schrift Ruths über
2939 Musikphantome fand ich vorne im Inhaltsverzeichnis die Ankün-
2940

§ 520

2941

§ 521

—76 __
2942

§ 522

digung des ausführlichen induktiven Nachweises, daß die alt-
2943hellenischen Mythen und Sagen ihre Hauptwurzeln in Schlummer-
2944und Musikphantomen, in Traumphänomenen und auch in Delirien
2945 haben. Ich schlug damals sofort im Texte nach, um heraus—
2946 zufinden, ob er auch um die Zurückführung der Szene, wie
2947 0 dysseus vor N ausikaa erscheint, auf den gemeinen Nacktheits-
2948traum wisse. Mich hatte ein Freund auf die schöne Stelle in
2949 G. Kellers „Grünem Heinrich“ aufmerksam gemacht, welche diese
2950 Episode der Odyssee als Objektivierung der Träume des fern von
2951 der Heimat irrenden Schiffers aufklärt, und ich hatte die Be-
2952ziehung zum Exhibitionstraum der Nacktheit hinzugefügt (8. Aufl.
2953 S. 178). Bei Ruths entdeckte ich nichts davon. Mich beschäf-
2954tigen in diesem Falle offenbar Prioritätsgedanken.
2955

§ 523

b) Wie kam ich dazu, eines Tages aus der Zeitung zu lesen:
2956 „Im Faß durch Europa, anstatt: zu Fuß?“ Diese Auflösung
2957 bereitete mir lange Zeit Schwierigkeiten. Die nächsten Einfälle
2958 deuteten allerdings: Es müsse das Faß des Diogenes gemeint sein,
2959 und in einer Kunstgeschichte hatte ich unlängst etwas über die
2960 Kunst zur Zeit Alexanders gelesen. Es lag dann nahe, an die
2961 bekannte Rede Alexanders zu denken: Wenn ich nicht Alexander
2962 wäre, möchte ich Diogenes sein. Auch schwebte mir etwas von
2963 einem gewissen Hermann Zeitung vor, der in eine Kiste ver-
2964packt sich auf Reisen begeben hatte. Aber weiter wollte sich der
2965 Zusammenhang nicht herstellen, und es gelang mir nicht, die Seite
2966 in der Kunstgeschichte wieder aufzuschlagen, auf welcher mir
2967 jene Bemerkung ins Auge gefallen war. Erst Monate später fiel
2968 mir das beiseite geworfene Rätsel plötzlich wieder ein, und dies-
2969mal zugleich mit seiner Lösung. Ich erinnerte mich an die Be-
2970merkung in einem Zeitungsartikel, was für sonderbare Arten der
2971 Beförderung die Leute jetzt wählten, um nach Paris zur Welt-
2972ausstellung zu kommen, und dort war auch, wie ich glaube, scherz-
2973haft mitgeteilt worden, daß irgendein Herr die Absicht habe,
2974 sich von einem anderen Herrn in einem Faß nach Paris rollen
2975 zu lassen. Natürlich hätten diese Leute kein anderes Motiv,
2976 als durch solche Torheiten Aufsehen zu machen. Hermann
2977 Zeitung war in der Tat der Name desjenigen Mannes, der für
2978 solche außergewöhnliche Beförderung das erste Beispiel gegeben
2979 hatte. Dann fiel mir ein, daß ich einmal einen Patienten behandelt,
2980

§ 524

2981

§ 525

__77_
2982

§ 526

dessen krankhafte Angst vor der Zeitung sich als Reaktion gegen
2983 den krankhaften Ehrgeiz auflöste, sich gedruckt und als be-
2984rühmt in der Zeitung erwähnt zu sehen. Der mazedonische
2985 Alexander war gewiß einer der ehrgeizigsten Männer, die je gelebt.
2986 Er klagte ja, daß er keinen Homer finden werde, der seine Taten
2987 besinge. Aber wie konnte ich nur nicht daran denken, daß
2988 ein anderer Alexander mir näher stehe, daß Alexander der Name
2989 meines jüngeren Bruders ist! Ich fand nun sofort den anstößigen
2990 und der Verdrängung bedürftigen Gedanken inbetreff dieses
2991 Alexanders und die aktuelle Veranlassung für ihn. Mein Bruder
2992 ist Sachverständiger in Dingen, die Tarife und Transporte an-
2993gehen, und sollte zu einer gewissen Zeit für seine Lehrtätigkeit
2994 an einer kommerziellen Hochschule den Titel Professor erhalten.
2995 Für die gleiche Beförderung war ich an der Universität seit
2996 mehreren Jahren vorgeschlagen, ohne sie erreicht zu haben. Unsere
2997 Mutter äußerte damals ihr Befremden darüber, daß ihr kleiner
2998 Sohn eher Professor werden sollte als ihr großer. So stand es
2999 zur Zeit, als ich die Lösung für jenen Leseirrtum nicht finden konnte.
3000 Dann erhoben sich Schwierigkeiten auch bei meinem Bruder; seine
3001 Chancen, Professor zu werden, fielen noch unter die meinigen.
3002 Da aber wurde mir plötzlich der Sinn jenes Verlesens offenbar; es
3003 war, als hätte die Minderung in den Chancen des Bruders ein
3004 Hindernis beseitigt. Ich hatte mich so benommen, als läse ich
3005 die Ernennung des Bruders in der Zeitung und sagte mir dabei:
3006 Merkwürdig, daß man wegen solcher Dummheiten (wie er sie als
3007 Beruf betreibt) in der Zeitung stehen (d. h. zum Professor ernannt
3008 werden) kann! Die Stelle über die hellenistische Kunst im Zeitalter
3009 Alexanders schlug ich dann ohne Mühe auf und überzeugte mich
3010 zu meinem Erstaunen, daß ich während des vorherigen Suchens
3011 wiederholt auf derselben Seite gelesen und jedesmal wie unter
3012 der Herrschaft einer negativen Halluzination den betreffenden Satz
3013 übergangen hatte. Dieser enthielt übrigens gar nichts, was mir
3014 Aufklärung brachte, was des Vergessens wert gewesen wäre. Ich
3015 meine, das Symptom des Nichtauffindens im Buche ist nur zu
3016 meiner Irreführung geschaffen worden. Ich sollte die Fortsetzung
3017 der Gedankenverknüpfung dort suchen, wo meiner Nachforschung
3018 ein Hindernis in den Weg gelegt war, also in irgendeiner Idee
3019 über den mazedonischen Alexander, und. sollte so vom gleich-
3020

§ 527

3021

§ 528

—78——
3022

§ 529

namigen Bruder sicherer abgelenkt werden. Dies gelang auch
3023 vollkommen; ich richtete alle meine Bemühungen darauf, die ver-
3024lorene Stelle in jener Kunstgeschichte wieder aufzufinden.
3025

§ 530

Der Doppelsinn des Wortes „Beförderung“ ist in diesem
3026 Falle die Assoziationsbrücke zwischen den zwei Komplexen, dem
3027 unwichtigen, der durch die Zeitungsnotiz angeregt wird, und dem
3028 interessanteren, aber anstößigen, der sich hier als Störung des
3029 zu Lesenden geltend machen darf. Man ersieht aus diesem Bei-
3030spiel, daß es nicht immer leicht wird, Vorkommnisse wie diesen
3031 Lesefehler aufzuklären. Gelegentlich ist man auch genötigt, die
3032 Lösung des Rätsels auf eine günstigere Zeit zu verschieben. Je
3033 schwieriger sich aber die Lösungsarbeit erweist, desto sicherer
3034 darf man erwarten, daß der endlich aufgedeckte störende Ge—
3035 danke von unserem bewußten Denken als fremdartig und gegen-
3036sätzlich beurteilt werden wird.
3037

§ 531

c) Ich erhalte eines Tages einen Brief aus der Nähe Wiens,
3038 der mir eine erschütternde Nachricht mitteilt. Ich rufe auch
3039 sofort meine Frau an und fordere sie zur Teilnahme daran auf,
3040 daß die arme Wilhelm M. so schwer erkrankt und von den
3041 Ärzten aufgegeben ist. An den Worten, in welche ich mein Be-
3042dauern kleide, muß aber etwas falsch geklungen haben, denn meine
3043 Frau wird mißtrauisch, verlangt den Brief zu sehen und äußert
3044 als ihre Überzeugung, so könne es nicht darin stehen, denn nie-
3045mand nenne eine Frau nach dem Namen des Mannes, und über-
3046dies sei der Korrespondentin der Vorname der Frau sehr wohl
3047 bekannt. Ich verteidige meine Behauptung hartnäckig und ver-
3048weise auf die so gebräuchlichen Visitkarten, auf denen eine Frau
3049 sich selbst mit dem Vornamen des Mannes bezeichnet. Ich muß
3050 endlich den Brief zur Hand nehmen, und wir lesen darin tatsächlich
3051 „der arme W. M.“, ja sogar, was ich ganz übersehen hatte: „der
3052 arme Dr. W. M.“. Mein Versehen bedeutete also einen, sozusagen
3053 krampfhaften, Versuch, die traurige Neuigkeit von dem Manne auf
3054 die Frau zu überwälzen. Der zwischen Artikel, Beiwort und Name
3055 eingeschobene Titel paßte schlecht zu der Forderung, es müßte
3056 die Frau gemeint sein. Darum wurde er auch beim Lesen be-
3057seitigt. Das Motiv dieser Verfälschung war aber nicht, daß mir
3058 die Frau weniger sympathisch wäre als der Mann, sondern das
3059 Schicksal des armen Mannes hatte meine Besorgnisse um eine
3060

§ 532

3061

§ 533

__79_
3062

§ 534

andere, mir nahe stehende Person rege gemacht, welche eine der
3063 mir bekannten Krankheitsbedingungen mit diesem Falle gemeinsam
3064 hatte.
3065

§ 535

(1) Ärgerlich und lächerlich ist mir ein Verlesen, dem ich
3066 sehr häufig unterliege, wenn ich in den Ferien in den Straßen
3067 einer fremden Stadt spaziere. Ich lese dann jede Ladentafel, die
3068 dem irgendwie entgegenkommt, als Antiquitäten. Hierin äußert
3069 sich die Abenteuerlust des Sammlers.
3070

§ 536

e) Bleuler erzählt in seinem bedeutsamen Buche „Affektivität,
3071 Suggestibilität, Paranoia“ (1906) S. 121: „Beim Lesen hatte ich
3072 einmal das intellektuelle Gefühl, zwei Zeilen weiter unten meinen
3073 Namen zu sehen. Zu meinem Erstaunen finde ich nur das Wort
3074 „Blutkörperchen“. Unter vielen Tausenden von mir analysierten
3075 Verlesungen des peripheren wie des zentralen Gesichtsfeldes ist
3076 dieses der krasseste Fall. Wenn ich etwa meinen Namen zu sehen
3077 glaubte, so war das Wort, das dazu Anlaß gab, meist viel ähn-
3078licher meinem Namen, in den meisten Fällen mußten geradezu
3079 alle Buchstaben des Namens in der Nähe vorhanden sein, bis mir
3080 ein solcher Irrtum begegnen konnte. In diesem Falle ließ sich
3081 aber der Beziehungswahn und die Illusion sehr leicht begründen:
3082 Was ich gerade las, war das Ende einer Bemerkung über eine
3083 Art schlechten Stils von wissenschaftlichen Arbeiten, von der ich
3084 mich nicht frei fühlte.“
3085

§ 537

f) Über einen Fall von Verlesen im Betrieb der philologischen
3086 Wissenschaft berichtet Dr. Marcell Eibenschütz im Zentralbl.
3087 f. Psychoanalyse 1, 5/6: Ich beschäftigte mich mit der Überlieferung
3088 des „Buches der Märtyrer“, eines mittelhochdeutschen Legenden-
3089werkes, das ich in den „Deutschen Texten des Mittelalters“, hsg.
3090 v. d. Preuß. Akademie der Wissenschaften, edieren soll. Über
3091 das bisher noch ungedruckte Werk war recht wenig bekannt; es
3092 bestand eine einzige Abhandlung darüber von J. Haupt, Über
3093 das mittelhochdeutsche Buch der Märtyrer, Wiener Sitzungsberichte
3094 1867, 70. Bd. S. 101fl‘. — Haupt legte seiner Arbeit nicht eine
3095 alte Handschrift zugrunde, sondern eine aus neuerer Zeit (19. Jhdt.)
3096 stammende Abschrift der Haupthandschrift C (Klosterneuburg), eine
3097 Abschrift, die in der Hofbibliothek aufbewahrt wird. Am Ende
3098 dieser Abschrift steht folgende Subscriptio:
3099

§ 538

Anno domini MDCCCL in vigilia exaltacionis sancte crucis
3100

§ 539

3101

§ 540

——80—
3102

§ 541

ceptus est iste iiber et in vigilia pasce anni subsequentis finitus
3103 cum adiutorio omnipotentis per me Hartmanum de Krasna tunc
3104 temporis ecclesie niwenburgensis custodem.
3105

§ 542

Haupt teilt nun in seiner Abhandlung diese Subscriptio mit
3106 in der Meinung, daß sie vom Schreiber von C selbst herrühre
3107 und läßt C, mit konsequenter Verlesung der römisch geschriebenen
3108 Jahreszahl 1850, im Jahre 1350 geschrieben sein, trotzdem daß
3109 er die Subscriptio vollständig richtig kopiert hat, trotzdem daß sie
3110 in der Abhandlung a. a. 0. vollständig richtig (nämlich MDCCCL)
3111

§ 543

abgedruckt ist.
3112

§ 544

Die Mitteilung Haupts bildete für mich eine Quelle von
3113 Verlegenheiten. Zunächst stand ich als blutiger Anfänger in der
3114 gelehrten Wissenschaft ganz unter der Autorität Haupts und las
3115 lange Zeit aus der vollkommen klar und richtig gedruckt vor mir
3116 liegenden Subscriptio wie Haupt 1350 statt 1850; doch in der
3117 von mir benutzten Haupthandschrift C war keine Spur irgend-
3118einer Subscriptio zu finden, es stellte sich ferner heraus, daß im
3119 ganzen 14. Jahrh. zu Klosterneuburg kein Mönch namens Hartman
3120 gelebt hatte. Und als endlich der Schleier von meinen Augen
3121 sank, da hatte ich auch schon den ganzen Sachverhalt erraten,
3122 und die weiteren Nachforschungen bestätigten meine Vermutung:
3123 die vielgenannte Subscriptio steht nämlich nur in der von Haupt
3124 benutzten Abschrift und rührt von ihrem Schreiber her, P. Hart-
3125man Zeibig, geb. zu Krasna in Mähren, Augustinerchorherr zu
3126 Klosterneuburg, der im Jahre 1850 als Kirchenschatzmeister des
3127 Stiftes die Handschrift C abgeschrieben und sich am Ende seiner
3128 Abschrift in altertümlicher Weise selbst nennt. Die mittelalter—
3129 liche Diktion und die alte Orthographie der subscriptio haben
3130 wohl bei dem Wunsche Haupts, über das von ihm behandelte
3131 Werk möglichst viel mitteilen zu können, also auch die Hand-
3132schrift C zu datieren, mitgeholfen, daß er immer statt 1850
3133 1350 las. (Motiv der Fehlhandlung.)
3134

§ 545

g) In den „Witzigen und Satirischen Einfällen“ von Lichten-
3135berg findet sich eine Bemerkung, die wohl einer Beobachtung ent-
3136stammt und die ganze Theorie des Verlesens enthält: Er las immer
3137 Agamemnon statt „angenommen“, so sehr hatte er den Homer
3138 gelesen.
3139

§ 546

3140

§ 547

——81—-
3141

§ 548

B. Verschreiben.
3142

§ 549

a) Auf einem Blatte, welches kurze tägliche Aufzeichnungen
3143 meist von geschäftlichem Interesse enthält, finde ich zu meiner
3144 Überraschung mitten unter den richtigen Daten des Monats Sep-
3145tember eingeschlossen das verschriebene Datum „Donnerstag, den
3146 20. Okt.“ Es ist nicht schwierig, diese Antizipation aufzuklären,
3147 und zwar als Ausdruck eines Wunsches. Ich bin wenige Tage
3148 vorher frisch von der Ferienreise zurückgekehrt und fühle mich
3149 bereit für ausgiebige ärztliche Beschäftigung, aber die Anzahl der
3150 Patienten ist noch gering. Bei meiner Ankunft fand ich einen
3151 Brief von einer Kranken vor, die sich für den 20. Oktober an-
3152kündigte. Als ich die gleiche Tageszahl im September nieder-
3153schrieb, kann ich wohl gedacht haben: Die X. sollte doch schon
3154 da sein; wie schade um den vollen Monat! und in diesem Ge-
3155danken rückte ich das Datum vor. Der störende Gedanke ist in
3156 diesem Falle kaum ein anstößiger zu nennen; dafür weiß ich auch
3157 sofort die Auflösung des Schreibfehlers, nachdem ich ihn erst be-
3158merkt habe. Ein ganz analoges und ähnlich motiviertes Ver-
3159schreiben wiederhole ich dann im Herbst des nächsten Jahres.
3160 — E. Jones hat ähnliche Verschreibungen im Datum studiert und
3161 sie in den meisten Fällen leicht als motivierte erkannt.
3162

§ 550

b) Ich erhalte die Korrektur meines Beitrags zum Jahres-
3163bericht für Neurologie und Psychiatrie und muß natürlich mit
3164 besonderer Sorgfalt die Autornamen revidieren, die, weil ver-
3165schiedenen Nationen angehörig, dem Setzer die größten Schwierig-
3166keiten zu bereiten pflegen. Manchen fremd klingenden Namen
3167 finde ich wirklich noch zu korrigieren, aber einen einzigen
3168 Namen hat merkwürdigerweise der Setzer gegen mein Manuskript
3169 verbessert, und zwar mit vollem Rechte. Ich hatte nämlich
3170 Buckrhard geschrieben, woraus der Setzer Burckhard erriet.
3171 Ich hatte die Abhandlung eines Geburtshelfers über den Einfluß
3172 der Geburt auf die Entstehung der Kinderlähmungen selbst als
3173 verdienstlich gelobt, wüßte auch nichts gegen deren Autor zu
3174 sagen, aber den gleichen Namen wie er trägt auch ein Schrift-
3175steller in Wien, der mich durch eine unverständige Kritik über
3176 meine „Traumdeutung“ geärgert hat. Es ist gerade so, als hätte
3177

§ 551

ich mir bei der Niederschrift des Namens Burckh ard , der den
3178 Freud, Psychopathologie des Alltagslebens. 6
3179

§ 552

3180

§ 553

——82——
3181

§ 554

Geburtshelfer bezeichnete, etwas Arges über den anderen B., den
3182 Schriftsteller gedacht, denn Namenverdrehen bedeutet häufig genug,
3183 wie ich schon beim Versprechen erwähnt habe, Schmähungl).
3184

§ 555

c) Ein anscheinend ernsterer Fall von Verschreiben, denäich
3185 vielleicht mit ebensoviel Recht dem „Vergreifen“ einordnen könnte:
3186 Ich habe die Absicht, mir aus der Postsparkasse die Summe von
3187 300 Kronen kommen zu lassen, die ich einem zum Kurgebrauch
3188 abwesenden Verwandten schicken will. Ich bemerke dabei, daß
3189 mein Konto auf 4380 K lautet und nehme mir vor, es jetzt
3190 auf die runde Summe Von 4000 K herunterzusetzen, die in der
3191 nächsten Zeit nicht angegriffen werden soll. Nachdem ich den
3192 Scheck ordnungsmäßig ausgeschrieben und die der Zahl ent-
3193sprechenden Zifi‘ern ausgeschnitten habe, merke ich plötzlich, daß
3194 ich nicht 380 K, wie ich wollte, sondern gerade 438 bestellt
3195 habe, und erschrecke über die Unzuverlässigkeit meines Tuns.
3196 Den Schreck erkenne ich bald als unberechtigt; ich bin ja jetzt
3197 nicht ärmer geworden, als ich vorher war. Aber ich muß eine
3198 ganze Weile darüber nachsinnen, welcher Einfluß hier meine erste
3199 Intention gestört hat, ohne sich meinem Bewußtsein anzukündigen.
3200 Ich gerate zuerst auf falsche Wege, will die beiden Zahlen, 380
3201 und 438, voneinander abziehen, weiß aber dann nicht, was ich
3202 mit der Differenz anfangen soll. Endlich zeigt mir ein plötzlicher
3203 Einfall den wahren Zusammenhang. 438 entspricht ja zehn
3204 Prozent des ganzen Kontos von 4380 K! 10% Rabatt hat man
3205 aber beim Buchhändler. Ich besinne mich, daß ich vor wenigen
3206 Tagen eine Anzahl medizinischer Werke, die ihr Interesse für
3207 mich verloren haben, ausgesucht, um sie dem Buchhändler gerade
3208 für 300 K anzubieten. Er fand die Forderung zu hoch und
3209 versprach, in den nächsten Tagen endgültige Antwort zu sagen.
3210 Wenn er mein Angebot annimmt, so hat er mir gerade die
3211 Summe ersetzt, welche ich für den Kranken verausgaben soll. Es
3212 ist nicht zu verkennen, daß es mir um diese Ausgabe leid tut.
3213

§ 556

1) Vgl. etwa die Stelle im Julius Cäsar III, 3:
3214

§ 557

Cinna Ehrlich, mein Name ist Cinna.
3215

§ 558

Bürger. Beißt ihn in Stücke! er ist ein Verschworener.
3216

§ 559

Cinna. Ich bin Cinna der Poetl Ich bin nicht Cinna der Verschworene.
3217

§ 560

Bürger. Es tut nichts; sein Name ist Cinna, reißt ihm den Namen
3218 aus dem Herzen und laßt ihn laufen.
3219

§ 561

3220

§ 562

—83—
3221

§ 563

Der Affekt bei der Wahrnehmung meines Irrtums läßt sich besser
3222 verstehen als Furcht, durch solche Ausgaben arm zu werden.
3223 Aber beides, das Bedauern wegen dieser Ausgabe und die an sie
3224 geknüpfte Verarmungsangst, sind meinem Bewußtsein völlig fremd;
3225 ich habe das Bedauern nicht verspürt, als ich jene Summe zu-
3226sagte, und fände die Motivierung desselben lächerlich. Ich würde
3227 mir eine solche Regung wahrscheinlich gar nicht zutrauen, wenn
3228 ich nicht durch die Übung in Psychoanalysen bei Patienten mit
3229 dem Verdrängten im Seelenleben ziemlich vertraut wäre, und
3230 wenn ich nicht vor einigen Tagen einen Traum gehabt hätte,
3231 welcher die nämliche Lösung erforderte 1).
3232

§ 564

d) Nach W. Stekel zitiere ich folgenden Fall, für dessen
3233 Authentizität ich gleichfalls einstehen kann: „Ein geradezu un-
3234glaubliches Beispiel im Verschreiben und Verlesen ist in der
3235 Redaktion eines verbreiteten Wochenblattes vorgekommen. Die
3236 betreffende Leitung wurde öffentlich als „käuflich“ bezeichnet;
3237 es galt, einen Artikel der Abwehr und Verteidigung zu schreiben.
3238 Das geschah auch —— mit großer Wärme und großem Pathos.
3239 Der Chefredakteur des Blattes las den Artikel, der Verfasser selbst-
3240verständlich mehrmals im Manuskript, dann noch im Bürstenabzuge,
3241 alle waren sehr befriedigt. Plötzlich meldet sich der Korrektor und
3242 macht auf einen kleinen Fehler aufmerksam, der der Aufmerksamkeit
3243 aller entgangen war. Dort stand. es ja deutlich: Unsere Leser werden
3244 uns das Zeugnis ausstellen, daß wir immer in eigennützigster
3245 Weise für das Wohl der Allgemeinheit eingetreten sind. Selbst-
3246verständlich sollte es uneigennützigster Weise heißen. Aber
3247

§ 565

die wahren Gedanken brachen mit elementarer Gewalt durch die
3248 pathetische Rede.“
3249

§ 566

e) Ein Arzt hat ein Kind untersucht und schreibt nun ein
3250 Rezept für dasselbe nieder, in welchem Alcohol vorkommt. Die
3251 Mutter belästigt ihn während dieser Tätigkeit mit törichten und
3252 überflüssigen Fragen. Er nimmt sich innerlich fest vor, sich jetzt
3253 darüber nicht zu ärgern, führt diesen Vorsatz auch durch, hat
3254

§ 567

1) Es ist dies jener Traum, den ich in einer kurzen Abhandlung: „Über
3255 den Traum“, Nr. VIII der „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens“,
3256 herausgegeben von Löwenfeld und. Kurella, 1901, zum Paradigma
3257 genommen habe.
3258

§ 568

6*'
3259

§ 569

3260

§ 570

—84——
3261

§ 571

sich aber während der Störung verschrieben. Auf dem Rezept
3262 steht anstatt Alcohol zu lesen Acholl).
3263

§ 572

Der stofflichen Verwandtschaft wegen reihe ich hier einen
3264 Fall an, den E. Jones von A. A. Brill berichtet. Letzterer
3265 hatte sich, obwohl sonst völlig abstinent, von einem Freund ver—
3266 leiten lassen, etwas Wein zu trinken. Am nächsten Morgen gab
3267 ihm ein heftiger Kopfschmerz Anlaß, diese Nachgiebigkeit zu
3268 bedauern. Er hatte den Namen einer Patientin niederzuschreiben,
3269 die Ethel hieß, und schrieb anstatt dessen Ethyl2). Es kam
3270 dabei wohl auch in Betracht, daß die betreffende Dame selbst
3271 mehr zu trinken pflegte, als ihr gut tat.
3272

§ 573

f) Eine Dame richtet an ihre Schwester einige beglück-
3273wünschende Zeilen zum Einzug in deren neue und geräumige
3274 Wohnung. Eine dabei anwesende Freundin bemerkt, daß die
3275 Schreiberin eine falsche Adresse auf den Brief gesetzt hat, und
3276 zwar nicht die der eben verlassenen Wohnung, sondern die der
3277 ersten, längst aufgegebenen, welche die Schwester als eben ver-
3278heiratete Frau bezogen hatte. Sie macht die Schreiberin darauf
3279 aufmerksam. Sie haben recht, muß diese zugeben, aber wie
3280 komme ich darauf? Warum habe ich das getan? Die Freundin
3281 meint: Wahrscheinlich gönnen Sie ihr die schöne große Wohnung
3282 nicht, die sie jetzt bekommen soll, während Sie sich selbst im
3283 Raum beengt fühlen, und versetzen sie darum in die erste
3284 Wohnung zurück, in der sie es auch nicht besser hatte. — Gewiß
3285 gönne ich ihr die neue Wohnung nicht, gesteht die andere ehrlich
3286 zu. Sie setzt dann fort: Wie schade, daß man bei diesen Dingen
3287

§ 574

immer so gemein ist!
3288

§ 575

g) E. Jones teilt folgendes ihm von A. A. Brill überlassene
3289 Beispiel von Verschreiben mit. Ein Patient richtete an Dr. Brill
3290 ein Schreiben, in welchem er sich bemühte, seine Nervosität auf
3291 die Sorge und Erregung über den Geschäftsgang während einer
3292 Baumwollkrise zurückzuführen. In diesem Schreiben hieß es:
3293 my trouble is all due to that damned frigid wave; there is’nt
3294 even any seed. Er meinte mit „wave“ natürlich eine Welle,
3295 Strömung auf dem Geldmarkt; in Wirklichkeit schrieb er aber
3296

§ 576

1) Etwa: Keine Galle.
3297 2) Äthylalcohol.
3298

§ 577

3299

§ 578

nicht wave, sondern wife. Auf dem Grund seines Herzens
3300 ruhten Vorwürfe gegen seine Frau, wegen ihrer ehelichen Kälte
3301 und ihrer Kinderlosigkeit, und er war nicht weit entfernt von der
3302 Erkenntnis, daß die ihm aufgezwungene Entbehrung einen großen
3303 Anteil an der Verursachung seines Leidens habe.
3304

§ 579

h) Dr. R. Wagner erzählt von sich im Zentralblatt f.
3305 Psychoanalyse, I. Jahrg. 12:
3306

§ 580

Beim Durchlesen eines alten Kollegienheftes fand ich, daß
3307 mir in der Geschwindigkeit des Mitschreibens ein kleiner Lapsus
3308 unterlaufen war. Statt „Epithel“ hatte ich nämlich „Edithel“
3309 geschrieben. Mit Betonung der ersten Silbe gibt das das
3310 Diminutivum eines Mädchennamens. Die retrospektive Analyse
3311 ist einfach genug. Zur Zeit des Verschreibens war die Bekannt-
3312schaft zwischen mir und der Trägerin dieses Namens nur eine
3313 ganz oberflächliche, und erst viel später wurde daraus ein intimer
3314 Verkehr. Das Verschreiben ist also ein hübscher Beweis für
3315 den Durchbruch der unbewußten Neigung zu einer Zeit, wo ich
3316 selbst eigentlich davon noch keine Ahnung hatte, und die ge-
3317wählte Form des Diminutivums charakterisiert gleichzeitig die
3318 begleitenden Gefühle.
3319

§ 581

i) Frau Dr. Hellmuth, Beiträge zum Kapitel „Verschreiben
3320 und Verlesen“, Zentralbl. f. Psychoanalyse II, 5:
3321

§ 582

Ein Arzt verordnet einer Patientin Levitico statt Levico-
3322wasser. Dieser Irrtum, der einem Apotheker willkommenen
3323 Anlaß zu abfälligen Bemerkungen gegeben hatte, kann leicht
3324 einer milderen Auffassung begegnen, wenn man nach den möglichen
3325 Beweggründen aus dem Unbewußten forscht und ihnen, sind sie
3326 auch nur subjektive Annahme eines diesem Arzte Fernstehenden,
3327 eine gewisse Wahrscheinlichkeit nicht von vornherein abspricht:
3328 Dieser Arzt erfreute sich, trotzdem er seinen Patienten ihre wenig
3329 rationelle Ernährung in ziemlich derben Worten vorhielt, ihnen
3330 sozusagen die Leviten las, starken ZuspruchS, so daß sein
3331 Wartezimmer vor und in der Ordinationsstunde dicht besetzt war,
3332 was den Wunsch des Arztes rechtfertigte, das Ankleiden der ab-
3333solvierten Patienten möge sich möglichst rasch, vite, vite voll-
3334ziehen. Wie ich mich richtig zu erinnern glaube, war seine
3335 Gattin aus Frankreich gebürtig, was die etwas kühn scheinende
3336 Annahme, daß er _sich bei seinem Wunsche nach größerer Ge-
3337

§ 583

3338

§ 584

—86—
3339

§ 585

schwindigkeit seiner Patienten gerade der französischen Sprache
3340 bediente, einigermaßen rechtfertigt. Übrigens ist es eine bei
3341 vielen Personen anzutreffende Gewohnheit, solch kleinen Wünschen
3342 in fremder Sprache Worte zu verleihen, wie mein eigener Vater
3343 uns Kinder bei Spaziergängen gern durch den Zuruf „Avanti
3344 gioventü“ oder „Marchez au pas“ zur Eile drängte, dagegen
3345 wieder ein schon recht bejahrter Arzt, bei dem ich als junges
3346 Mädchen wegen eines Halsübels in Behandlung stand, meine ihm
3347 allzu raschen Bewegungen durch ein beschwichtigendes „Piano,
3348 piano“ zu hemmen suchte. So erscheint es mir recht gut denkbar,
3349 daß auch jener Arzt dieser Gewohnheit huldigte; und so „ver-
3350

§ 586

schreibt“ er Levitico — statt Levicowasser.
3351 Andere Beispiele aus der Jugenderinnerung der Verfasserin
3352 ebendaselbst (frazösisch statt französisch — Verschreiben des
3353

§ 587

Namens Karl).
3354

§ 588

Auslassungen im Schreiben haben natürlich Anspruch auf
3355 dieselbe Beurteilung wie Verschreibungen. Im Zentralbl. f. Psycho-
3356analyse I, 12 hat Jur. Dr. B. Dattner ein merkwürdiges Bei-
3357spiel einer „historischen Fehlleistung“ mitgeteilt. In einem
3358 der Gesetzesartikel über finanzielle Verpflichtungen der beiden
3359 Staaten, welche in dem Ausgleich zwischen Österreich und Un-
3360garn im Jahre 1867 vereinbart wurden, ist das Wort effektiv
3361 in der ungarischen Übersetzung weggeblieben, und Dattner
3362 macht es wahrscheinlich, daß die unbewußte Strömung der
3363 ungarischen Gesetzesredaktoren, Österreich möglichst wenig Vor-
3364teile zuzugestehen, an dieser Auslassung beteiligt gewesen sei.
3365

§ 589

Wundt gibt eine bemerkenswerte Begründung für die leicht
3366 zu bestätigende Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben als
3367 versprechen (l. c. S. 37-4). „Im Verlaufe der normalen Rede ist
3368 fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet,
3369 Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in
3370 Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungenfolgende Aus-
3371drucksbewegung durch mechanische Ursachen verlangsamt wie
3372 beim Schreiben . . ., so treten daher solche Antizipationen be-
3373sonders leicht ein.“
3374

§ 590

Die Beobachtung der Bedingungen, unter denen das Verlesen
3375 auftritt, gibt Anlaß zu einem Zweifel, den ich nicht unerwähnt
3376 lassen möchte, weil er nach meiner Schätzung der Ausgangspunkt
3377

§ 591

3378

§ 592

——87—
3379

§ 593

einer fruchtbaren Untersuchung werden kann. Es ist jedermann
3380 bekannt, wie häufig beim Vorlesen die Aufmerksamkeit des
3381 Lesenden den Text verläßt und sich eigenen Gedanken zuwendet.
3382 Die Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit ist nicht
3383 selten, daß er überhaupt nicht anzugeben weiß, was er gelesen
3384 hat, wenn man ihn im Vorlesen unterbricht und befragt. Er hat
3385 dann wie automatisch gelesen, aber er hat fast immer richtig
3386 vorgelesen. Ich glaube nicht, daß die Lesefehler sich unter
3387 solchen Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen
3388 Reihe von Funktionen sind wir auch gewöhnt anzunehmen, daß
3389 sie automatisch, also von kaum bewußter Aufmerksamkeit be-
3390gleitet, am exaktesten vollzogen werden. Daraus scheint zu folgen,
3391 daß die Aufmerksamkeitsbedingung der Sprech-, Lese- und Schreib-
3392fehler anders zu bestimmen ist, als sie bei Wun dt lautet (Wegfall
3393 oder Nachlaß der Aufmerksamkeit). Die Beispiele, die wir der
3394 Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht,
3395 eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen;
3396 wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine Störung
3397 der Aufmerksamkeit durch einen fremden, Anspruch erhebenden
3398 Gedanken 1).
3399

§ 594

VII.
3400 Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.
3401

§ 595

Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegen-
3402wärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte
3403 man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur
3404 Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es
3405 noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns
3406 und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja, die
3407 vollständige Zergliederung dessen, was man als tatsächlich be-
3408obachten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht
3409 ist uns heute das Vergessen rätselhafter geworden als das Erinnern,
3410

§ 596

1) Es steht nichts im Wege, die Druckfehler als „Verschreibungen“
3411 des Setzers zu behandeln und sie als zum größten Teil motiviert aufzufassen.
3412 Jones hat in seiner oft erwähnten Arbeit den „Misprints“ einen besonderen
3413 Absatz gewidmet.
3414

§ 597

3415

§ 598

——87——
3416

§ 599

einer fruchtbaren Untersuchung werden kann. Es ist jedermann
3417 bekannt, wie häufig beim Vorlesen die Aufmerksamkeit des
3418 Lesenden den Text verläßt und sich eigenen Gedanken zuwendet.
3419 Die Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit ist nicht
3420 selten, daß er überhaupt nicht anzugeben weiß, was er gelesen
3421 hat, wenn man ihn im Vorlesen unterbricht und befragt. Er hat
3422 dann wie automatisch gelesen, aber er hat fast immer richtig
3423 vorgelesen. Ich glaube nicht, daß die Lesefehler sich unter
3424 solchen Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen
3425 Reihe von Funktionen sind wir auch gewöhnt anzunehmen, daß
3426 sie automatisch, also von kaum bewußter Aufmerksamkeit be-
3427gleitet, am exaktesten vollzogen werden. Daraus scheint zu folgen,
3428 daß die Aufmerksamkeitsbedingung der Sprech-, Lese- und Schreib-
3429fehler anders zu bestimmen ist, als sie bei Wun dt lautet (Wegfall
3430 oder Nachlaß der Aufmerksamkeit). Die Beispiele, die wir der
3431 Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht,
3432 eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen;
3433 wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine Störung
3434 der Aufmerksamkeit durch einen fremden, Anspruch erhebenden
3435 Gedanken 1).
3436

§ 600

VII.
3437 Vergessen von Eindrücken und Vorsötzen.
3438

§ 601

Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegen-
3439wärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte
3440 man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur
3441 Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es
3442 noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns
3443 und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja, die
3444 vollständige Zergliederung dessen, was man als tatsächlich be-
3445obachten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht
3446 ist uns heute das Vergessen rätselhafter geworden als das Erinnern,
3447

§ 602

1) Es steht nichts im Wege, die Druckfehler als „Verschreibungen“
3448 des Setzers zu behandeln und sie als zum größten Teil motiviert aufzufassen.
3449 Jones hat in seiner oft erwähnten Arbeit den „Misprints“ einen besonderen
3450 Absatz gewidmet.
3451

§ 603

3452

§ 604

__ 8-8 __
3453

§ 605

seitdem uns das Studium des Traumes und pathologischer Ereig-
3454nisse gelehrt hat, daß auch das plötzlich wieder im Bewußtsein
3455 auftauchen kann, was wir für längst vergessen geschätzt haben.
3456

§ 606

Wir sind allerdings im Besitze einiger weniger Gesichtspunkte,
3457 für welche wir allgemeine Anerkennung erwarten. Wir nehmen
3458 an, daß das Vergessen ein spontaner Vorgang ist, dem man einen
3459 gewissen zeitlichen Ablauf zuschreiben kann. Wir heben hervor,
3460 daß beim Vergessen eine gewisse Auswahl unter den dargebotenen
3461 Eindrücken stattfindet und ebenso unter den Einzelheiten eines
3462 jeden Eindrucks oder Erlebnisses. Wir kennen einige der Be-
3463dingungen für die Haltbarkeit im Gedächtnis und für die Erweckbar-
3464keit dessen, was sonst vergessen würde. Bei unzähligen Anlässen
3465 im täglichen Leben können wir aber bemerken, wie unvollständig
3466 und unbefriedigend unsere Erkenntnis ist. Man höre zu, wie zwei
3467 Personen, die gemeinsam äußere Eindrücke empfangen, z.B. eine
3468 Reise miteinander gemacht haben, eine Zeitlang später ihre Er-
3469innerungen austauschen. Was dem einen fest im Gedächtnis ge-
3470blieben ist, das hat der andere oft vergessen, als ob es nicht ge-
3471schehen wäre, und zwar ohne daß man ein Recht zur Behauptung
3472 hätte, der Eindruck sei für den einen psychisch bedeutsame-r ge-
3473wesen als für den anderen. Eine ganze Anzahl der die Auswahl
3474 fürs Gedächtnis bestimmenden Momente entzieht sich offenbar noch
3475 unserer Kenntnis.
3476

§ 607

In der Absicht, zur Kenntnis der Bedingungen des Vergessens
3477 einen kleinen Beitrag zu liefern, pflege ich die Fälle, in denen
3478 mir das Vergessen selbst widerlährt, einer psychologischen Analyse
3479 zu unterziehen. Ich beschäftige mich in der Regel nur mit einer
3480 gewissen Gruppe dieser Fälle, mit jenen nämlich, in denen das
3481 Vergessen mich in Erstaunen setzt, weil ich nach meiner Erwartung
3482 das Betreffende wissen sollte. Ich will noch bemerken, daß ich
3483 zur Vergeßlichkeit im allgemeinen (für Erlebtes, nicht für Ge-
3484lerntes!) nicht neige, und daß ich durch eine kurze Periode meiner
3485 Jugend auch außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen nicht unfähig
3486 war. In meiner Schulknabenzeit war es mir selbstverständlich,
3487 die Seite des Buches, die ich gelesen hatte, auswendig hersagen
3488 zu können, und kurz vor der Universität war ich imstande, p0pu-
3489läre Vorträge wissenschaftlichen Inhalts unmittelbar nachher fast
3490 wortgetreu niederzuschreiben. In der Spannung vor dem letzten
3491

§ 608

3492

§ 609

———89——
3493

§ 610

medizinischen Rigorosum muß ich noch Gebrauch von dem Rest
3494 dieser Fähigkeit gemacht haben, denn ich gab in einigen Gegen-
3495ständen den Prüfern wie automatisch Antworten, die sich getreu
3496 mit dem Text des Lehrbuches deckten, welchen ich doch nur ein-
3497mal in der größten Hast durchflogen hatte.
3498

§ 611

Die Verfügung über den Gedächtnisschatz ist seither bei mir
3499 immer schlechter geworden, doch habe ich mich bis in die letzte
3500 Zeit hinein überzeugt, daß ich mit Hilfe eines Kunstgriffes weit
3501 mehr erinnern kann, als ich mir sonst zutraue. Wenn z.B. ein
3502 Patient in der Sprechstunde sich darauf beruft, daß ich ihn schon
3503 einmal gesehen habe, und ich mich weder an die Tatsache noch an
3504 den Zeitpunkt erinnern kann, so helfe ich mir, indem ich rate, d. h.
3505 mir rasch eine Zahl von Jahren, von der Gegenwart an gerechnet,
3506 einfallen lasse. Wo Aufschreibungen oder die sichere Angabe des
3507 Patienten eine Kontrolle meines Einfalles ermöglichen, da zeigt es
3508 sich, daß ich selten um mehr als ein Halbjahr bei über 10 Jahren
3509 geirrt habe1). Ähnlich, wenn ich einen entfernteren Bekannten
3510 treffe, den ich aus Höflichkeit nach seinen kleinen Kindern frage.
3511 Erzählt er von den Fortschritten derselben, so suche ich mir ein-
3512fallen zu lassen, wie alt das Kind jetzt ist, kontrolliere durch die
3513 Auskunft des Vaters und gehe höchstens um einen Monat, bei
3514 älteren Kindern um ein Vierteljahr fehl, obwohl ich nicht angeben
3515 kann, welche Anhaltspunkte ich für diese Schätzung hatte. Ich
3516 bin zuletzt so kühn geworden, daß ich meine Schätzung immer
3517 spontan vorbringe, und laufe dabei nicht Gefahr, den Vater durch
3518 die Bloßstellung meiner Unwissenhait über seinen Sprößling zu
3519 kränken. Ich erweitere so mein bewußtes Erinnern durch Anrufen
3520 meines jedenfalls weit reichhaltigeren unbewußten Gedächtnisses.
3521

§ 612

Ich werde also über auffällige Beispiele von Vergessen,
3522 die ich zumeist an mir selbst beobachtet, berichten. Ich unter-
3523scheide Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen, also von Wissen,
3524 und Vergessen von Vorsätzen, also Unterlassungen. Das einförmige
3525 Ergebnis der ganzen Reihe von Beobachtungen kann ich voran-
3526stellen: In allen Fällen erwies sich das Vergessen als be-
3527gründet durch ein Unlustmotiv.
3528

§ 613

1) Gewöhnlich pflegen dann im Laufe der Besprechung die Einzelheiten
3529 des damaligen ersten Besuches bewußt aufzutauchen.
3530

§ 614

3531

§ 615

A. Vergessen von Eindrücken und Kenntnissen.
3532

§ 616

a) Im Sommer gab mir meine Frau einen an sich harmlosen
3533 Anlaß zu heftigem Ärger. Wir saßen an der Table dhöte einem
3534 Herrn aus Wien gegenüber, den ich kannte, und der sich wohl
3535 auch an mich zu erinnern wußte. Ich hatte aber meine Gründe,
3536 die Bekanntschaft nicht zu erneuern. Meine Frau, die nur den
3537 ansehnlichen Namen ihres Gegenüber gehört hatte, verriet zu sehr,
3538 daß sie seinem Gespräch mit den Nachbarn zuhörte, denn sie
3539 wandte sich von Zeit zu Zeit an mich mit Fragen, die den dort
3540 gesponnenen Faden aufnahmen. Ich wurde ungeduldig und endlich
3541 gereizt. Wenige Wochen später führte ich bei einer Verwandten
3542 Klage über dieses Verhalten meiner Frau. Ich war aber nicht
3543 imstande, auch nur ein Wort von der Unterhaltung jenes Herrn
3544 zu erinnern. Da ich sonst eher nachtragend bin und keine Einzel-
3545heit eines Vorfalls, der mich geärgert hat, vergessen kann, ist
3546 meine Amnesie in diesem Falle wohl durch Rücksichten auf die
3547 Person der Ehefrau motiviert. Ähnlich erging es mir erst vor
3548 kurzem wieder. Ich wollte mich gegen einen intim Bekannten
3549 über eine Äußerung meiner Frau lustig machen, die erst vor
3550 wenigen Stunden gefallen war, fand mich aber in diesem Vorsatz
3551 durch den bemerkenswerten Umstand gehindert, daß ich die be-
3552treffende Äußerung spurlos vergessen hatte. Ich mußte erst meine
3553 Frau bitten, mich an dieselbe zu erinnern. Es ist leicht zu ver-
3554stehen, daß dies mein Vergessen analog zu lassen ist der typischen
3555 Urteilsstörung, welcher wir unterliegen, wenn es sich um unsere
3556 nächsten Angehörigen handelt.
3557

§ 617

b) Ich hatte es übernommen, einer fremd in Wien an—
3558 gekommenen Dame eine kleine eiserne Handkassette zur Auf-
3559bewahrung ihrer Dokumente und Gelder zu besorgen. Als ich,
3560 mich dazu erbot, schwebte mir mit ungewöhnlicher visueller Leb-
3561haftigkeit das Bild einer Auslage in der Inneren Stadt vor, in
3562 welcher ich solche Kassen gesehen haben mußte. Ich konnte mich
3563 zwar an den Namen der Straße nicht erinnern, fühlte mich aber
3564 sicher, daß ich den Laden auf einem Spaziergang durch die Stadt
3565 auffinden werde, denn meine Erinnerung sagte mir, daß ich un-
3566zählige Male an ihm vorübergegangen sei. Zu meinem Ärger ge-
3567lang es mir aber nicht, diese Auslage mit den Kasetten aufzufinden,
3568

§ 618

3569

§ 619

___91__
3570

§ 620

obwohl ich die Innere Stadt nach allen Richtungen durchstreifte. '
3571 Es blieb mir nichts anderes übrig, meinte ich, als mir aus einem
3572 Adressenkalender die Kassenfabrikanten herauszusuchen, um dann
3573 auf einem zweiten Rundgang die gesuchte Auslage zu identi-
3574fizieren. Es bedurfte aber nicht soviel; unter den im Kalender
3575 angezeigten Adressen befand sich eine, die sich mir sofort als die
3576 vergessene enthüllte. Es war richtig, daß ich ungezählte Male an
3577 dem Auslagefenster vorübergegangen war, jedesmal nämlich, wenn
3578 ich die Familie M. besucht hatte, die seit langen Jahren in dem
3579 nämlichen Hause wohnt. Seitdem dieser intime Verkehr einer
3580 völligen Entfremdung gewichen war, pflegte ich, ohne mir von
3581 den Gründen Rechenschaft zu geben, auch die Gegend und das
3582 Haus zu meiden. Auf jenem Spaziergang durch die Stadt hatte
3583 ich, als ich die Kassetten in der Auslage suchte, jede Straße in
3584 der Umgebung begangen, dieser einen aber war ich, als ob ein
3585 Verbot darauf läge, ausgewichen. Das Unlustmotiv, welches in
3586 diesem Fall meine Unorientiertheit verschuldete, ist greifbar. Der
3587 Mechanismus des Vergessens ist aber nicht mehr so einfach wie
3588 im vorigen Beispiel. Meine Abneigung gilt natürlich nicht dem
3589 Kassenfabrikanten, sondern einem anderen, von dem ich nichts
3590 wissen will, und überträgt sich von diesem anderen auf die Ge-
3591legenheit, wo sie das Vergessen zustande bringt. Ganz ähnlich
3592 hatte im Falle Burckhard der Groll gegen den einen den Schreib-
3593fehler im Namen hervorgebracht, wo es sich um den anderen
3594 handelte. Was hier die Namensgleichheit leistete, die Verknüpfung
3595 zwischen zwei im Wesen verschiedenen Gedankenkreisen her-
3596zustellen, das konnte im Beispiel von dem Auslagefenster die
3597 Kontiguität im Raum, die untrennbare Nachbarschaft, ersetzen.
3598 Übrigens war dieser letzte Fall fester gefügt; es fand sich noch
3599 eine zweite inhaltliche Verknüpfung vor, denn unter den Gründen
3600 der Entfremdung mit der im Hause wohnenden Familie hatte das
3601 Geld eine Rolle gespielt.
3602

§ 621

c) Ich werde von dem Bureau B. & R. bestellt, einen ihrer
3603 Beamten ärztlich zu besuchen. Auf dem Wege zu dessen Wohnung
3604 beschäftigt mich die Idee, ich müßte schon wiederholt in dem
3605 Hause gewesen sein, in welchem sich die Firma befindet. Es ist
3606 mir, als ob mir die Tafel derselben in einem niedrigen Stockwerk
3607 aufgefallen wäre, während ich in einem höheren einen ärztlichen
3608

§ 622

3609

§ 623

__92_
3610

§ 624

Besuch zu machen hatte. Ich kann mich aber weder daran er-
3611innern, welches dieses Haus ist, noch wen ich dort besucht habe.
3612 Obwohl die ganze Angelegenheit gleichgültig und bedeutungslos_
3613 ist, beschäftige ich mich doch mit ihr und erfahre endlich auf
3614 dem gewöhnlichen Umwege, indem ich meine Einfälle dazu sammle,
3615 daß sich einen Stock über den Lokalitäten der Firma B. & R. die
3616 Pension Fischer befindet, in welcher ich häufig Patienten besucht
3617 habe. Ich kenne jetzt auch das Haus, welches die Bureaus und
3618 die Pension beherbergt. Rätselhaft ist mir noch, welches Motiv
3619 bei diesem Vergessen im Spiele war. Ich finde nichts für die Er-
3620innerung Anstößiges an der Firma selbst oder an Pension Fischer
3621 oder an den Patienten, die dort wohnten. Ich vermute auch, daß
3622 es sich um nicht sehr Peinliches handeln kann; sonst wäre es mir
3623 kaum gelungen, mich des Vergessenen auf einem Umwege wieder
3624 zu bemächtigen, ohne äußere Hilfsmittel wie im vorigen Beispiel
3625 heranzuziehen. Es fällt mir endlich ein, daß mich eben vorhin,
3626 als ich den Weg zu dem neuen Patienten antrat, ein Herr auf
3627 der Straße gegrüßt hat, den ich Mühe hatte zu erkennen. Ich
3628 hatte diesen Mann vor Monaten in einem anscheinend schweren
3629 Zustand gesehen und die Diagnose der progressiven Paralyse
3630 über ihn verhängt, dann aber gehört, daß er hergestellt sei, so
3631 daß mein Urteil unrichtig gewesen wäre. Wenn nicht etwa hier
3632 eine der Remissionen vorliegt, die sich auch bei Dementia para-
3633lytica finden, so daß meine Diagnose doch noch gerechtfertigt
3634 wäre! Von dieser Begegnung ging der Einfluß aus, der mich an
3635 die Nachbarschaft der Bureaus von B. & R. vergessen ließ, und
3636 mein Interesse, die Lösung des Vergessenen zu finden, war von
3637 diesem Fall strittiger Diagnostik her übertragen. Die assoziative
3638 Verknüpfung aber wurde bei geringem inneren Zusammenhang —
3639 der wider Erwarten Genesene war auch Beamter eines großen
3640 Bureaus, welches mir Kranke zuzuweisen pflegte — durch eine
3641 Namensgleichheit besorgt. Der Arzt, mit welchem gemeinsam ich
3642 den fraglichen Paralytiker gesehen hatte, hieß auch Fischer, wie
3643 die in dem Haus befindliche, vom Vergessen betroffene Pension.
3644

§ 625

d) Ein Ding verlegen heißt ja nichts anderes als vergessen,
3645 wohin man es gelegt hat, und wie die meisten mit Schriften und
3646 Büchern hantierenden Personen bin ich auf meinem Schreibtisch wohl
3647 orientiert und weiß das Gesuchte mit einem Griff hervorzuholen.
3648

§ 626

3649

§ 627

Was anderen als Unordnung erscheint, ist für mich historisch ge-
3650wordene Ordnung. Warum habe ich aber unlängst einen Bücher-
3651katalog, der mir zugeschickt wurde, so verlegt, daß er unauffindbar
3652 _ geblieben ist? Ich hatte doch die Absicht, ein Buch, das ich darin
3653 angezeigt fand, „Über die Sprache“, zu bestellen, weil es von
3654 einem Autor herrührt, dessen geistreich belebten Stil ich liebe,
3655 dessen Einsicht in der Psychologie und dessen Kenntnisse in der
3656 Kulturhistorie ich zu schätzen weiß. Ich meine, gerade darum
3657 habe ich den Katalog verlegt. Ich pflege nämlich Bücher dieses
3658 Autors zur Aufklärung unter meinen Bekannten zu verleihen, und
3659 vor wenigen Tagen hat mir jemand bei der Rückstellung gesagt:
3660 „Der Stil erinnert mich ganz an den Ihrigen, und auch die Art
3661 zu denken ist 'dieselbe.“ Der Redner wußte nicht, an was er mit
3662 dieser Bemerkung rührte. Vor Jahren, als ich noch jünger und
3663 anschlußbedürftiger war, hat mir ungefähr das Nämliche ein älterer
3664 Kollege gesagt, dem ich die Schriften eines bekannten medizi-
3665nischen Autors angepriesen hatte. „Ganz Ihr Stil und Ihre Art.“
3666 So beeinflußt hatte ich diesem Autor einen um näheren Verkehr
3667 werbenden Brief geschrieben, wurde aber durch eine kühle Antwort
3668 in meine Schranken zurückgewiesen. Vielleicht verbergen sich
3669 außerdem noch frühere abschreckende Erfahrungen hinter dieser
3670 letzten, denn ich habe den verlegten Katalog nicht wiedergefunden
3671 und bin durch dieses Vorzeichen wirklich abgehalten worden, das
3672 angezeigte Buch zu bestellen, obwohl ein wirkliches Hindernis
3673 durch das Verschwinden des Kataloges nicht geschaffen worden ist.
3674 Ich habe ja die Namen des Buches und des Autors im Gedächtnis
3675 behalten 1).
3676

§ 628

e) Ein anderer Fall von Verlegen verdient wegen der Be-
3677dingungen, unter denen das Verlegte wiedergefunden wurde, unser
3678 Interesse. Ein jüngerer Mann erzählt mir: Es gab vor einigen
3679 Jahren Mißverständnisse in meiner Ehe, ich fand meine Frau zu
3680 kühl, und obwohl ich ihre vortrefi'lichen Eigenschaften gerne an-
3681erkannte, lebten wir ohne Zärtlichkeit nebeneinander. Eines Tages
3682 brachte sie mir von einem Spaziergange ein Buch mit, das sie
3683 gekauft hatte, weil es mich interesSieren dürfte. Ich dankte für
3684 dieses Zeichen von „Aufmerksamkeit“, versprach das Buch zu lesen,
3685

§ 629

1) Für vielerlei Zufälligkeiten, die man seit Th. Vischer der „Tücke
3686 des Objekts“ zuschreibt, möchte ich ähnliche Erklärungen vorschlagen.
3687

§ 630

3688

§ 631

___‘94 __
3689

§ 632

legte es mir zurecht und fand es nicht wieder. Monate vergingen
3690 so, in denen ich mich gelegentlich an dies verschollene Buch er-
3691innerte und es auch vergeblich aufzufinden versuchte. Etwa ein
3692 halbes Jahr später erkrankte meine, getrennt von uns wohnende,
3693 geliebte Mutter. Meine Frau verließ das Haus, um ihre Schwieger-
3694mutter zu pflegen. Der Zustand der Kranken wurde ernst und
3695 gab meiner Frau Gelegenheit, sich von ihren besten Seiten zu zeigen.
3696 Eines Abends komme ich begeistert von der Leistung meiner Frau
3697 und dankerfüllt gegen sie nach Hause. Ich trete zu meinem Schreib-
3698tisch, öüne ohne bestimmte Absicht, aber wie mit somnambuler
3699 Sicherheit eine bestimmte Lade desselben und zuoberst in ihr finde
3700 ich das so lange vermißte, das verlegte Buch.
3701

§ 633

f) das nachstehende Beispiel von „Verlegen“ entspricht einem
3702 Typus, der jedem Psychoanalytiker bekannt geworden ist. Ich
3703 darf angeben, der Patient, der dieses Verlegen produzierte, hat den
3704 Schlüssel dazu selbst gefunden:
3705

§ 634

Ein in psychoanalytischer Behandlung stehender Patient, bei
3706 dem die sommerliche Unterbrechung der Kur in eine Periode des
3707 Widerstandes und schlechten Befindens fällt, legt abends beim
3708 Entkleiden seinen Schlüsselbund, wie er meint, auf den gewohnten
3709 Platz. Dann erinnert er sich, daß er für die Abreise am nächsten
3710 Tag, dem letzten der Kur, an dem auch das Honorar fällig wird,
3711 noch einige Gegenstände aus dem Schreibtisch nehmen will, wo
3712 er auch das Geld verwahrt hat. Aber die Schlüssel sind —- ver-
3713schwunden. Er beginnt seine kleine Wohnung systematisch, aber
3714 in steigender Erregung abzusuchen ——- ohne Erfolg. Da er das
3715 „Verlegen“ der Schlüssel als Symptomhandlung, also als be-
3716abSichtigt, erkennt, weckt er seinen Diener, um mit Hilfe einer
3717 „unbefangenen“ Person weiterzusuchen. Nach einer weiteren
3718 Stunde gibt er das Suchen auf und fürchtet, daß er die Schlüssel
3719 verloren habe. Am nächsten Morgen bestellt er beim Fabrikanten
3720 der Schreibtischkasse neue Schlüssel, die in aller Eile angefertigt
3721 werden. Zwei Bekannte, die ihn im Wagen nach Hause begleitet
3722 haben, wollen sich erinnern, etwas auf den Boden klirren gehört
3723 zu haben, als er aus dem Wagen stieg. Er ist überzeugt, daß
3724 ihm die Schlüssel aus der Tasche gefallen sind. Abends präsen—
3725 tierte ihm der Diener triumphierend die Schlüssel. Sie lagen
3726 zwischen einem dicken Buch und einer dünnen Broschüre, einer
3727

§ 635

3728

§ 636

__ 95 __
3729

§ 637

Arbeit eines meiner Schüler, die er zur Lektüre für die Ferien
3730 mitnehmen wollte, so geschickt hingelegt, daß niemand sie dort
3731 vermutet hätte. Es war ihm dann unmöglich, die Lage der
3732 Schlüssel so unsichtbar nachzuahmen. Die unbewußte Geschick-
3733lichkeit, mit der ein Gegenstand infolge von geheimen aber starken
3734 Motiven verlegt wird, erinnert ganz an die „somnambule Sicher-
3735heit“. Das Motiv war natürlich Unmut über die Unterbrechung
3736 der Kur und die geheime Wut, bei so schlechtem Befinden ein
3737 hohes Honorar zahlen zu müssen.
3738

§ 638

g) Ein Mann, erzählt A. A. Brill, wurde von seiner Frau ge-
3739drängt, an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teilzunehmen, die
3740 ihm im Grunde sehr gleichgültig war. Er gab ihren Bitten endlich
3741 nach und begann seinen Festanzug aus dem Koffer zu nehmen,
3742 unterbrach sich aber darin und beschloß sich zuerst zu rasieren.
3743 Als er damit fertig geworden war, kehrte er zum Koffer zurück,
3744 fand ihn aber zugeklappt, und der Schlüssel war nicht aufzufinden.
3745 Ein Schlosser war nicht aufzutreiben, da es Sonntag abends war,
3746 und so mußten die beiden sich in der Gesellschaft entschuldigen
3747 lassen. Als der Koffer am nächsten Morgen geöffnet wurde, fand
3748 sich der Schlüssel drinnen. Der Mann hatte ihn in der Zerstreut-
3749heit in den Koffer fallen lassen und diesen ins Schloß geworfen.
3750 Er gab mir zwar die Versicherung, daß er ganz ohne Wissen und
3751 Absicht so getan habe, aber wir wissen, daß er nicht in die Gesell-
3752schaft gehen wollte. Das Verlegen des Schlüssels ermangelte also
3753 nicht eines Motivs.
3754

§ 639

E. Jones beobachtete an sich selbst, daß er jedesmal die
3755 Pfeife zu verlegen pflegte, nachdem er zuviel geraucht hatte und
3756 sich darum unwohl fühlte. Die Pfeife fand sich dann an allen
3757 möglichen Stellen, wo sie nicht hin gehörte und wo sie für ge-
3758wöhnlich nicht aufbewahrt wurde.
3759

§ 640

Wenn man die Fälle von Verlegen übersicht, wird es wirklich
3760 schwer anzunehmen, daß ein Verlegen jemals anders als infolge
3761 einer unbewußten Absicht erfolgt. '
3762

§ 641

h) Im Sommer des Jahres 1901 erklärte ich einmal einem
3763 Freunde, mit dem ich damals in regem Gedankenaustausch über
3764 wissenschaftliche Fragen stand: Diese neurotischen Probleme sind
3765 nur dann zu lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden der
3766 Annahme einer ursprünglichen Bisexualität des Individuums stellen.
3767

§ 642

3768

§ 643

—96 „......
3769

§ 644

Ich erhielt zur Antwort: „Das habe ich dir schon vor 21/2 Jahren
3770 in Br. gesagt, als wir jenen Abendspaziergang machten. Du wolltest
3771 damals nichts davon hören.“ Es ist nun schmerzlich, so zum
3772 Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu werden. Ich konnte
3773 mich an ein solches Gesmäch und an diese Eröffnung meines
3774 Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden mußte sich da
3775 täuschen; nach dem Prinzip der Frage cui prodest? mußte ich
3776 das sein. Ich habe im Laufe der nächsten Wochen in der Tat
3777 alles so erinnert, wie mein Freund es in mir erwecken wollte; ich
3778 weiß selbst, was ich damals zur Antwort gab: Dabei halte ich
3779 noch nicht, ich will mich darauf nicht einlassen. Aber ich bin
3780 seither um ein Stück toleranter geworden, wenn ich irgendwo in
3781 der medizinischen Literatur auf eine der wenigen Ideen stoße, mit
3782 denen man meinen Namen verknüpfen kann, und wenn ich dabei
3783 die Erwähnung meines Namens vermisse.
3784

§ 645

Ausstellungen an seiner Ehefrau —— Freundschaft, die ins
3785 Gegenteil umschlagen hat — Irrtum in ärztlicher Diagnostik ——
3786 Zurückweisung durch Gleichstrebende —— Entlehnung von Ideen;
3787

§ 646

es ist wohl kaum zufällig, daß eine Anzahl von Beispielen des
3788 Vergessens, die ohne Auswahl gesammelt worden sind, zu ihrer
3789 Auflösung des Eingehens auf so peinliche Themata bedürfen. Ich
3790 vermute vielmehr, daß jeder andere, der sein eigenes Vergessen
3791 einer Prüfung nach den Motiven unterziehen will, eine ähnliche
3792 Musterkarte von Widerwärtigkeiten aufzeichnen können wird. Die
3793 Neigung zum Vergessen des Unangenehmen scheint mir ganz all-
3794gemein zu sein; die Fähigkeit dazu ist wohl bei verschiedenen
3795 Personen verschieden gut ausgebildet. Manches Ableugnen, das
3796 uns in der ärztlichen Tätigkeit begegnet, ist wahrscheinlich auf
3797 Vergessen zurückzuführen 1). Unsere Auffassung eines solchen
3798

§ 647

1) Wenn man sich bei einem Menschen erkundigt, ob er vor 10 oder
3799 15 Jahren eine luetische Infektion durchgemacht hat, vergißt man zu leicht
3800 daran, daß der Befragte diesen Krankheitszufall psychisch ganz anders
3801 behandelt hat als etwa einen akuten Rheumatismus. — In den Anamnesen,
3802 welche Eltern über ihre neurotisch erkrankten Töchter geben, ist der Anteil
3803 des Vergessens von dem des Verbergens kaum je mit Sicherheit zu sondern,
3804 weil alles, was der späteren Verheiratung des Mädchens im Wege steht,
3805 von den Eltern systematisch beseitigt, d. h. verdrängt wird. —- Ein Mann,
3806 der vor kurzem seine geliebte Frau an einer Lungenaffektion verloren, teilt mir
3807 nachstehenden Fall von Irreführung der ärztlichen Erkundigung mit, der nur
3808

§ 648

3809

§ 649

_97__
3810

§ 650

Vergessens beschränkt den Unterschied zwischen dem und jenem
3811 Benehmen allerdings auf rein psychologische Verhältnisse und ge-
3812stattet uns, in beiden Reaktionsweisen den Ausdruck desselben
3813 Motivs zu sehen. Von all den zahlreichen Beispielen der Ver-
3814leugnung unangenehmer Erinnerungen, die ich bei Angehörigen von
3815 Kranken gesehen habe, ist mir eines als besonders seltsam im Ge-
3816dächtnis geblieben. Eine Mutter informierte mich über die Kinder-
3817jahre ihres nervenkranken, in der Pubertät befindlichen Sohnes
3818 und erzählte dabei, daß er wie seine Geschwister bis in späte
3819 Jahre an Bettnässen gelitten habe, was ja für eine neurotische
3820 Krankengeschichte nicht bedeutungslos ist. Einige Wochen später,
3821 als sie sich Auskunft über den Stand der Behandlung’holen wollte,
3822 hatte ich Anlaß, sie auf die Zeichen konstitutioneller Krankheits-
3823veranlagung bei dem jungen Mann aufmerksam zu machen, und
3824 berief mich hierbei auf das anamnestisch erhobene Bettnässen. Zu
3825 meinem Erstaunen bestritt sie die Tatsache sowohl für dies als auch
3826 für die anderen Kinder, fragte mich, woher ich das wissen könne,
3827

§ 651

auf solches Vergessen zurückführbar ist: „Als die Plenritis meiner armen Frau
3828 nach vielen Wochen noch nicht weichen wollte, wurde Dr. P. als Consiliarius
3829 berufen. Bei der Aufnahme der Anamnese stellte er die üblichen Fragen,
3830 u. a. auch, ob in der Familie meiner Frau etwa Lungenkrankheiten vor-
3831gekommen seien. Meine Frau verneinte und auch ich erinnerte mich nicht.
3832 Bei der Verabschiedung des Dr. P. kommt das Gespräch wie zufällig auf
3833 Ausflüge, und meine Frau sagt: Ja, auch bis Langersdorf, wo mein armer
3834 Bruder begraben liegt, ist eine weite Reise. Dieser Bruder war vor
3835 etwa 15 Jahren nach mehrjährigem tuberkulösen Leiden gestorben. Meine
3836 Frau hatte ihn sehr geliebt und mir oft von ihm gesprochen. Ja, es fiel
3837 mir ein, daß sie seinerzeit, als die Plenritis festgestellt wurde, sehr besorgt
3838 war und trübsinnig meinte: Auch mein Bruder ist an der Lunge
3839 gestorben. Nun aber war die Erinnerung daran so sehr verdrängt, daß
3840 sie auch nach dem vorhin angeführten Ausspruch über den Ausflug nach L.
3841 keine Veranlassung fand, ihre Auskunft über Erkrankungen in ihrer Familie
3842 zu korrigieren. Mir selbst fiel das Vergessen in demselben Moment wieder
3843 ein, wo sie von Langersdorf sprach.“ —- Ein völlig analoges Erlebnis erzählt
3844 E. Jones in der hier bereits mehrmals erwähnten Arbeit. Ein Arzt, dessen
3845 Frau an einer diagnostisch unklaren Unterleibserkrankung litt, bemerkte zu
3846 ihr wie tröstend: „Es ist doch gut, daß in deiner Familie kein Fall von
3847 Tuberkulose vorgekommen ist“. Die Frau antwortete aufs äußerste überrascht:
3848 „Hast du denn vergessen, daß meine Mutter an Tuberkulose gestorben ist,
3849 und daß meine Schwester von ihrer Tuberkulose nicht eher hergestellt wurde,
3850 als bis die Ärzte sie aufgegeben hatten?“
3851

§ 652

F r e u d , Psychopathologie des Alltagslebens. 7
3852

§ 653

3853

§ 654

——98—
3854

§ 655

und hörte endlich von mir, daß sie selbst es mir vor kurzer Zeit
3855 erzählt habe, was also von ihr vergessen worden war 1).
3856

§ 656

Man findet also auch bei gesunden nicht neurotischen Menschen
3857 reichlich Anzeichen dafür, daß sich der Erinnerung an peinliche
3858 Eindrücke, der Vorstellung peinlicher Gedanken, ein Widerstand
3859 entgegensetzfi). Die volle Bedeutung dieser Tatsache läßt sich
3860 aber erst ermessen, wenn man in die Psychologie neurotischer
3861 Personen eingeht. Man ist genötigt, ein solches elementares Ab-
3862

§ 657

1) In den Tagen, während ich mit der Niederschrift dieser Seiten
3863 beschäftigt war, ist mir folgender, fast unglaublicher Fall von Vergessen
3864 widerfahren. Ich revidiere am 1. Januar mein ärztliches Buch, um meine-
3865Honorarrechnungen aussenden zu können, stoße dabei im Juni auf den Namen
3866 M . . .l und kann mich an eine zu ihm gehörige Person nicht erinnern.
3867 Mein Befremden wächst, indem ich beim Weiterblättern bemerke, daß ich
3868 den Fall in einem Sanatorium behandelt, und daß ich ihn durch Wochen
3869 täglich besucht habe. Einen Kranken, mit den man sich unter solchen Be-
3870dingungen beschäftigt, vergißt man als Arzt nicht nach kaum 6 Monaten.
3871 Sollte es ein Mann, ein Paralytiker, ein Fall ohne Interesse gewesen sein,
3872 frage ich mich? Endlich bei dem Vermerk über das empfangene Honorar
3873 kommt mir all die Kenntnis wieder, die sich der Erinnerung entziehen wollte
3874 M . . . 1 war ein 14jähriges Mädchen gewesen, der merkwürdigste Fall meiner
3875 letzten Jahre, welcher mir eine Lehre hinterlassen, die ich kaum je vergessen
3876 werde, und dessen Ausgang mir die peinlichsten Stunden bereitet hat. Das
3877 Kind erkrankte an unzweideutiger Hysterie, die sich auch unter meinen
3878 Händen rasch und gründlich besserte Nach dieser Besserung wurde mir
3879 das Kind von den Eltern entzogen; es klagte noch über abdominale Schmerzen,
3880 denen die Hauptrolle im Symptombild der Hysterie zugcfallen war. Zwei
3881 Monate später war es an Sarkom der Unterleibsdrüsen gestorben. Die
3882 Hysterie, zu der das Kind nebstbei prädisponiert war, hatte die Tumorbildung
3883 zur provozierenden Ursache genommen, und ich hatte, von den lärmenden,
3884 aber harmlosen Erscheinungen der Hysterie gefesselt, vielleicht die ersten
3885 Anzeichen der schleichenden und unheilvollen Erkrankung übersehen.
3886

§ 658

2) A. Pick hat kürzlich (Zur Psychologie des Vergessens bei Geistes--
3887und Nervenkranken, Archiv für Kriminal-Anthr0pologie und Kriminalistik
3888 von H. Gross) eine Reihe von Autoren zusammengestellt, die den Einfluß
3889 afiektiver Faktoren auf das Gedächtnis würdigen und —— mehr oder minder
3890 deutlich — den Beitrag anerkennen, denn das Abwehrbestreben gegen Unlust
3891 zum Vergessen leistet. Keiner von uns allen hat aber das Phänomen und
3892 seine psychologische Begründung so erschöpfcnd und zugleich so eindrucks-
3893voll darstellen können wie Nietzsche in einem seiner Aphorismen (Jenseits
3894 von Gut und Böse, II. Hauptstück 68): „Das habe ich getan, sagt mein
3895 „Gedächtnis“. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz
3896 und bleibt unerbittlich. Endlich «— gibt das Gedächtnis nach.“
3897

§ 659

3898

§ 660

___99__
3899

§ 661

wehrbestreben gegen Vorstellungen, welche Unlustempfindungen
3900 erwecken können, ein Bestreben, daß sich nur dem Fluchtrefiex
3901 bei Schmerzreizen an die Seite stellen laßt, zu einem der Haupt-
3902pfeiler des Mechanismus zu machen, welcher die hysterischen
3903 Symptome trägt. Man möge gegen die Annahme einer solchen
3904 Abwehrtendenz nicht einwenden, daß wir es im Gegenteil häufig
3905 genug unmöglich finden, peinliche Erinnerungen, die uns verfolgen,
3906 los zu werden und peinliche Affektregungen wie Reue, Gewissens-
3907vorwürfe' zu verscheuchen. Es wird ja nicht behauptet, daß diese
3908 Abwehrtendenz sich überall durchzusetzen vermag, daß sie nicht
3909 im Spiel der psychischen Kräfte auf Faktoren stoßen kann, welche
3910 zu anderen Zwecken das Entgegengesetzte anstreben und ihr zum
3911 Trotz zustande bringen. Als das architektonische Prinzip
3912 des seelischen Apparates laßt sich die Schichtung, der
3913 Aufbau aus einander überlagernden Instanzen erraten,
3914 und es ist sehr wohl möglich, daß dies Abwehrbestreben einer
3915 niedrigeren psychischen Instanz angehört, von höheren Instanzen
3916 aber gehemmt wird. Es spricht jedenfalls für die Existenz und
3917 Mächtigkeit dieser Tendenz zur Abwehr, wenn wir Vorgänge wie
3918 die in unseren Bei53pielen von Vergessen auf sie zurückführen
3919 können. Wir sehen, daß manches um seiner selbst willen vergessen
3920 wird; wo dies nicht möglich ist, verschiebt die Abwehrtendenz ihr
3921 Ziel und bringt wenigstens etwas anderes, minder Bedeutsames,
3922 zum Vergessen, was in assoziative Verknüpfung mit dem eigentlich
3923 Anstößigen geraten ist.
3924

§ 662

Der hier entwickelte Gesichtspunkt, daß peinliche Erinnerungen
3925 mit besonderer Leichtigkeit dem motivierten Vergessen verfallen,
3926 verdiente auf mehrere Gebiete bezogen zu werden, in denen er
3927 heute noch keine oder eine zu geringe Beachtung gefunden hat.
3928 So erscheint er mir noch immer nicht genügend scharf betont bei
3929 der Würdigung von Zeugenaussagen vor Gerichtl), wobei man
3930 offenbar der unter Eidstellung des Zeugen einen allzu großen
3931 purifizierenden Einfluß auf dessen psychisches Kräftespiel zutraut.
3932 Daß man bei der Entstehung der Traditionen und der Sagen-
3933geschichte eines Volkes einem solchen Motiv, das dem National-
3934gefühl Peinliche aus der Erinnerung auszumerzen, Rechnung
3935

§ 663

1) Vgl. Hans Groß, Kriminalpsychologie. 1898.
3936 7*
3937

§ 664

3938

§ 665

-— 100—
3939

§ 666

tragen muß, wird allgemein zugestanden. Vielleicht würde sich
3940 bei genauerer Verfolgung eine vollständige Analogie herausstellen
3941 zwischen der Art, wie Völkertraditionen und wie die Kindheits-
3942erinnerungen des einzelnen Individuums gebildet werden. Der
3943 große Darwin hat aus seiner Einsicht in dies Unlustmotiv des
3944 Vergessens eine „goldene Regel“ für den wissenschaftlichen
3945 Arbeiter gezogen 1).
3946

§ 667

Ganz ähnlich wie beim Namenvergessen kann auch beim
3947 Vergessen von Eindrücken Fehlerinnern eintreten, das dort, wo
3948 es Glauben findet, als Erinnerungstäuschung bezeichnet wird. Die
3949 Erinnerungstäuschung in pathologischen Fällen — in der Paranoia
3950 spielt sie geradezu die Rolle eines konstituierenden Momentes bei
3951 der Wahnbildung —— hat eine ausgedehnte Literatur wachgerufen,
3952 in welcher ich durchgängig den Hinweis auf eine Motivierung
3953 derselben vermisse. Da auch dieses Thema der N eurosenpsychologie
3954 angehört, entzieht es sich in unserem Zusammenhange der Be-
3955handlung. Ich werde dafür ein sonderbares Beispiel einer eigenen
3956 Erinnerungstäuschung mitteilen, bei dem die Motivierung durch
3957 unbewußtes verdrängtes Material und die Art und Weise der Ver-
3958knüpfung mit demselben deutlich genug kenntlich werden.
3959

§ 668

Als ich die späteren Abschnitte meines Buches über Traum-
3960deutung schrieb, befand ich mich in einer Sommerfrische ohne
3961 Zugang zu Bibliotheken und N achschlagebüchern und war genötigt,
3962 mit Vorbehalt späterer Korrektur, allerlei Beziehungen und Zitate
3963

§ 669

1) Darwin über das Vergessen. In der Autobiographie Darwins
3964 findet sich folgende Stelle, welehe seine wissenschaftliche Ehrlichkeit und.
3965 seinen psychologischen Scharfsinn überzeugend wiederspiegelt:
3966

§ 670

„I had, during many years, followed a golden rule, namely, that
3967 whenever a published fact, a new observation or thought came across me,
3968 which was cpposed to my general results, to make a memorandum of it
3969 without fail and at once; for I had found by experience that such facts and
3970 thoughts were far more apt to escape from the memory than favourable ones.“
3971

§ 671

Ernest Jones.
3972

§ 672

„Viele Jahre hindurch befolgte ich eine goldene Regel. Fand ich
3973 nämlich eine veröffentlichte Tatsache, eine neue Beobachtung oder einen
3974 Gedanken, welcher einem meiner allgemeinen Ergebnisse widersprach, so
3975 notierte ich denselben sofort möglichst wortgetreu. Denn die Erfahrung
3976 hatte mich gelehrt, daß solche Tatsachen und Erfahrungen dem Gedächtnisse
3977 leichter entschwinden als die uns genehmen.“ (Übersetzung des Zentralbl.
3978 f. Psychoanalyse.)
3979

§ 673

3980

§ 674

— 101 ——
3981

§ 675

aus dem Gedächtnis in das Manuskript einzutragen. Beim Abschnitt
3982 über das Tagträumen fiel mir die ausgezeichnete Figur des armen
3983 Buchhalters im „Nabab“ von Alph. Daudet ein, mit welcher
3984 der Dichter wahrscheinlich seine eigene Träumerei geschildert hat.
3985 Ich glaubte mich an eine der Phantasien, die dieser Mann _
3986 Mr. Jocelyn nannte ich ihn —— auf seinen Spaziergängen durch
3987 die Straßen von Paris ausbrütet, deutlich zu erinnern und begann
3988 sie aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Wie also Herr Jocelyn
3989 auf der Straße sich kühn einem durchgehenden Pferd entgegen-
3990wirft, es zum Stehen bringt, der Wagenschlag sich öffnet, eine
3991 hohe Persönlichkeit dem Coupé entsteigt, Herrn Jocelyn die Hand
3992 drückt und ihm sagt: „Sie sind mein Retter, Ihnen verdanke ich
3993 mein Leben. Was kann ich für Sie tun?“ ‘
3994

§ 676

Etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe dieser Phantasie,
3995 tröstete ich mich,-würden sich leicht zu Hause verbessern lassen,
3996 wenn ich das Buch zur Hand nahme. Als ich dann aber den
3997 „Nabab“ durchblätterte, um die druckbereite Stelle meines
3998 Manuskriptes zu vergleichen, fand ich zu meiner größten Be-
3999schämung und Bestürzung nichts von einer solchen Träumerei des
4000 Herrn Jocelyn darin, ja der arme Buchhalter trug gar nicht
4001 diesen Namen, sondern hieß Mr. J oyeuse. Dieser zweite Irrtum
4002 gab dann bald den Schlüssel zur Klärung des ersten, der Erinne-
4003rungstäuschung. J oyeux (wovon der Name die feminine Form
4004 darstellt): so und nicht anders müßte ich meinen eigenen Namen:
4005 Freud ins Französische übersetzen. Woher konnte also die
4006 fälschlich erinnerte Phantasie sein, die ich Daudet zugeschrieben
4007 hatte? Sie konnte nur ein eigenes Produkt sein, ein Tagtraum,
4008 den ich selbst gemacht, und der mir nicht bewußt geworden, oder
4009 der mir einst bewust gewesen, und den ich seither gründlich
4010 vergessen habe. Vielleicht daß ich ihn selbst in Paris gemacht,
4011 wo ich oft genug einsam und voll Sehnsucht durch die Straßen
4012 Spaziert bin, eines Helfers und Protektors sehr bedürftig, bis
4013 Meister Charcot mich dann ’in seinen Verkehr zog. Den Dichter
4014 des „Nabab“ habe ich dann wiederholt im Hause Charcots
4015 gesehen. Das Ärgerliche an der Sache ist nur, daß ich kaum
4016 irgendeinem anderen Vorstellun gskreise so feindselig gegenüberstehe,
4017 wie dem des Protegiertwerdens. Was man in unserem Vaterlande
4018 davon sieht, verdirbt einem alle Lust daran, und meinem Charakter
4019

§ 677

4020

§ 678

—— 102 ——-—
4021

§ 679

sagt die Situation des Protektionskindes überhaupt wenig zu. Ich
4022 habe immer ungewöhnlich viel Neigung dazu versPürt, „selbst der
4023 brave Mann zu sein“. Und gerade ich mußte dann an solche,
4024 übrigens nie erfüllte, Tagträume gemahnt werden. Außerdem ist
4025 der Vorfall auch ein gutes Beispiel dafür, wie die zurückgehaltene
4026 —- in der Paranoia siegreich hervorbrechende —— Beziehung zum
4027 eigenen Ich uns in der objektiven Erfassung der Dinge stört und
4028 verwirrt.
4029

§ 680

Ein anderer Fall von Erinnerungstäuschung, der sich be-
4030friedigend aufklären ließ, mahnt an die später zu besprechende
4031 „fausse reoonnaissance“: Ich hatte einem meiner Patienten, einem
4032 ehrgeizigen und befähigten Manne erzählt, daß ein junger Student
4033 sich kürzlich durch‘ eine interessante Arbeit „Der Künstler, Ver-
4034such einer Sexualpsychologie“ in den Kreis meiner Schüler ein-
4035geführt habe. Als diese Schrift 11/4 Jahre später gedruckt vor-
4036lag, behauptete mein Patient, sich mit Sicherheit daran erinnern
4037 zu können, daß er die Ankündigung derselben bereits vor meiner
4038 ersten Mitteilung (einen Monat oder ein halbes Jahr vorher)
4039 irgendwo, etwa in einer Buchhändleranzeige, gelesen habe. Es
4040 sei ihm diese Notiz auch damals gleich in den Sinn gekommen,
4041 und er konstatierte überdies, daß der Autor den Titel verändert
4042 habe, da es nicht mehr „Versuch“, sondern „Ansätze zu einer
4043 Sexualpsychologie“ heiße. Sorgfältige Erkundigung beim Autor
4044 und Vergleichung aller Zeitangaben zeigten indes, daß mein
4045 Patient etwas Unmögliches erinnern wollte. Von jener Schrift war
4046 nirgends eine Anzeige vor dem Drucke erschienen, am wenigsten
4047 aber 11/4 Jahre vor ihrer Drucklegung. Als ich eine Deutung
4048 dieser Erinnerungstäuschung unterließ, brachte derselbe Mann eine
4049 gleichwertige Erneuerung derselben zustande. Er meinte, vor
4050 kurzem eine Schrift über „ Agoraphobie“ in dem Auslagefenster
4051 einer Buchhandlung bemerkt zu haben, und suchte derselben nun
4052 durch Nachforschung in allen Verlagskatalogen habhaft zu werden.
4053 Ich konnte ihn dann aufklären, warum diese Bemühung erfolglos
4054 bleiben mußte. Die Schrift über Agoraphobie bestand erst in
4055 seiner Phantasie als unbewußter Vorsatz und sollte von ihm selbst
4056 abgefaßt werden. Sein Ergeiz, es jenem jungen Manne gleichzutun
4057 und durch eine solche wissenschaftliohe Arbeit zum Schüler zu
4058 werden, hatte ihn zu jener ersten wie zur wiederholten Einnerungs-
4059

§ 681

4060

§ 682

—— 103 ——
4061

§ 683

täuschung geführt. Er besann sich dann auch, daß die Buch-
4062händleranzeige, welche ihn zu diesem falschen Erkennen gedient
4063 hatte, sich auf ein Werk betitelt: „Genesis, Das Gesetz der Zeugung“
4064 bezog. Die von ihm erwähnte Abänderung des Titels kam aber
4065 auf meine Rechnung, denn ich wußte mich selbst zu erinnern,
4066 daß ich diese Ungenauigkeit in der Wiedergabe des Titels „Ver-
4067such —— anstatt: Ansätze“ begangen hatte.
4068

§ 684

B. Das Vergessen von Vorsätzen.
4069

§ 685

Keine andere Gruppe von Phänomenen eignet sich besser
4070 zum Beweis der These, daß die Geringfügigkeit der Aufmerksam-
4071keit für sich allein nicht hinreiche, die Fehlleistung zu erklären,
4072 als die des Vergessens von Vorsätzen. Ein Vorsatz ist ein Impuls
4073 zur Handlung, der bereits Billigung gefunden hat, dessen Aus-
4074führung aber auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben wurde.
4075 Nun kann in dem so geschaffenen Intervall allerdings eine derartige
4076 Veränderung in den Motiven eintreten, daß der Vorsatz nicht zur
4077 Ausführung gelangt, aber dann wird er nicht vergessen, sondern
4078 revidiert und aufgehoben. Das Vergessen von Vorsätzen, dem wir
4079 alltäglich und in allen möglichen Situationen unterliegen, pflegen
4080 wir uns nicht durch eine Neuerung in der Motivengleichung zu
4081 erklären, sondern lassen es gemeinhin unerklärt, oder wir Suchen
4082 eine psychologische Erklärung in der Annahme, gegen die Zeit
4083 der Ausführung hin habe sich die erforderliche Aufmerksamkeit
4084 für die Handlung nicht mehr bereit gefunden, die doch für das
4085 Zustandekommen des Vorsatzes unerläßliche Bedingung war, damals
4086 also für die nämliche Handlung zur Verfügung stand. Die Be-
4087obachtung unseres normalen Verhaltens gegen Vorsätze läßt uns
4088 diesen Erklärungsversuch als willkürlich abweisen. Wenn ich des
4089 Morgens einen Vorsatz fasse, der abends ausgeführt werden soll,
4090 so kann ich im Laufe des Tages einigemal an ihn gemahnt werden.
4091 Er braucht aber tagsüber überhaupt nicht mehr bewußt zu werden.
4092 Wenn sich die Zeit der Ausführung nähert, fällt er mir plötzlich
4093 ein und veranlaßt mich, die zur vorgesetzten Handlung nötigen
4094 Vorbereitungen zu treffen. Wenn ich auf einen Spaziergang einen
4095 Brief mitnehme, welcher noch befördert werden soll, so brauche
4096 ich ihn als normales und nicht nervöses Individuum keineswegs
4097 die ganze Strecke über in der Hand zu tragen und unterdessen
4098

§ 686

4099

§ 687

—— 104—-
4100

§ 688

nach einem Briefkasten auszuspähen, in den ich ihn werfe, sondern
4101 ich pflege ihn in die Tasche zu stecken, meiner Wege zu gehen,
4102 meine Gedanken frei schweifen zu lassen, und ich rechne darauf,
4103 daß einer der nächsten Briefkästen meine Aufmerksamkeit erregen
4104 und mich veranlassen wird, in die Tasche zu greifen und den
4105 Brief hervorzuziehen. Das normale Verhalten beim gefaßten Vor-
4106satz deckt sich vollkommen mit dem experimentell zu erzeugenden
4107 Benehmen von Personen, denen man eine sog. „posthypnotische
4108 Suggestion auf lange Sicht“ in der Hypnose eingegeben hat 1).
4109 Man ist gewöhnt, das Phänomen in folgender Art zu beschreiben:
4110 Der suggerierte Vorsatz schlummert in den betreffenden Personen,
4111 bis die Zeit seiner Ausführung herannaht. Dann wacht er auf,
4112 und treibt zur Handlung.
4113

§ 689

In zweierlei Lebenslagen gibt sich auch der Laie Rechen-
4114schaft davon, daß das Vergessen in bezug auf Vorsätze keineswegs
4115 den Anspruch erheben darf, als ein nicht weiter zurückführbares
4116 Elémentarphänomen zu gelten, sondern zum Schluß auf unein-
4117gestandene Motive berechtigt. Ich meine: im Liebesverhältnis und
4118 in der Militärabhängigkeit. Ein Liebhaber, der das Rendezvous
4119 versäumt hat, wird sich vergeblich bei seiner Dame entschuldigen,
4120 er habe leider ganz daran vergessen. Sie wird nicht versäumen,
4121 ihm zu antworten: „Vor einem Jahre hättest du es nicht vergessen.
4122 Es liegt dir eben nichts mehr an mir.“ Selbst wenn er nach der
4123 oben erwähnten psychologischen Erklärung griffe und sein Ver-
4124gessen durch gehäufte Geschäfte entschuldigen wollte, würde er
4125 nur erreichen, daß die Dame — so scharfsichtig geworden wie
4126 der Arzt in der Psychoanalyse —-— zur Antwort gäbe: „Wie merk-
4127würdig, daß sich solche geschäftliche Störungen früher nicht
4128 ereignet haben.“ Gewiß will auch die Dame die Möglichkeit des
4129 Vergessens nicht in Abrede stellen; sie meint nur, und nicht mit
4130 Unrecht, aus dem unabsichtlichen Vergessen sei ungefähr der
4131 nämliche Schluß auf ein gewisses Nichtwollen zu ziehen wie aus
4132 der bewußten Ausflucht.
4133

§ 690

Ähnlich wird im militärischen Dienstverhältnis der Unterschied
4134 zwischen der Unterlassung durch Vergessen und der infolge von
4135

§ 691

1) Vgl. Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggest-ion und
4136 Psychotherapie, 1892.
4137

§ 692

4138

§ 693

—— 105——
4139

§ 694

Absicht prinzipiell, und zwar mit Recht, vernachlässigt. Der Soldat
4140 darf an nichts vergessen, was der militärische Dienst von ihm
4141 fordert. Wenn er doch daran vergißt, obwohl ihm die Forderung
4142 bekannt ist, so geht dies so zu, daß sich den Motiven, die auf
4143 Erfüllung der militärischen Forderung dringen, andere Gegen-
4144motive entgegenstellen. Der Einjährige etwa, der sich beim Rapport
4145 entschuldigen wollte, er habe vergessen, seine Knöpfe blank zu
4146 putzen, ist der Strafe sicher. Aber diese Strafe ist geringfügig
4147 zu nennen im Vergleich zu jener, der er sich aussetzte, wenn er
4148 das Motiv seiner Unterlassung sich und seinen Vorgesetzten ein-
4149gestehen würde: „Der elende Gamaschendienst ist mir ganz zu-
4150wider.“ Wegen dieser Strafersparnis, aus ökonomischen Gründen
4151 gleichsam, bedient er sich des Vergessens als Ausrede, oder es
4152 kommt als Kompromiß zustande.
4153

§ 695

Frauendienst wie Militärdienst erheben den Anspruch, daß
4154 alles zu ihnen gehörige dem Vergessen entrückt sein müsse, und
4155 erwecken so die Meinung, Vergessen sei zulässig bei unwichtigen
4156 Dingen, während es bei wichtigen Dingen ein Anzeichen davon
4157 ei, daß man sie wie unwichtige behandeln wolle, ihnen also die
4158 Wichtigkeit abspreche 1). Der GesichtSpunkt der psychischen Wert-
4159schätzung ist hier in der Tat nicht abzuweisen. Kein Mensch
4160 vergißt Handlungen auszuführen, die ihm selbst wichtig erscheinen,
4161 ohne sich dem Verdachte geistiger Störung auszusetzen. Unsere
4162 Untersuchung kann sich also nur auf das Vergessen von mehr
4163 oder minder nebensächlichen Vorsätzen erstrecken; für ganz und
4164 gar gleichgültig werden wir keinen Vorsatz erachten, denn in
4165 diesem Falle wäre er wohl gewiß nicht gefaßt worden.
4166

§ 696

Ich habe nun wie bei den früheren Funktionsstörungen die
4167 bei mir selbst beobachteten Fälle von Unterlassung durch Ver-
4168gessen gesammelt und aufzuklären gesucht und hierbei ganz all-
4169gemein gefunden, daß sie auf Einmengung unbekannter und un—
4170

§ 697

3) In dem Schauspiel „Caesar und Kle0patra“ von B. Shaw quält sich
4171 der von Ägypten scheidende Caesar eine Weile mit der Idee, er habe noch
4172 etwas vorgehabt, was er jetzt vergessen. Endlich stellt sich heraus, woran
4173 Caesar vergessen hatte: von Kleopatra Abschied zu nehmen! Durch diesen
4174 kleinen Zug soll veranschaulicht werden, -— übrigens im vollen Gegensatz
4175 zur historischen Wahrheit — wie wenig sich Caesar aus der kleinen
4176 ägyptischen Prinzessin gemacht hat. (Nach E. Jones 1. c., S. 488.)
4177

§ 698

4178

§ 699

—— 106 ——
4179

§ 700

eingestandener Motive -— oder, wie man sagen kann, auf einen
4180 Ge genwillen -—-— zurückzuführen waren. In einer Reihe dieser
4181 Fälle befand ich mich in einer dem Dienstverhältnisse ähnlichen
4182 Lage, unter einem Zwange, gegen welchen ich es nicht ganz auf-
4183gegeben hatte, mich zu sträuben, so daß ich durch Vergessen
4184 gegen ihn demonstrierte. Dazu gehört, daß ich besonders leicht
4185 vergesse, zu Geburtstagen, Jubiläen, Hochzeitsfeiern und Standes-
4186erhöhungen zu gratulieren. Ich nehme es mir immer wieder vor,
4187 und überzeuge mich immer mehr, daß es mir nicht gelingen will.
4188 Ich bin jetzt im Begrifie, darauf zu verzichten, und den Motiven,
4189 die sich sträuben, mit Bewußtsein recht zu geben. In einem
4190 Übergangsstadium habe ich einem Freund, der mich bat, auch
4191 für ihn ein Glückwunschtelegramm zum bestimmten Termin zu
4192 besorgen, vorher gesagt, ich würde an beide vergessen, und es
4193 war nicht zu verwundern, daß-die Pr0phezeiung wahr wurde. Es
4194 hängt nämlich mit schmerzlichen Lebenserfahrungen zusammen,
4195 daß ich nicht imstande bin, Anteilnahme zu äußern, wo diese
4196 Äußerung notwendigerweise übertrieben ausfallen muß, da für
4197 den geringen Betrag meiner Ergrifi‘enheit der entsprechende Aus-
4198druck nicht zulässig ist. Seitdem ich erkannt, daß ich oft vor-
4199gebliche Sympathie bei anderen für echte genommen habe, befinde
4200 ich mich in einer Auflehnung gegen diese Konventionen der Mit-
4201gefühlsbezeugung, deren soziale Nützlichkeit ich anderseits ein-
4202sehe. Kondolenzen bei Todesfällen sind von dieser zwiespältigen
4203 Behandlung ausgenommen; wenn ich mich zu ihnen entschlossen
4204 habe, versäume ich sie auch nicht. Wo meine Gefühlsbetätigung
4205 mit gesellschaftlicher Pflicht nichts mehr zu tun hat, da findet sie
4206 ihren Ausdruck auch niemals durch Vergessen gehemmt.
4207

§ 701

Ähnlich erklären sich durch den Widerstreit einer kon-
4208ventionellen Pflicht und einer nicht eingestandenen inneren
4209 Schätzung die Fälle, in denen man Handlungen auszuführen ver-
4210gißt, die man einem anderen zu seinen Gunsten auszuführen ver-
4211sprochen hat. Hier trth es dann regelmäßig zu, daß nur der
4212 Gönner an die entschuldigende Kraft des Vergessens glaubt,
4213 während der Bittsteller sich ohne Zweifel die richtige Antwort
4214 gibt: Er hat kein Interesse daran, sonst hätte er es nicht ver-
4215gessen. Es gibt Menschen, die man als allgemein vergeßlich
4216 bezeichnet und darum in ähnlicher Weise als entschuldigt gelten
4217

§ 702

4218

§ 703

-— 107 ——
4219

§ 704

läßt wie etwa den Kurzsichtigen, wenn er auf der Straße nicht
4220 grüßtl). Diese Personen vergessen alle kleinen Versprechungen,
4221 die sie gegeben, lassen alle Aufträge unausgeiührt, die sie
4222 empfangen haben, erweisen sich also in kleinen Dingen als un-
4223verläßlich und erheben dabei die Forderung, daß man ihnen diese
4224 kleineren Verstöße nicht übelnehmen, d.h. nicht durch ihren
4225 Charakter erklären, sondern auf organische Eigentümlichkeit
4226 zurückführen solle2). Ich gehöre selbst nicht zu diesen Leuten
4227 und habe keine Gelegenheit gehabt, die Handlungen einer solchen
4228 Person zu analysieren, um durch die Auswahl des Vergessens die
4229 Motivierung desselben aufzudecken. Ich kann mich aber der
4230 Vermutung per analogiam nicht erwehren, daß hier ein un-
4231gewöhnlich großes Maß von nicht eingestandener Geringschätzung
4232 des anderen das Motiv ist, welches das konstitutionelle Moment
4233 für seine Zwecke ausbeutet3).
4234

§ 705

1) Frauen sind mit ihrem feinen Verständnis für unbewußte seelische
4235 Vorgänge in der Regel eher geneigt, es als Beleidigung anzusehen, wenn
4236 man sie auf der Straße nicht erkennt, also nicht grüßt, als an die nächst-
4237liegenden Erklärungen zu denken, daß der Säumige kurzsichtig sei oder in
4238 Gedanken versunken sie nicht bemerkt habe. Sie schließen, man hätte sie
4239 schon bemerkt, wenn man sich „etwas aus ihnen machen würde“.
4240

§ 706

2) Dr. Ferenczi berichtet von sich, daß er selbst ein „Zerstreuter“
4241 gewesen ist und seinen Bekannten durch die Häufigkeit und Sonderbarkeit
4242 seiner Fehlhandlungen auffällig war. Die Zeichen dieser „Zerstreutheit“ sind
4243 aber fast völlig gesohwuuden, seitdem er die psychoanalytische Behandlung
4244 von Kranken zu üben begann und sich genötigt sah, auch der Analyse seines
4245 eigenen Ichs Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man verziehtet, meint er, auf
4246 die Fehlhandlungen, wenn man seine eigene Verantwortlichkeit um so vieles
4247 auszudehnen lernt. Er hält daher mit Recht die Zerstreutheit für einen
4248 Zustand, der von unbewußten Komplexen abhängig und durch Psychoanalyse
4249 heilbar ist. Eines Tages aber stand er unter dem Selbstvorwurfe, bei einem
4250 Patienten einen Kunstfehler in der Psychoanalyse begangen zu haben. An
4251 diesem Tag stellten sich alle seine früheren „Zerstreutheiten“ wieder ein.
4252 Er stolperte mehrmals im Gehen auf der Straße (Darstellung jenes „faux
4253 pas“ in der Behandlung), vergaß sein’e Brieftasche zu Hause, wollte auf der
4254

§ 707

Trambahn einen Kreuzer weniger zahlen, hatte seine Kleidungsstücke nicht
4255 ordentlich zugeknöpft u. dgl.
4256

§ 708

3) E. Jones bemerkt hierzu: Often the resistance is of a general order.
4257 Thusa busy man forgets to post letters entrusted to him — to his slight
4258 annoyance — by his wife, just as he may „forget“ to carry out her
4259 shopping orders.
4260

§ 709

4261

§ 710

— 108 ——
4262

§ 711

Bei anderen Fällen sind die Motive des Vergessens weniger
4263 leicht aufzufinden und erregen, wenn gefunden, ein größeres Be-
4264fremden. So merkte ich in früheren Jahren, daß ich bei einer
4265 größeren Anzahl von Krankenbesuchen nie an einen anderen Be-
4266such vergesse als bei einem Gratispatienten oder bei einem
4267 Kollegen. Aus Beschämung hierüber hatte ich mir angewöhnt,
4268 die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren.
4269 Ich weiß nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zu der
4270 gleichen Übung gekommen sind. Aber man gewinnt so eine
4271 Ahnung davon, was den sog. Neurastheniker veranlaßt, die Mite
4272 teilungen, die er dem Arzt machen will, . auf dem berüchtigten
4273 „Zettel“ zu notieren. Angeblich fehlt es ihm an Zutrauen zur
4274 Reproduktionsleistung seines Gedächtnisses. Das ist gewiß richtig,
4275 aber die Szene geht zumeist so vor sich: Der Kranke hat seine
4276 verschiedenen Beschwerden und Anfragen höchst langatmig vor-
4277gebracht. Nachdem er fertig geworden ist, macht er einen Moment
4278 Pause, darauf zieht er den Zettel hervor und sagt entschuldigend:
4279 Ich habe mir etwas aufgeschrieben, weil ich mir so gar nichts
4280 merke. In der Regel findet er auf dem Zettel nichts Neues. Er
4281 wiederholt jeden Punkt und beantwortet ihn selbst: Ja, danach
4282 habe ich schon gefragt. Er demonstriert mit dem Zettel wahr-
4283scheinlich nur eines seiner Symptome, die Häufigkeit, mit der
4284 seine Vorsätze durch Einmengung dunkler Motive gestört werden.
4285

§ 712

Ich rühre ferner an Leiden, an welchen auch der größere
4286 Teil der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe,
4287 daß ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange
4288 Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder daß
4289 es mir besonders leicht begegnet ist, Zahlungen durch Vergessen
4290 aufzuschieben. Unlängst verließ ich eines Morgens die Tabak-
4291trafik, in welcher ich meinen täglichen Zigarreneinkauf. gemacht
4292 hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war eine höchst harmlose Unter-
4293lassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten,
4294 “am nächsten Tage an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die
4295 kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiß
4296 nicht außer Zusammenhang mit den Budgeterwägungen, die mich
4297 den Vortag über beschäftigt hatten. In bezug auf das Thema von
4298 Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Ver-
4299haltens auch bei den meisten sog. anständigen Menschen leicht
4300

§ 713

4301

§ 714

— 109 -——
4302

§ 715

nachweisen. Die primitive Gier des Säuglings, der sich aller
4303 Objekte zu bemächtigen sucht (um sie zum Munde zu führen),
4304 zeigt sich vielleicht allgemein als nur unvollständig durch Kultur
4305 und Erziehung überwunden 1).
4306

§ 716

Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach
4307 banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn
4308 ich auf Dinge stoße, die jedermann bekannt sind, und die jeder
4309 in der nämlichen Weise versteht, da ich bloß vorhabe, das All-
4310tägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten. Ich sehe
4311 nicht ein, weshalb der Weisheit, die Niederschlag der gemeinen
4312 Lebenserfahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen der
4313 Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die Verschiedenheit der
4314 Objekte, sondern die strengere Methode bei der Feststellung und
4315 das Streben nach weitreichendem Zusammenhang machen den
4316 wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.
4317

§ 717

1) Der Einheit des Themas zuliebe darf ich hier die gewählte Einteilung
4318 durchbrechen und dem oben Gesagten anschließen, daß in bezug auf Geld-
4319sachen das Gedächtnis der Menschen eine besondere Parteilichkeit zeigt.
4320 Erinnerungstäuschungen, etwas bereits bezahlt zu haben, sind, wie ich von
4321 mir selbst weiß, oft sehr hartnäckig. Wo der gewinnsüohtigen Absicht abseits
4322 von den großen Interessen der Lebensführung, und daher eigentlich zum
4323 Scherz, freier Lauf gelassen wird wie beim Kartenspiel, neigen die ehrlichsten
4324 Männer zu Irrtümern, Erinnerungs- und Bechenfehlern und finden sich selbst,
4325 ohne recht zu wissen wie, in kleine Betrügereien verwickelt. Auf solchen
4326 Freiheiten beruht nicht zum mindesten der psychisch erfrischende Charakter
4327 des Spiels. Das Sprichwort, daß man beim Spiel den Charakter des Menschen
4328 erkennt, ist zuzugeben, wenn man hinzufügen will: den unterdrückten Cha-
4329rakter. — Wenn es unabsichtliche Bechenfehler bei Zahlkellnern noch gibt,
4330 so unterliegen sie offenbar derselben Beurteilung. —— Im Kaufmannsstande
4331 kann man häufig eine gewisse Zögerung in der Verausgabung von Geld-
4332summen, bei der Bezahlung von Rechnungen u. dgl. beobachten, die dem
4333 Eigner keinen Gewinn bringt, sondern nur psychologisch zu verstehen ist
4334 als eine Außerung des Gegenwillens, Geld von sich zu tun. -— Brill bemerkt
4335 hierüber mit epigrammatischer Schärfe: We are more apt to mislay letters
4336 containing bills than checks. — Mit den intimsten und am wenigsten klar
4337 gewordenen Begungen hängt es zusammen, wenn gerade Frauen eine besondere
4338 Unlust zeigen, den Arzt zu honorieren. Sie haben gewöhnlich ihr Porte-
4339monnaie vergessen, können darum in der Ordination nicht zahlen, vergessen
4340 dann regelmäßig, das Honorar vom Hause aus zu schicken, und setzen es
4341

§ 718

so durch, daß man sie umsonst —— „um ihrer schönen Augen willen“ -——— be-
4342handelt hat. Sie zahlen gleichsam mit ihrem Anblick. .
4343

§ 719

4344

§ 720

— 110—
4345

§ 721

Für die Vorsätze von einigem Belang haben wir allgemein
4346 gefunden, daß sie dann vergessen werden, wenn sich dunkle
4347 Motive gegen sie erheben. Bei noch weniger wichtigen Vorsätzen
4348 erkennt man als zweiten Mechanismus des Vergessens, daß ein
4349 Gegenwille sich von wo anders her auf den Vorsatz überträgt,
4350 nachdem zwischen jenem andern und dem Inhalt des Vorsatzes
4351 eine äußerliche Assoziation hergestellt worden ist. Hierzu ge-
4352hört folgendes Beispiel: lch lege Wert auf schönes Löschpapier
4353 und nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagsweg in die
4354 Innere Stadt neues einzukauien. Aber an vier aufeinanderfolgen-
4355den Tagen vergesse ich daran, bis ich mich befrage, welchen Grund
4356 diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem ich
4357 mich besonnen habe, daß ich zwar „Löschpapier“ zu schreiben,
4358 aber „Fließpapier“ zu sagen gewöhnt bin. „Fließ“ ist der Name
4359 eines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen Tagen Anlaß
4360 zu einem quälenden, besorgten Gedanken gegeben hatte. Diesen
4361 Gedanken kann ich nicht los werden, aber die Abwehrneigung
4362 (vgl. S. 99) äußert sich, indem sie sich mittels der Wortgleichheit
4363 auf den indifferenten und darum wenig resistenten Vorsatz überträgt.
4364

§ 722

Direkter Gegenwille und entierntere Motivierung treffen in
4365 folgendem Falle von Aufschub zusammen: In der Sammlung „ Grenz-
4366iragen des Nerven- und Seelenlebens“ hatte ich eine kurze Ab-
4367handlung über den Traum geschrieben, welche den Inhalt meiner
4368 „Traumdeutung“ resümiert. Bergmann in Wiesbaden sendet eine
4369 Korrektur und bittet um umgebende Erledigung, weil er das Heft
4370 noch vor Weihnachten ausgeben will. Ich mache die Korrektur
4371 noch in der Nacht und lege sie auf meinen Schreibtisch, um sie
4372 am nächsten Morgen mitzunehmen. Am Morgen vergesse ich
4373 daran, erinnere mich erst nachmittags beim Anblick des Kreuz-
4374bandes auf meinem Schreibtisch. Ebenso vergesse ich die Korrek-
4375tur am Nachmittage, am Abend und am nächsten Morgen, bis ich
4376 mich aufraffe und am Nachmittag des zweiten Tages die Korrektur
4377 zu einem Briefkasten trage, verwundert, was der Grund dieser
4378 Verzögerung sein mag. Ich will sie offenbar nicht absenden, aber
4379 ich finde nicht, warum. Auf demselben Spaziergang trete ich aber
4380 bei meinem Wiener Verleger, der auch das Traumbuch publiziert
4381 hat, ein, mache eine Bestellung und sage dann, wie von einem
4382 plötzlichen Einfall getrieben: „Sie wissen doch, daß ich den „Traum“
4383

§ 723

[/]
4384

112sagung hatte dann sicherlich nichts Mystisches an sich. Der so
4385 sprach, verspürte in sich den Vorsatz, den Auftrag nicht auszu-
4386führen und weigerte sich nur, sich zu ihm zu bekennen.
4387

§ 724

Das Vergessen von Vorsätzen erfährt übrigens eine gute Be-
4388leuchtung durch etwas, was man als „Fassen von falschen Vor-
4389sätzen“ bezeichnen könnte. Ich hatte einmal einem jungen Autor
4390 versprochen, ein Referat über sein kleines Opus zu schreiben,
4391 schob es aber wegen innerer, mir nicht unbekannter Widerstände
4392 auf, bis ich mich eines Tages durch sein Drängen bewegen ließ,
4393 zu versprechen, daß es noch am selben Abend geschehen werde.
4394 Ich hatte auch die ernste Absicht, so zu tun, aber ich hatte ver-
4395gessen, daß die Abfassung eines unaufschiebbaren Gutachtens für
4396 den nämlichen Abend angesetzt war. Nachdem ich so meinen
4397 Vorsatz als falsch erkannt hatte, gab ich den Kampf gegen meine
4398 Widerstände auf und sagte dem Autor ab.
4399

§ 725

VIII.
4400

§ 726

Das Vergreifen.
4401

§ 727

Der oben erwähnten Arbeit von Meringer und Mayer ent-
4402nehme ich noch die Stelle (S. 98):
4403

§ 728

„ "Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen
4404 den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten der Menschen sich oft
4405 einstellen und ziemlich töricht „Vergeßlichkeiten“ genannt werden." “
4406

§ 729

Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht hinter
4407 den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder
4408 vermutet¹⁾1).
4409

§ 730

Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische
4410 Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es
4411 nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Verrichtungen
4412 die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei Gruppen
4413 von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der Fehleffekt das
4414 Wesentliche scheint, also die Abirrung von der Intention, bezeichne
4415

¹⁾ Eine zweite Publikation Meringers hat mir später gezeigt, wie
sehr ich diesem Autor unrecht tat, als ich ihm solches Verständnis zumutete.
4417

§ 731

—— 113 —-—
4418

§ 732

ich als „Vergreifen“, die anderen, in denen eher die ganze Hand-
4419lung unzweckmäßig erscheint, benenne ich „Symptom- und Zu-
4420fällshandlungen“. Die Scheidung ist aber wiederum nicht
4421 reinlich durchzuführen; wir kommen ja wohl zur Einsicht, daß alle
4422 in dieser Abhandlung gebrauchten Einteilungen nur deskriptiv
4423 bedeutsame sind und der inneren Einheit des Erscheinungsgebietes
4424 widersprechen.
4425

§ 733

Das psychologische Verständnis des „Vergreifens“ erfährt
4426 offenbar keine besondere Förderung, wenn wir es der Ataxie und
4427 speziell der „kortikalen Ataxie“ subsnmieren. Versuchen wir
4428 lieber, die einzelnen Beispiele auf ihre jeweiligen Bedingungen
4429 zurückzuführen. Ich werde wiederum Selbstbeobachtungen hierzu
4430 verwenden, zu denen sich die Anlässe bei mir nicht besonders
4431 häufig finden.
4432

§ 734

a) In früheren Jahren, als ich Hausbesuche bei Patienten
4433 noch häufiger machte als gegenwärtig, geschah es mir oft, daß ich,
4434 vor der Türe, an die ich ank10pfen oder läuten sollte, angekommen,
4435 die Schlüssel meiner eigenen Wohnung aus der Tasche zog, um
4436 — sie dann fast beschämt wieder einzustecken. Wenn ich mir
4437 .zusammenstelle, bei welchen Patienten dies der Fall war, so muß
4438 ich annehmen, die Fehlhandlung —— Schlüssel herausziehen an-
4439statt läuten —— bedeutete eine Huldigung für das Haus, wo ich in
4440 diesen Mißgriff verfiel. Sie war äquivalent dem Gedanken: „Hier
4441 bin ich wie zu Hause“, denn sie trug sich nur zu, wo ich den
4442 Kranken lieb gewonnen hatte. (An meiner eigenen Wohnungstür
4443 läute ich natürlich niemals.)
4444

§ 735

Die Fehlhandlung war also eine symbolische Darstellung eines
4445 doch eigentlich nicht für ernsthafte, bewußte Annahme bestimmten
4446 Gedankens, denn in der Realität weiß der Nervenarzt genau, daß
4447 der Kranke ihm nur so lange _anhänglich bleibt, als er noch Vor-
4448teil von ihm erwartet, und. daß er selbst nur zum Zweck der
4449 psychischen Hilfeleistung ein übermäßig warmes Interesse für seine
4450 Patienten bei sich gewähren läßt.
4451

§ 736

Daß das sinnvoll fehlerhafte Hantieren mit dem Schlüssel
4452 keineswegs eine Besonderheit meiner Person ist, geht aus zahl-
4453reichen Selbstbeobachtungen anderer hervor.
4454

§ 737

Eine fast identische Wiederholung meiner Erfahrungen be-
4455schreibt A. Maeder (Contrib. a la psychopathologie de la vie
4456

§ 738

F r e u d , Psychopathologie des Alltagslebens. 8
4457

§ 739

4458

§ 740

—— 114 ——
4459

§ 741

quotidienne, Arch. de Psychol. VI, 1906): Il est arrivé a chacun
4460 de sortir son trousseau, en arrivant ala porte d’un ami particulié-
4461rement cher, de se surprendre pour ainsi dire, en train d’ouvrir
4462 avec sa clé comme chez soi. C’est un retard, puisqu’il faut
4463 sonner malgré tout, mais c’est une preuve qu’on se sent — ou
4464 qu’on voudrait se sentir —— comme chez soi, auprés de cet ami.
4465

§ 742

E. Jones (1. c. p. 509): The use of keys is a fertile source
4466 of occurrences of this kind of which two examples may be given.
4467 If I am disturbed in the midst of some engrossing work at home
4468 by having to go to the hospital to carry out some routine work
4469 I am very apt to find myself trying to open the door of my labo-
4470ratory there with the key of my desk at home, although the two
4471 keys are quite unlike each other. The mistake unconsciously
4472 demonstrates where I would rather be at the moment.
4473

§ 743

Some years ago I was acting in a subordinate position at a
4474 certain institution, the front door of which was kept locked, so
4475 that it was necessary to ring for admission. In several occasions
4476 I found myself making serious attempts to open the door with my
4477 house key. Each one of the permanent visiting staff, of which I
4478 aspired to be a member, was provided with a key to avoid the-
4479trouble of having to wait at the door. My mistakes thus expressed
4480 my desire to be ona similar footing and to be quite „at home“
4481 there.
4482

§ 744

Ähnlich berichtet Dr. Hanns Sachs (Wien): Ich trage stets
4483 zwei Schlüssel bei mir, von denen der eine die Türe zur Kanzlei,.
4484 der andere die zu meiner Wohnung öffnet. Leicht verwechselbar
4485 sind sie durchaus nicht, da der Kanzleischlüssel mindestens dreimal
4486 so groß ist wie der Wohnungsschlüssel._ Überdies trage ich den
4487 ersteren in der Hosentasche, den anderen in der Weste. Trotzdem ge-
4488schah es öfters, daß ich vor der Türe stehend bemerkte, daß ich auf
4489 der Treppe den falschen Schlüssel vorbereitet hatte. Ich beschloß,
4490 einen statistischen Versuch zu machen; da ich ja täglich ungefähr in
4491 derselben Gemütsverfassung vor den beiden Türen stehe, mußte
4492 auch die Verwechslung der beiden Schlüssel, wenn anders sie
4493 psychisch determiniert sein sollte, eine regelmäßige Tendenz zeigen.
4494 Die Beobachtung bei späteren Fällen ergab dann, daß ich regel-
4495mäßig den Wohnungsschlüssel vor der Kanzleitüre herausnahm,
4496 nur ein einziges Mal war das Umgekehrte der Fall: ich kam er-
4497

§ 745

4498

§ 746

—-—— 115 _—
4499

§ 747

müdet nach Hause, wo, wie ich wußte, ein Gast meiner wartete.
4500 Vor der Türe machte ich einen Versuch, sie mit dem natürlich
4501 viel zu großen Kanzleischlüssel aufzusperren.
4502

§ 748

b) In einem bestimmten Hause, wo ich seit sechs Jahren
4503 zweimal täglich zu festgesetzten Zeiten vor einer Türe im zweiten
4504 Stock auf Einlaß warte, ist es mir während dieses langen Zeit-
4505raums zweimal (mit einem kurzen Intervall) geschehen, daß ich
4506 um einen Stock höher gegangen bin, also mich „verstiegen“
4507 habe. Das eine Mal befand ich mich in einem ehrgeizigen Tag-
4508traum, der mich „höher und immer höher steigen“ ließ. Ich über—
4509 hörte damals sogar, daß sich die fragliche Tür geöffnet hatte,
4510 als ich den Fuß auf die ersten Stufen des dritten Stockwerks
4511 setzte. Das andere Mal ging ich wiederum „in Gedanken ver-
4512sunken“ zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich
4513 beherrschende Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, daß ich
4514 mich über eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in
4515 welcher mir der Vorwurf gemacht wurde, daß ich immer „zu weit
4516 ginge“, und in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck
4517 „v er s t i e g e n“ einzusetzen hatte.
4518

§ 749

’ 0) Auf meinem Schreibtische liegen seit vielen Jahren neben—
4519 einander ein Reflexhammer und eine Stimmgabel. Eines Tages
4520 eile ich nach Schluß der Sprechstunde fort, weil ich einen be-
4521stimmten Stadtbahnzug erreichen will, stecke bei vollem Tages-
4522licht anstatt des Hammers die Stimmgabel in die Rocktasche und
4523 werde durch die Schwere des die Tasche herabziehenden Gegen-
4524standes auf meinen Mißgriff aufmerksam gemacht. Wer sich über
4525 so kleine Vorkommnisse Gedanken zu machen nicht gewöhnt ist,
4526 wird ohne Zweifel den Fehlgriff durch_die Eile des Moments er-
4527klären und entschuldigen. Ich habe es trotzdem vorgezogen, mir
4528 die Frage zu stellen, warum ich eigentlich die Stimmgabel anstatt
4529 des Hammers genommen. Die Eilfertigkeit hätte ebensowohl ein
4530 Motiv sein können, den Griff richtig auszuführen, um nicht Zeit
4531 mit der Korrektur zu versäumen.
4532

§ 750

Wer hat zuletzt nach der Stimmgabel gegriffen? lautet die
4533 Frage, die sich mir da aufdrängt. Das war vor wenigen Tagen
4534 ein idiotisch es Kind, bei dem ich die Aufmerksamkeit auf
4535 Sinneseindrücke prüfte, und das durch die Stimmgabel so gefesselt
4536 wurde, daß ich sie ihm nur schwer entreißen konnte. Soll das
4537

§ 751

8>1<
4538

§ 752

4539

§ 753

—— 116 ——-—
4540

§ 754

also heißen, ich sei ein Idiot? Allerdings scheint es so, denn
4541 der nächste Einfall, der sich an Hammer assoziiert, lautet „Chamer“
4542 (hebräisch: Esel).
4543

§ 755

Was soll aber dieses Geschimpfe? Man muß hier die Situ-
4544ation befragen. Ich eile zu einer Konsultation in einem Ort an
4545 der Westbahnstrecke, zu einer Kranken, die nach der brieflich
4546 mitgeteilten Anamnese vor Monaten vom Balkon herabgestürzt ist
4547 und seither nicht gehen kann. Der Arzt, der mich einlädt, schreibt,
4548 er wisse trotzdem nicht, ob es sich um Rückenmarksverletzung
4549 oder um traumatische Neurose — Hysterie —— handle. Da soll
4550 ich nun entscheiden. Da wäre also eine Mahnung am Platze,
4551 in der heiklen Difl"erentialdiagnose besonders vorsichtig zu sein.
4552 Die Kollegen meinen ohnedies, man diagnostiziere viel zu leicht-
4553sinnig Hysterie, wo es sich um ernstere Dinge handle. Aber die
4554 Beschimpiung ist noch nicht gerechtfertigt! Ja, es kommt hinzu,
4555 daß die kleine Bahnstation der nämliche Ort ist, an dem ich vor
4556 Jahren einen jungen Mann gesehen, der seit einer Gemütsbewegung
4557 nicht ordentlich gehen konnte. Ich diagnostizierte damals Hysterie
4558 und nahm den Kranken später in psychische Behandlung, und
4559 dann stellte es sich heraus, daß ich freilich nicht unrichtig dia-
4560gnostiziert hatte, aber auch nicht richtig. Eine ganze Anzahl der
4561 Symptome des Kranken war hysterisch gewesen, und diese schwanden
4562 auch prompt im Laufe der Behandlung. Aber hinter diesen wurde
4563 nun ein für die Therapie unantastbarer Rest sichtbar, der sich
4564 nur auf eine multiple Sklerose beziehen ließ. Die den Kranken
4565 nach mir sahen, hatten es leicht, die organische Affektion zu er-
4566kennen; ich hätte kaum anders vorgehen und. anders urteilen
4567 können, aber der Eindruck war doch der eines schweren Irrtums;
4568 das Versprechen der Heilung, das ich ihm gegeben hatte, war
4569 natürlich nicht zu halten. Der Mißgriff nach der Stimmgabel an-
4570statt nach dem Hammer ließ sich also so in Worte übersetzen:
4571 Du Trottel, du Esel, nimm dich diesmal zusammen, daß du nicht
4572 wieder eine Hysterie diagnostizierst, wo eine unheilbare Krank-
4573heit vorliegt, wie bei dem armen Mann an demselben Ort vor
4574 Jahren! Und zum Glück für diese kleine Analyse, wenn auch
4575 zum Unglück für meine Stimmung, war dieser selbe Mann mit
4576 schwerer spastischer Lähmung wenige Tage vorher und einen
4577 Tag nach dem idiotischen Kind in meiner Sprechstunde gewesen.
4578

§ 756

4579

§ 757

-— 117 ——
4580

§ 758

Man merkt, es ist diesmal die Stimme der Selbstkritik, die
4581 sich durch das F ehlgreifen vernehmlich macht. Zu solcher Ver-
4582wendung als Selbstvorwurf ist der Fehlgriff ganz besonders geeignet.
4583 Der Mißgriff hier will den Mißgriff, den man anderswo begangen
4584 hat, darstellen.
4585

§ 759

d) Selbstverständlich kann das Fehlgreifen auch einer ganzen
4586 Reihe anderer dunkler Absichten dienen. Hier ein erstes Beispiel:
4587 Es kommt sehr selten vor, daß ich etwas zerschlage. Ich bin
4588 nicht besonders geschickt, aber infolge der anatomischen Integrität
4589 meiner Nervmuskelapparate sind Gründe für so ungeschickte Be—
4590 wegungen mit unerwünschtem Erfolg bei mir offenbar nicht ge-
4591geben. Ich weiß also kein Objekt in meinem Haus zu erinnern,
4592 dessengleichen ich je zerschlagen hätte. Ich war durch die Enge in
4593 meinem Studierzimmer oft genötigt, in den unbequemsten Stellungen
4594 mit einer Anzahl von antiken Ton- und Steinsachen, von denen
4595 ich eine kleine Sammlung habe, zu hantieren, so daß Zuschauer
4596 die Besorgnis ausdrückten, ich würde etwas herunterschleudern
4597 und zerschlagen. Es ist aber niemals geschehen. Warum habe
4598 ich also einmal den marmornen Deckel meines einfachen Tinten-
4599gefäßes zu Boden geworfen, so daß er zerbrach?
4600

§ 760

Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger
4601 Marmor, die für die Aufnahme des gläsernen Tintenfäßchens aus-
4602gehöhlt ist; das Tintenfaß trägt einen Deckel mit K0pf aus dem-
4603selben Stein. Ein Kranz von Bronzestatuetten und Terrakottar
4604 figürchen isti hinter diesem ,Tintenzeug aufgestellt. Ich setze
4605 mich an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche
4606 den Federstiel hält, eine merkwürdig ungeschickte, ausfahrende
4607 Bewegung und werte so den Deckel des Tintenfasses, der bereits
4608 auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer
4609 zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im
4610 Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerbungen anzusehen.
4611 Sie fand sie sehr schön und äußerte dann: „Jetzt sieht dein
4612 Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintenzeug paßt nicht
4613 dazu. Du mußt ein schöneres haben.“ Ich begleitete die
4614 Schwester hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann
4615 aber habe ich, wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die
4616 Exekution vollzogen. Schloß ich etwa aus den Worten der
4617 Schwester, daß sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten
4618

§ 761

4619

§ 762

—— 118 ——
4620

§ 763

festlichen Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu be-
4621schenken, und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirk—
4622 lichung ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen? Wenn dem so
4623 ist, so war meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt;
4624 in Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewußt und ver-
4625stand es, allen wertvolleren in der Nähe befindlichen Objekten
4626 schonend auszuweichen.
4627

§ 764

Ich glaube wirklich, daß man diese Beurteilung für eine
4628 ganze Reihe von anscheinend zufällig ungeschickten Bewegungen
4629 annehmen muß. Es ist richtig, daß diese etwas Gewaltsames,
4630 Schleuderndes, wie Spastisch-Ataktisches zur Schau tragen, aber
4631 sie erweisen sich als von einer Intention beherrscht und treffen
4632 ihr Ziel mit einer Sicherheit, die man den bewußt willkürliohen
4633 Bewegungen nicht allgemein nachrühmen kann. Beide Charaktere,
4634 die Gewaltsamkeit wie die Trefi’sicherheit, haben sie übrigens
4635 mit den motorischen Äußerungen der hysterischen Neurose und
4636 zum Teil auch mit den motorischen Leistungen des Somnambulismus
4637 gemeinsam, was wohl hier wie dort auf die namliche unbekannte
4638 Modifikation des Innervationsvorganges hinweist.
4639

§ 765

Es ist mir in den letzten Jahren, seitdem ich solche Be-
4640obachtungen sammle, noch einige Male geschehen, daß ich Gegen-
4641stände von gewissem Werte zerschlagen oder zerbrochen habe,
4642 aber die Untersuchung dieser Fälle hat mich überzeugt, daß es
4643 niemals ein Erfolg des Zufalls oder meiner absichtslosen Un-
4644geschicklichkeit war. So habe ich eines Morgens, als ich im
4645 Badekostüm, die Füße mit Strohpantotfeln bekleidet, durch ein
4646 Zimmer ging, einem plötzlichen Impuls folgend, einen der Pantofi°el
4647 vom Fuß weg gegen die Wand geschleudert, so daß er eine
4648 hübsche kleine Venus von Marmor von ihrer Konsole herunter-
4649holte. Während sie in Stücke ging, zitierte ich ganz ungerührt
4650 die Verse von Busch:
4651

§ 766

Ach! die Venus ist perdü -——
4652 Klickeradomsl —- von Medici!
4653

§ 767

Dieses tolle Treiben und meine Ruhe bei dem Schaden finden
4654 ihre Aufklärung in der damaligen Situation. Wir hatten eine
4655 schwer Kranke in der Familie, an deren Genesung ich im stillen
4656 bereits verzweifelt hatte. An jenem Morgen hatte ich von einer
4657 großen Besserung erfahren; ich weiß, daß ich mir gesagt hatte:
4658

§ 768

4659

§ 769

—— 119 -—--
4660

§ 770

also bleibt sie doch am Leben. Dann diente mein Anfall von
4661 Zerstörungswut zum Ausdrucke einer dankbaren Stimmung gegen
4662 das Schicksal und gestattete mir, eine „Opferhandlung“ zu
4663 vollziehen, gleichsam als hätte ich gelobt, wenn sie gesund wird,
4664 bringe ich dies oder jenes zum Opfer! Daß ich für dieses Opfer
4665 die Venus von Medici ausgesucht, sollte gewiß nichts anderes als
4666 eine galante Huldigung für die Genesende sein; unbegreiflich
4667 bleibt mir aber auch diesmal, daß ich, so rasch entschlossen, so
4668 geschickt gezielt und kein anderes der in so großer Nähe befind-
4669lichen Objekte getroffen habe.
4670

§ 771

Ein anderes Zerbrechen, für das ich mich wiederum des der
4671 Hand entfahrenden Federstiels bedient habe, hatte gleichfalls die
4672 Bedeutung eines “Opfers, aber diesmal eines Bitt0pfers zur Ab-
4673wendung. Ich hatte mir einmal darin gefallen, einem treuen und
4674 verdienten Freunde einen Vorwurf zu machen, der sich auf die
4675 Deutung gewisser Zeichen aus seinem Unbewußten, auf nichts
4676 anderes, stützte. Er nahm es übel auf und schrieb mir einen
4677 Brief, in dem er mich hat, meine Freunde nicht psychoanalytisch
4678 zu behandeln. Ich mußte ihm recht geben und beschwichtigte
4679 ihn durch meine Antwort. Während ich diesen Brief schrieb,
4680 hatte ich meine neueste Erwerbung, ein prächtig glasiertes
4681 ägyptisches Figürchen, vor mir stehen. Ich zerschlug es auf die
4682 beschriebene Weise und wußte dann sofort, daß ich dies Unheil
4683 angerichtet, um ein größeres abzuwenden. Zum Glück ließ sich
4684 beides — die Freundschaft wie die Figur —— so leimen, daß man
4685 den Sprung nicht merken würde.
4686

§ 772

Ein drittes Zerbrechen stand in weniger ernsthaftem Zu—
4687 sammenhang; es war nur eine maskierte „Exekution“, um den
4688 Ausdruck von Th. Vischer („Auch einer“) zu gebrauchen, an
4689 einem Objekt, das sich meines Gefallens nicht mehr erfreute. Ich
4690 hatte eine Zeitlang einen Stock mit Silbergriff getragen; als die
4691 dünne Silberplatte einmal ohne mein Verschulden beschädigt
4692 worden war, wurde sie" schlecht repariert. Bald nachdem der
4693 Stock zurückgekommen war, benützte ich den Griff, um im Über-
4694mut nach dem Bein eines meiner Kleinen zu angeln. Dabei
4695 brach er natürlich entzwei, und ich war von ihm befreit.
4696

§ 773

Der Gleichmut, mit dem man in all diesen Fällen den ent-
4697standenen Schaden aufnimmt, darf wohl als Beweis für das Be-
4698

§ 774

4699

§ 775

—— 120 -—
4700

§ 776

stehen einer unbewußten Absicht bei der Ausführung in Anspruch
4701 genommen werden.
4702

§ 777

e) Das F allenlassen von Objekten, Umwerfen, Zerschlagen
4703 derselben scheint sehr häufig zum Ausdruck unbewußter Gedanken-
4704gänge verwendet zu werden, wie man gelegentlich durch Analyse
4705 beweisen kann, häufiger aber aus den abergläubisch oder scherzhaft
4706 daran geknüpften Deutungen im Volksmunde erraten möchte. Es
4707 ist bekannt, welche Deutungen sich an das Ausschütten von Salz,
4708 Umwerfen eines Weinglases, Steckenbleiben eines zu Boden
4709 gefallenen Messers u. dgl. knüpfen. Welches Anrecht auf Be-
4710achtung solche abergläubische Deutungen haben, werde ich erst
4711 an späterer Stelle erörtern; hierher gehört nur die Bemerkung,
4712 daß die einzelne ungeschickte Verrichtung keineswegs einen
4713 konstanten Sinn hat, sondern je nach Umständen sich dieser oder
4714 jener Absicht als Darstellungsmittel bietet.
4715

§ 778

Vor kurzem gab es in meinem Hause eine Zeit, in der
4716 ungewöhnlich viel Glas und Porzellangeschirr zerbrochen wurde;
4717 ich selbst trug mehreres zum Schaden bei. Allein die kleine
4718 psychische Endemie war leicht aufzuklären; es waren die Tage
4719 vor der Vermählung meiner ältesten Tochter. Bei solchen Feiern
4720 pflegte man sonst mit Absicht ein Gerät zu zerbrechen und ein
4721 glückbringendes Wort dazu zu sagen. Diese Sitte mag die Be-
4722deutung eines Opfers und noch anderen symbolischen Sinn haben.
4723

§ 779

Wenn dienende Personen zerbrechliche Gegenstände durch
4724 Fallenlassen vernichten, so wird man an eine psychologische
4725 Erklärung hierfür gewiß nicht in erster Linie denken, doch ist
4726 auch dabei ein Beitrag dunkler Motive nicht unwahrscheinlich.
4727 Nichts liegt dem Ungebildeten ferner als die Schätzung der Kunst
4728 und der Kunstwerke. Eine dumpfe F eindseligkeit gegen deren
4729 Erzeugnisse beherrscht unser dienendes Volk, zumal wenn die
4730 Gegenstände, deren Wert sie nicht einsehen, eine Quelle von
4731 Arbeitsanforderung für sie werden. Leute von derselben Bildungs-
4732stufe und Herkunft zeichnen sich dagegen in wissenschaftlichen
4733 Instituten oft durch große Geschicklichkeit und Verläßlichkeit in
4734 der Handhabung heikler Objekte aus, wenn sie erst begonnen
4735 haben, sich mit ihrem Herrn zu identifizieren und sich zum
4736 wesentlichen Personal des Instituts zu rechnen.
4737

§ 780

Ich schalte hier die Mitteilung eines jungen Technikers ein,
4738

§ 781

4739

§ 782

—— 121 ——
4740

§ 783

welche Einblick in den Mechanismus einer Sachbeschädigung
4741 gestattet.
4742

§ 784

„Vor einiger Zeit arbeitete ich mit mehreren Kollegen im
4743 Laboratorium der Hochschule an einer Reihe komplizierter Elasti-
4744zitätsversuche, eine Arbeit, die wir freiwillig übernommen hatten,
4745 die aber begann mehr Zeit zu beanspruchen, als wir erwartet
4746 hatten. Als ich eines Tages wieder mit meinem Kollegen F. ins
4747 Laboratorium ging, äußerte dieser, wie unangenehm es ihm gerade
4748 heute sei, so viel Zeit zu verlieren, er hätte zu Hause so viel
4749 anderes zu tun; ich konnte ihm nur beistimmen und äußerte noch
4750 halb scherzhaft, auf einen Vorfall der vergangenen Woche anspielend:
4751 „Hoffentlich wird wieder die Maschine versagen, so daß wir die
4752 Arbeit abbrechen und früher weggehen können!“
4753

§ 785

‘ Bei der Arbeitsteilung trifi't es sich, daß Kollege F. das Ventil
4754 der Presse zu steuern bekommt, (1. h. er hat die Druckflüssigkeit
4755 aus dem Akkumulator durch vorsichtiges Öffnen des Ventils langsam
4756 in den Zylinder der hydraulischen Presse einzulassen; der Leiter
4757 des Versuches steht beim Manometer und ruft, wenn der richtige
4758 Druck erreicht ist, ein lautes „Halt“. Auf dieses Kommando
4759 faßt F. das Ventil und dreht es mit aller Kraft —— nach links
4760 (alle Ventile werden ausnahmslos nach rechts geschlossenl).
4761 Dadurch wird plötzlich der volle Druck des Akkumulators in der
4762 Presse wirksam, worauf die Rohrleitung nicht eingerichtet ist, so
4763 daß sofort eine Rohrverbindung platzt — ein ganz harmloser
4764 Maschinendefekt, der uns jedoch zwingt, für heute die Arbeit
4765 einzustellen und nach Hause zu gehen.
4766

§ 786

Charakteristisch ist übrigens, daß einige Zeit nachher, als
4767 wir diesen Vorfall besprachen, Freund F. sich an meine von mir
4768 mit Sicherheit erinnerte Äußerung absolut nicht erinnern wollte.“
4769

§ 787

Sich selbst fallen lassen, einen F ehltr1tt machen, ausgleiten,
4770 braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen
4771 motorischer Aktion gedeutet zu werden. Der sprachliche Doppel-
4772sinn dieser Ausdrücke Weist bereits auf die Art von verhaltenen
4773 Phantasien hin, die sich durch solches Aufgeben des Körpergleich-
4774gewichts darstellen können. Ich erinnere mich an eine Anzahl
4775 von leichteren nervösen Erkrankungen bei Frauen und Mädchen,
4776 die nach einem Fall ohne Verletzung aufgetreten waren und als
4777 traumatische Hysterie zufolge des Schrecks beim Falle aufgefaßt
4778

§ 788

4779

§ 789

—— 122 —
4780

§ 790

wurden. Ich bekam schon damals den Eindruck, als ob die Dinge
4781 anders zusammenhingen, als wäre das Fallen bereits eine Ver-
4782anstaltung der Neurose und ein Ausdruck derselben unbewnßten
4783 Phantasien sexuellen Inhalts gewesen, die man als die bewegenden-
4784Kräfte hinter den Symptomen vermuten darf. Sollte dasselbe nicht
4785 auch ein Sprichwort sagen wollen, welches lautet: „Wenn eine
4786 Jungfrau fällt, fällt sie auf den Rücken?“
4787

§ 791

Zum Vergreifen kann man auch den Fall rechnen, daß
4788 jemand einem Bettler anstatt einer Kupfer- oder kleinen Silber-
4789münze ein Goldstück gibt. Die Auflösung solcher Fehlgriffe ist
4790 leicht, es sind Opferhandlungen, bestimmt, das Schicksal zu er-
4791weichen, Unheil abzuwehren u. dgl. Batman die zärtliche Mutter
4792 oder Tante unmittelbar vor dem Spaziergang, auf dem sie sich
4793 so widerwillig großmütig erzeigt, eine Besorgnis über die Gesund—
4794 heit eines Kindes äußern gehört, so kann man an dem Sinn des
4795 angeblich unliebsamen Zufalls nicht mehr zweifeln. Auf solche
4796 Art ermöglichen unsere Fehlleistungen die Ausübung aller jener
4797 frommen und abergläubischen Gebräuche, die wegen des Sträubens
4798 unserer ungläuhig gewordenen Vernunft das Licht des Bewußtseins
4799 scheuen müssen.
4800

§ 792

f) Daß zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird
4801 auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem
4802 der sexuellen Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei Arten
4803 sich wirklich zu verwischen scheint. Daß eine scheinbar un-
4804geschickte Bewegung höchst raffiniert zu sexuellen Zwecken aus-
4805genützt werden kann, davon habe ich vor einigen Jahren an mir
4806 selbst ein schönes Beispiel erlebt. Ich traf in einem befreundeten
4807 Hause ein als Gast angelangtes junges Mädchen, welches ein _
4808 längst für erloschen gehaltenes Wohlgefallen bei mir erregte und
4809 mich darum heiter, gesprächig und zuvorkommend stimmte. Ich
4810 habe damals auch nachgeforscht, auf welchen Bahnen dies zuging;
4811 ein Jahr vorher hatte dasselbe Mädchen mich kühl gelassen. Als
4812 nun der Onkel des Mädchens, ein sehr alter Herr, ins Zimmer
4813 trat, sprangen wir beide auf, um ihm einen in der Ecke stehenden
4814 Stuhl zu bringen. Sie war behender als ich, wohl auch dem
4815 Objekt näher; so hatte sie sich zuerst des Sessels bemächtigt und
4816 trug ihn mit der Lehne nach rückwärts, beide Hände auf die
4817 Sesselränder gelegt, vor sich hin. Indem ich später hinzutrat
4818

§ 793

4819

§ 794

-————- 123 ——
4820

§ 795

und den Anspruch, den Sessel zu tragen, doch nicht aufgab, stand
4821 ich plötzlich dicht hinter ihr, hatte beide Arme von rückwärts
4822 um sie geschlungen, und die Hände trafen sich einen Moment
4823 lang vor ihrem Schoß. Ich löste natürlich die Situation ebenso
4824 rasch, als sie entstanden war. Es schien auch keinem aufzufallen,
4825 wie geschickt ich diese ungeschickte Bewegung ausgebeutet hatte.
4826

§ 796

Gelegentlich habe ich mir auch sagen müssen, daß das ärger-
4827liche, ungeschickte Ausweichen auf der Straße, wobei man durch
4828 einige Sekunden hin und her, aber doch stets nach der nämlichen
4829 Seite wie der oder die andere, Schritte macht, bis endlich beide
4830 voreinander stehen bleiben, daß auch dieses „den Weg Vertreten“
4831 ein unartig provozierendes Benehmen früherer Jahre wiederholt
4832 und sexuelle Absichten unter der Maske der Ungeschicklichkeit
4833 verfolgt. Aus meinen Psychoanalysen Neurotischer weiß ich, daß
4834 die sogenannte Naivität junger Leute und Kinder häufig nur
4835 solch eine Maske ist, um das Unanständige unbeirrt durch
4836 Genieren aussprechen oder tun zu können.
4837

§ 797

Ganz ähnliche Beobachtungen hat W. Stekel von seiner
4838 eigenen Person mitgeteilt: „Ich trete in ein Haus ein und reiche
4839 der Dame des Hauses meine Rechte. Merkwürdigerweise löse
4840 ich dabei die Schleife, die ihr loses Morgenkleid zusammenhält.
4841 Ich bin mir keiner unehrbaren Absicht bewußt, und doch habe
4842 ' ich diese ungeschickte Bewegung mit der Geschicklichkeit eines
4843 Eskamoteurs vollbracht.“
4844

§ 798

g) Die Effekte, die durch das Fehlgreifen normaler Menschen
4845 zustande kommen, sind in der Regel von .harmlosester Art. Gerade
4846 darum wird sich ein besonderes Interesse an die Frage knüpfen,
4847 ob Fehlgriffe von erheblicher Tragweite, die von bedeutsamen
4848 Folgen begleitet sein können, wie z. B. die des Arztes oder
4849 Apothekers, nach irgendeiner Richtung unter unsere Gesichts—
4850 punkte fallen.
4851

§ 799

Da ich sehr selten in die Lage komme, ärztliche Eingriffe
4852 vorzunehmen, habe ich nur über ein Beispiel von ärztlichem
4853 Vergreifen aus eigener Erfahrung zu berichten. Bei einer sehr
4854 alten Dame, die ich seit Jahren zweimal täglich besuche, beschränkt
4855 sich meine ärztliche Tätigkeit beim Morgenbesnch auf zwei Akte:
4856 ich träufle ihr ein paar Tr0pfen Augenwasser ins Auge und gehe
4857 ihr, eine Morphiuminjektion. Zwei Fläschchen, ein blaues für das
4858

§ 800

4859

§ 801

—— 124 ——
4860

§ 802

Kollyrium und ein weißes mit der Morphinlösung, sind regelmäßig
4861 vorbereitet. Während der beiden Verrichtungcn beschäftigen sich
4862 meine Gedanken wohl meist mit etwas anderem; das hat sich
4863 eben schon so oft wiederholt, daß die Aufmerksamkeit sich wie
4864 frei benimmt. Eines Morgens bemerke ich, daß der Automat
4865 falsch gearbeitet hatte, das Tr0pfröhrchen hatte ins weiße anstatt
4866 ins blaue Fläschchen eingetaucht und nicht Kollyrium, sondern
4867 Morphin ins Auge geträufelt. Ich erschrak heftig und beruhigte
4868 mich dann durch die Überlegung, daß einige Tr0pfen einer zwei-
4869prozentigen Morphinlösung auch im Bindehautsack kein Unheil
4870 anzurichten vermögen. Die Schreckempfindung war offenbar
4871 anderswoher abzuleiten.
4872

§ 803

Bei dem Versuch, den kleinen Fehlgriff zu analysieren, fiel
4873 mir zunächst die Phrase ein: „sich an der Alten vergreifen“, die
4874 den kurzen Weg zur Lösung weisen konnte. Ich stand unter
4875 dem Eindrucke eines Traumcs, den mir am Abend vorher ein
4876 junger Mann erzählt hatte, dessen Inhalt sich nur auf den
4877 sexuellen Verkehr mit der eigenen Mutter deuten ließ 1). Die
4878 Sonderbarkeit, daß die Sage keinen Anstoß an dem Alter der
4879 Königin Jokaste nimmt, schien mir gut zu dem Ergebnis zu
4880 stimmen, daß es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter
4881 niemals um deren gegenwärtige Person handelt, sondern um ihr
4882 jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche In-
4883kongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei
4884 Zeiten schwankende Phantasie bewußt gemacht und dadurch an
4885 eine bestimmte Zeit gebunden wird. In Gedanken solcher Art
4886 versunken, kam ich zu meiner über neunzigjährigen Patientin, und
4887 ich muß wohl auf dem Wege gewesen sein, den allgemein mensch-
4888lichen Charakter der Ödipusfabel als das Korrelat des Ver-
4889hängnisses, das sich in den Orakeln äußert, zu erfassen, denn ich
4890 vergrifi' mich dann „bei oder an der Alten“. Indes dies Ver-
4891greifen war wiederum harmlos; ich hatte von den beiden mög-
4892lichen Irrtümern, die Morphinlösung fürs Auge zu verwenden
4893 oder das Augenwasser zur Injektion zu nehmen, den bei weitem
4894

§ 804

___-_ __
4895

§ 805

1) Des Ödipustraumes, wie ich ihn zu nennen pflege, weil er den
4896 Schlüssel zum Verständnis der Sage von König Ödipus enthält. Im Text
4897 des Sophokles ist die Beziehung auf einen solchen Traum der Jokaste in den
4898

§ 806

Mund gelegt. (Vgl. „Traumdeutung“ S. 182, III. Aufl. S. 191.)
4899

§ 807

4900

§ 808

_ 125 ——
4901

§ 809

harmloseren gewählt. Es bleibt immer noch die Frage, ob man
4902 bei F ehlgriffen, die schweren Schaden stiften können, in ähnlicher
4903 Weise wie bei den hier behandelten eine unbewußte Absicht in
4904 Erwägung ziehen darf.
4905

§ 810

Hier läßt mich denn, wie zu erwarten steht, das Material im
4906 Stiche, und ich bleibe auf. Vermutungen und Annäherungen an-
4907gewiesen. Es ist bekannt, daß bei den schwereren Fällen von
4908 Psychoneurose Selbstbeschädigungen gelegentlich als Krankheits-
4909symptome auftreten, und daß der Ausgang des psychischen Kon-
4910fliktes in Selbstmord bei ihnen niemals auszuschließen ist. Ich
4911 habe nun erfahren, und werde es eines Tages durch gut auf-
4912geklärte Beispiele belegen, daß viele scheinbar zufällige Schädi-
4913gungen, die solche Kranke treffen, eigentlich Selbstbeschädigungen
4914 sind, indem eine beständig lauernde Tendenz zur Selbstbestrafung,
4915 die sich sonst als Selbstvorwurf äußert, oder ihren Beitrag zur
4916 Symptombildung stellt, eine zufällig gebotene äußere Situation
4917 geschickt ausnützt, oder ihr etwa noch bis zur Erreichung des
4918 gewünschten schädigenden Effektes nachhilft. Solche Vorkomm-
4919nisse sind auch bei mittelschweren Fällen keineswegs selten, und
4920 sie verraten den Anteil der unbewußten Absicht durch eine Reihe
4921 von besonderen Zügen, z.B. durch die auffällige Fassung, welche
4922 die Kranken bei dem angeblichen Unglücksfalle bewahren 1).
4923

§ 811

Aus meiner ärztlichen Erfahrung Will ich anstatt vieler nur ein
4924 einziges Beispiel ausführlich berichten: Eine junge Frau bricht
4925 sich bei einem Wagenunfall die Knochen des einen Unterschenkels,
4926 so daß sie für Wochen bettlägerig wird, fällt dabei durch den
4927 Mangel an Schmerzensäußerungen und die Ruhe auf, mit der sie
4928 ihr Ungemach erträgt. Dieser Unfall leitet eine lange und schwere
4929 neurotische Erkrankung ein, von der sie endlich durch Psycho-
4930therapie hergestellt wird. In der Behandlung erfahre ich die
4931 Nebenumstände des Unfalles sowie gewisse Eindrücke, die ihm
4932 vorausgegangen sind. Die junge Frau befand sich mit ihrem sehr
4933

§ 812

1) Die Selbstbeschädigung, " die nicht auf v011e Selbstvernichtung hin—
4934 zielt, hat in unserem gegenwärtigen Kulturzustand überhaupt keine andere
4935 Wahl, als sich hinter der Zufälligkeit zn verbergen, oder sich durch Simu-
4936lation einer spontanen Erkrankung durchzusetzen. Früher einmal war sie
4937 ein gebräuchliches Zeichen der Trauer; zu anderen Zeiten konnte sie Ideen
4938 der Frömmigkeit und Weltentsagung Ausdruck geben.
4939

§ 813

4940

§ 814

— 126 ——
4941

§ 815

eifersüchtigen Manne auf dem Gut einer verheirateten Schwester
4942 in Gesellschaft ihrer zahlreichen übrigen Geschwister und deren
4943 Männer und Frauen. Eines Abends gab sie in diesem intimen
4944 Kreise eine Vorstellung in einer ihrer Künste, sie tanzte kunst-
4945gerecht Cancan unter großem Beifall der Verwandten, aber zur
4946 geringen Befriedigung ihres Mannes, der ihr nachher zuzischelte:
4947 Du hast dich wieder benommen wie eine Dirne. Das Wort traf;
4948 wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob gerade wegen der
4949 Tanzproduktion. Sie schlief die Nacht unruhig, am nächsten Vor-
4950mittag begehrte sie eine Ausfahrt zu machen. Aber sie wählte
4951 die Pferde selbst, refüsierte das eine Paar und verlangte ein
4952 anderes. Die jüngste Schwester wollte ihren Säugling mit seiner
4953 Amme im Wagen mitfahren lassen; dem widersetzte sie sich
4954 energisch. Auf der Fahrt zeigte sie sich nervös, mahnte den
4955 Kutscher, daß die Pferde scheu würden, und als die unruhigen
4956 Tiere wirklich einen Augenblick Schwierigkeiten machten, sprang
4957 sie im Schrecken aus dem Wagen und brach sich den Fuß,
4958 während die im Wagen Verbliebenen heil davonkamen. Kann man
4959 nach der Aufdeckung dieser Einzelheiten kaum mehr bezweifeln,
4960 daß dieser Unfall eigentlich eine Veranstaltung war, so wollen
4961 wir doch nicht versäumen, die Geschicklichkeit zu bewundern.
4962 welche den Zufall nötigte, die Strafe so passend für die Schuld
4963 auszuteilen. Denn nun war ihr das Cancantanzen für längere Zeit
4964 unmöglich gemacht.
4965

§ 816

Von eigenen Selbstbeschädigungen weiß ich in ruhigen Zeiten
4966 wenig zu berichten, aber ich finde mich solcher unter außer-
4967ordentlichen Bedingungen nicht unfähig. Wenn eines der Mit-
4968glieder meiner Familie sich beklagt, jetzt habe es sich auf die
4969 Zunge gebissen, die Finger gequetscht usw., so erfolgt anstatt der
4970 erhofften Teilnahme von meiner Seite die Frage: Wozu hast du
4971 das getan? Aber ich habe mir selbst aufs schmerzhafteste den
4972 Daumen eingeklemmt, nachdem ein jugendlicher Patient in der Be-
4973handlungsstunde die (natürlich nicht ernsthaft zu nehmende) Absicht
4974 bekannt hatte, meine älteste Tochter zu heiraten, während ich
4975 wußte, daß sie sich gerade im Sanatorium in äußerster Lebens-
4976gefahr befand.
4977

§ 817

Einer meiner Knaben, dessen lebhaftes Temperament der
4978 Krankenpflege Schwierigkeiten zu bereiten pflegte, hatte eines
4979

§ 818

4980

§ 819

— 127 ——
4981

§ 820

Morgens einen Zornanfall gehabt, weil man ihm zugemutet hatte,
4982 den Vormittag im Bette zuzubringen, und gedroht, sich umzubringen,
4983 wie es ihm aus der Zeitung bekannt geworden war. Abends
4984 zeigte er mir eine Beule, die er sich durch Anstoßen an die Tür-
4985klinke an der Seite des Brustkorbs zugezogen hatte. Auf meine
4986 ironische Frage, wozu er das getan und was er damit gewollt
4987 habe, antwortete das 11jährige Kind wie erleuchtet: Das war mein
4988 Selbstmordversnch, mit dem ich in der Früh’ gedroht habe. Ich
4989 glaube übrigens nicht, daß meine Anschauungen über die Selbst-
4990beschädigung meinen Kindern damals zugänglich waren.
4991

§ 821

Wer an das Vorkommen von halb absichtlicher Selbstbe-
4992schädigung —— wenn der ungeschickte Ausdruck gestattet ist -———
4993 glaubt, der wird dadurch vorbereitet anzunehmen, daß es außer
4994 dem bewußt absichtlichen Selbstmord auch halb absichtliche Selbst—
4995 vernichtung —— mit unbewußter Absicht —-——— gibt, die eine Lebens-
4996bedrohung geschickt auszunützcn und sie als zufällige verun-
4997glückung zu maskieren weiß. Eine solche braucht keineswegs
4998 selten zu sein. Denn die Tendenz zur Selbstvernichtung ist bei
4999 sehr viel mehr Menschen in einer gewissen Stärke vorhanden, als
5000 bei denen sie sich durchsetzt; die Selbstbeschädigungen sind in
5001 der Regel ein Kompromiß zwischen diesem Trieb und den ihm
5002 noch entgegenwirkenden Kräften, und auch wo es wirklich zum
5003 Selbstmord kommt, da ist die Neigung dazu eine lange Zeit vorher
5004 in geringerer Stärke oder als unbewußte und unterdrückte Tendenz
5005 vorhanden gewesen.
5006

§ 822

Auch die bewußte Selbstmordahsicht wählt ihre Zeit, Mittel
5007 und Gelegenheit; es ist ganz im Einklang damit, wenn die unbe-
5008wußte einen Anlaß abwartet, der einen Teil der Verursachung
5009 auf sich nehmen und sie durch Inanspruchnahme der Abwehr-
5010kräfte der Person von ihrer Bedrückung frei machen kann 1). Es
5011

§ 823

___— _
5012

§ 824

1) Der Fall ist dann schließlich kein anderer als der des sexuellen
5013 Attentats auf eine Frau, bei dem der Angriff des Mannes nicht durch die
5014 volle Muskelkraft des Weibes abgewehrt werden kann, weil ihm ein Teil der
5015 unbewußten Regungen der Angegriffenen fördernd entgegenkommt. Man
5016 sagt ja wohl, eine solche Situation lähme die Kräfte der Frau, man braucht
5017 dann nur noch die Gründe für diese Lähmung hinzuzufügen. Insofern ist
5018 der geistreiche Richter3pruch des Sancho Pause, den er als Gouverneur
5019 auf seiner Insel fällt, psychologisch ungereoht (Don Quijote, II. T. Kap. XLV).
5020

§ 825

5021

§ 826

— 128 ——
5022

§ 827

sind keineswegs müßige Erwägungen, die ich da vorbringe; mir
5023 ist mehr als ein Fall von anscheinend zufälligem Verunglücken
5024 (zu Pferde oder aus dem Wagen) bekannt geworden, dessen nähere
5025 Umstände den Verdacht auf unbewußt zugelassenen Selbstmord
5026 rechtfertigen. Da stürzt z. B. während eines Offizierwettrennens
5027 ein Offizier vom Pferde und verletzt sich so schwer, daß er
5028 mehrere Tage nachher erliegt. Sein Benehmen, nachdem er zu sich
5029 gekommen, ist in manchen Stücken auffällig. Noch bemerkens-
5030werter ist sein Benehmen vorher gewesen. Er ist tief verstimmt
5031 durch den Tod seiner geliebten Mutter, wird von Weinkrämpfen
5032 in der Gesellschaft seiner Kameraden befallen, er äußert Lebens-
5033überdruß gegen seine vertrauten Freunde, will den Dienst
5034 quittieren, um an einem Kriege in Afrika Anteil zu nehmen, der
5035 ihn sonst nicht berührt 1); früher ein schneidiger Reiter, weicht
5036 er jetzt dem Reiten aus, wo es nur möglich ist. Vor dem Wett-
5037rennen endlich, dem er sich nicht entziehen kann, äußert er eine
5038 trübe Ahnung; wir werden uns bei unserer Auffassung nicht mehr
5039 verwundern, daß diese Ahnung recht behielt. Man wird mir ent-
5040gegenhalten, es sei ja ohne weiteres verständlich, daß ein Mensch
5041 in solcher nervöser Depression das Tier nicht zu meistern versteht
5042 wie in gesunden Tagen. Ich bin ganz einverstanden; nur möchte
5043 ich den Mechanismus dieser motorischen Hemmung durch die
5044 „Nervosität“ in der hier betonten Selbstvernichtungsabsicht suchen.
5045

§ 828

Dr. Ferenczi in Budapest hat mir die Analyse eines
5046 Falles von angeblich zufälliger Schußverletzung, den er für einen
5047 unbewußten Selbstmordversuch erklärt, zur Veröffentlichung über-
5048

§ 829

Eine Frau zerrt einen Mann vor den Richter, der sie angeblich gewaltsam
5049 ihrer Ehre beraubt hat. Sancho entschädigt sie durch die volle Geldbörse,
5050 die er dem Angeklagten abnimmt, und gibt diesem nach dem Abgange der
5051 Frau die Erlaubnis, ihr nachzueilen und ihr die Börse wieder zu entreißen.
5052 Sie kommen beide ringend wieder, und die Frau rühmt sich, daß der Böse-
5053wicht nicht imstande gewesen sei, sich der Börse zu bemächtigen. Darauf
5054 Sancho: Hättest du deine Ehre halb so ernsthaft verteidigt wie diese Börse,
5055 so hätte sie dir der Mann nicht rauben können.
5056

§ 830

1) Daß die Situation des Schlachtfeldes eine solche ist, wie sie der be-
5057wußten Selbstmordabsicht entgegenkommt, die doch den direkten Weg scheut,
5058 ist einleuchtend. Vgl. im „Wallenstein“ die Worte des schwedischen
5059 Hauptmanns über den Tod des Max Piccolomini: „Man sagt, er wollte sterben.“
5060

§ 831

5061

§ 832

_- 129 _-
5062

§ 833

lassen. Ich kann mich mit seiner Auffassung nur einverstanden
5063 erklären :
5064

§ 834

„J. Ad, 22 jähriger Tischlergeselle, suchte mich am 18. Ja-
5065nuar 1908 auf. Er wollte von mir erfahren, ob die Kugel, die
5066 ihm am 20. März 1907 in die linke Schläfe eindrang, operativ
5067 entfernt werden könne oder müsse. Von zeitweise auftretenden,
5068 nicht allzu heftigen Kopfschmerzen abgesehen, fühlt er sich ganz
5069 gesund. auch die objektive Untersuchung ergibt außer der charak-
5070teristischen, pulvergeschwärzten Schußnarbe an der linken Schläfe
5071 gar nichts, so daß ich die Operation widerrate. Über die Um-
5072stände des Falles befragt, erklärt er, sich zufällig verletzt zu
5073 haben. Er spielte mit dem Revolver des Bruders, glaubte,
5074 daß er nicht geladen ist, drückte ihn mit der linken Hand
5075 an die lin ke Schläfe (er ist nicht Linkshänder), legte den Finger
5076 auf den Hahn, und der Schuß ging los. Drei Patronen
5077 waren in der sechsläufigen Schußwaffe. Ich frage
5078 ihn: wie er auf die Idee kam, den Revolver zu sich zu nehmen.
5079 Er erwidert, daß es zur Zeit seiner Assentierung war; den Abend
5080 zuvor nahm er die Waffe ins Wirtshaus mit, weil er Schlägereien
5081 befürchtete. Bei der Musterung wurde er wegen Krampfadern
5082 für untauglich erklärt, worüber er sich sehr schämte. Er ging
5083 nach Hause, spielte mit dem Revolver, hatte aber nicht die Ab-
5084sicht, sich wehe zu tun; da kam es zum Unfall. Auf die weitere
5085 'Frage, wie er sonst mit seinem Schicksal zufrieden gewesen sei,
5086

§ 835

antwortete er mit einem Seufzer und erzählte seine Liebesgeschichte
5087

§ 836

mit einem Mädchen, das ihn auch liebte und ihn trotzdem ver-
5088_ ließ; sie wanderte rein aus Geldgier nach Amerika aus. Er wollte
5089 ihr nach, doch die Eltern hinderten ihn daran. Seine Geliebte
5090 reiste am 20. Januar 1907, also zwei Monate vor dem Unglücks-
5091ffalle, ab. Trotz all dieser Verdachtsmomente beharrte deräPatient
5092 dabei, daß der Schuß ein „Unfall“ war. Ich aber bin fest über-
5093zeugt, daß die Nachlässigkeit, sich von der Ladung der Waffe
5094 vor dem Spielen nichtüberzeugt zu haben, wie auch die Selbst-
5095beschädigung psychisch bestimmt waren. Er war noch ganz unter
5096 dem deprimierenden Eindruck der unglücklichen Liebschaft und
5097 wollte offenbar beim Militär „vergessen“. Als ihm auch diese
5098 Hoffnung genommen wurde, kam es zum Spiel mit der Schußwaffe,
5099

§ 837

-.d h. zum unbewußten Selbstmordversuch. Daß er den Revolver
5100 Freud, Psych0pathologie des Alltagslebens. 9
5101

§ 838

5102

§ 839

—— 130 —-—-
5103

§ 840

nicht in der rechten, sondern in der linken Hand hielt, spricht
5104 entschieden dafür, daß er wirklich nur „spielte“, d. h. bewußt
5105 keinen Selbstmord begehen wollte.“
5106

§ 841

Eine andere, mir vom Beobachter überlassene Analyse einer
5107 anscheinend zufälligen Selbstbeschädigung bringt das Sprichwort
5108 in Erinnerung: „Wer anderen eine Grube gräbt, fallt selbst
5109 hinein“).
5110

§ 842

„Frau X aus gutem bürgerlichen Milieu ist verheiratet und
5111 hat drei Kinder. Sie ist zwar nervös, aber brauchte nie eine
5112 energische Behandlung, da sie dem Leben doch genügend ge-
5113wachsen ist. Eines Tages zog sie sich in folgender Weise eine—
5114 momentan ziemlich imponierende, aber vorübergehende Entstellung
5115 ihres Gesichtes zu.
5116

§ 843

In einer Straße, welche zurecht gemacht wurde, stolperte sie
5117 über einen Steinhaufen und kam mit dem Gesichte in Be—
5118 rührung mit einer Hausmauer. Das ganze Gesicht war geschrammt,
5119 die Augenlider wurden blau und ödematös, und da sie Angst
5120 bekam, es möchte mit ihren Augen etwas passieren, ließ sie den
5121 Arzt rufen. Nachdem sie deswegen beruhigt war, fragte ich:
5122 „Aber warum sind Sie eigentlich so gefallen?“ Sie erwiderte, daß
5123 sie gerade zuvor ihrem Mann, der seit einigen Monaten eine Ge-
5124lenksaffektion hatte, wodurch er schlecht zu Fuß war, gewarnt
5125 hatte, in dieser Straße gut aufzupassen, und sie hatte ja schon.
5126 öfters die Erfahrung gemacht, daß in derartigen Fällen merk-
5127würdigerweise ihr selber dasjenige passierte, wogegen sie eine-
5128andere Person gewarnt hatte.
5129

§ 844

Ich war mit dieser Determinierung ihres Unfalles nicht zu—
5130 frieden und fragte, ob sie nicht vielleicht etwas mehr zu erzählen.
5131 wußte. Ja, gerade vor dem Unfall hatte sie in einem Laden von
5132 der entgegengesetzten Seite der Straße ein hübsches Bild gesehen,.
5133 das sie sich ganz plötzlich als Schmuck für die Kinderstube-
5134wünschte und darum sofort kaufen wollte: da ging sie geradeaus
5135 auf den Laden zu, ohne auf die Straße zu achten, stolperte über
5136 den Steinhaufen und fiel mit ihrem Gesichte gegen die Hausmauer,
5137 ohne auch nur den leisesten Versuch zu machen, sich mit den Händen
5138

§ 845

___—___—
5139

§ 846

1) Selbstbestrafung wegen Abortus von Dr. J. E. G. van Emden,
5140 Haag (Holland). Zentralbl. f. Psychoanalyse II, 12.
5141

§ 847

5142

§ 848

— 131 -—-
5143

§ 849

zu schützen. Der Vorsatz, das Bild zu kaufen, war gleich ver-
5144gessen, und sie ging eiligst nach Hause.
5145

§ 850

„Aber warum haben Sie nicht besser zugeschaut?“ fragte ich.
5146

§ 851

„Jaf‘, antwortete sie, „es war vielleicht doch eine Strafe!
5147 Wegen der Geschichte, welche ich Ihnen schon im Vertrauen er—
5148 zählt habe.“ „Hat diese Geschichte Sie dann noch immer so
5149 gequält?“
5150

§ 852

„Ja _ nachher habe ich es sehr bedauert, mich selbst bos-
5151haft, v6rbrecherisch und unmoralisch gefunden, aber ich war da-
5152mals fast verrückt vor Nervosität.“
5153

§ 853

Es hatte sich um einen Abortus gehandelt, welchen sie mit
5154 Einverständnis ihres Mannes, da sie beide wegen ihrer pekuniären
5155 Verhältnisse von mehr Kindersegen verschont bleiben wollten,
5156 von einer Kurpfüscherin hatte einleiten und ven einem Spezialarzt
5157 hatte zu Ende bringen lassen.
5158

§ 854

„Öfters machte ich mir den Vorwurf: aber du hast doch dein
5159 Kind töten lassen, und ich hatte Angst, daß so etwas doch nicht
5160 ohne Strafe bleiben könnte. Jetzt, da Sie mir versichert haben,
5161 daß mit den Augen nichts Schlimmes vorliegt, bin ich ganz be-
5162ruhigt: ich bin nun sowieso schon genügend gestraft.“
5163

§ 855

Dieser Unfall war also eine Selbstbestrafung einerseits, um
5164 für ihre Untat zu büßen, andererseits aber, um einer vielleicht viel
5165 größeren unbekannten Strafe, vor welcher sie monatelang fortwährend
5166 Angst hatte, zu entgehen.
5167

§ 856

In dem Augenblicke, als sie auf den Laden losstürzte, um
5168 sich das Bild zu kaufen, war die Erinnerung an die ganze Ge-
5169schichte mit all ihren Befürchtungen, welche sich schon während
5170 der Warnung ihres Mannes in ihrem Unbewußten ziemlich stark
5171 regte, überwältigend geworden und hätte vielleicht in einem etwa
5172 derartigen Wortlaut Ausdruck finden können:
5173

§ 857

Aber wofür brauchst du einen Schmuck für die Kinderstube,
5174 du hast dein Kind umbringen lassen! Du bist eine Mörderin!
5175 Die große Strafe naht ganz gewiß!
5176

§ 858

Dieser Gedanke wurde nicht bewußt, aber statt dessen be-
5177nützte sie in diesem, ich möchte sagen psychologischen Moment
5178 die Situation, um den Steinhaufen, der ihr dafür geeignet schien,
5179 in unauffälliger Weise für die Selbstbestrafung zu verwenden; des-
5180' wegen streckte sie beim Fallen auch nicht einmal die Hände aus
5181

§ 859

9=!<
5182

§ 860

5183

§ 861

_ 132 __
5184

§ 862

und darum kam es auch nicht zu einem heftigen Erschrecken.
5185 Die zweite, wahrscheinlich geringere Determinierung ihres Unfalles
5186 ist wohl die Selbstbestrafung wegen des unb ewußten Beseitigungs-
5187wunsches gegen ihren, allerdings in dieser Affäre mitschuldigen
5188 Mann. Dieser Wunsch hatte sich durch die vollkommen über—
5189 flüssige Warnung verraten, in der Straße mit dem Steinhaufen ja
5190 gut aufzupassen, da der Mann, eben weil er schlecht zu Fuß war,
5191 sehr vorsichtig ging.“
5192

§ 863

Wenn so ein Wüten gegen die eigene Integrität und das
5193 eigene Leben hinter anscheinend zufälliger Ungeschicklichkeit und
5194 motorischer Unzulänglichkeit verborgen sein kann, so braucht man
5195 keinen großen Schritt mehr zu tun, um die Übertragung der näm-
5196lichen Auffassung auf Fehlgriffe möglich zu finden, welche Leben
5197 und Gesundheit anderer ernstlich in Gefahr bringen. Was ich an
5198 Belegen für die Triftigkeit dieser Auffassung vorbringen kann, ist
5199 der Erfahrung an Neurotikern entnommen, deckt sich also nicht
5200 völlig mit dem Erfordernis. Ich werde über einen Fall.berichten,
5201 in dem mich nicht eigentlich ein Fehlgriff, sondern, was man eher
5202 eine Symptom— oder Zufallshandlung nennen kann, auf die Spur
5203 brachte, welche dann die Lösung des Konflikts bei dem Patienten
5204 ermöglichte. Ich übernahm es einmal, die Ehe eines sehr intelli-
5205genten Mannes zu bessern, dessen Mißhelligkeiten mit seiner ihn
5206 zärtlich liebenden jungen Frau sich gewiß auf reale Begründungen
5207 berufen konnten, aber, wie er selbst zugab, durch diese nicht voll
5208 erklärt wurden. Er beschäftigte sich unablässig mit dem Gedanken
5209 der Scheidung, den er dann wieder verwarf, weil er seine beiden
5210 kleinen Kinder zärtlich liebte. Trotzdem kam er immer wieder
5211 auf den Vorsatz zurück und versuchte dabei kein Mittel, um sich
5212 die Situation erträglich zu gestalten. Solches Nichtfertigwerden
5213 mit einem Konflikt gilt mir als Beweis dafür, daß sich unbewußte
5214 und verdrängte Motive zur Verstärkung der miteinander streitenden
5215 bewußten bereit gefunden haben, und ich unternehme es in solchen
5216 Fällen, den Konflikt durch psychische Analyse zu beenden. Der
5217 Mann erzählte mir eines Tages von einem kleinen Vorfall, der ihn
5218 aufs äußerste erschreckt hatte Er „hetzte“ mit seinem älteren
5219 Kind, dem weitaus geliebteren, hob es hoch und ließ es nieder
5220 und einmal an solcher Stelle und so hoch, daß das Kind mit dem
5221 Scheitel fast an den schwer herabhängenden Gasluster angestoßen
5222

§ 864

5223

§ 865

— 133 —--
5224

§ 866

wäre. Fast, aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch!
5225 Dem Kind war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck
5226 schwindlig. Der Vater blieb entsetzt mit dem Rinde im Arme
5227 Stehen, die Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die besondere
5228 Geschicklichkeit dieser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit
5229 der Reaktion bei den Eltern legten es mir nahe, in dieser Zufällig-
5230keit eine Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht
5231 gegen das geliebte Kind zum Ausdruck bringen sollte. Den Wider-
5232Spruch' gegen die aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem
5233 Kinde konnte ich aufheben, wenn ich den Impuls zur Schädigung
5234 in die Zeit zurückverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein
5235 gewesen war, daß sich der Vater noch nicht zärtlich für dasselbe
5236 zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht, anzunehmen,
5237 daß der von seiner Frau wenig befriedigte Mann damals den Ge-
5238danken gehabt oder den Vorsatz gefaßt: Wenn dieses kleine Wesen,
5239 an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei und kann
5240 mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach dem Tode
5241 dieses jetzt so geliebten Wesens mußte also unbewußt weiter-
5242bestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewußten Fixierung
5243 dieses Wunsches leicht zu finden. Eine mächtige Determinierung
5244 ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des Patienten,
5245 daß der Tod eines kleinen Bruders, den die Mutter der Nachlässig-
5246keit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Auseinandersetzungen
5247 zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung geführt hatte. Der
5248 weitere Verlauf der Ehe meines Patienten bestätigte meine Kom-
5249bination auch durch den therapeutischen Erfolg. '
5250

§ 867

IX.
5251 Symptom- und Zufallshandlungen.
5252

§ 868

Die bisher beschriebenen Handlungen, in denen wir die Aus-
5253führung einer unbewnßten Absicht erkannten, traten als Störungen
5254 anderer unbeabsichtigter Handlungen auf und deckten sich mit dem
5255 Vorwand der Ungeschicklichkeit. Die Zufallshandlungen, von denen
5256 jetzt die Rede sein soll, unterscheiden sich von denen des Ver-
5257greifens nur dadurch, daß sie die Anlehnung an eine bewußte
5258

§ 869

5259

§ 870

—133—
5260

§ 871

wäre. Fast, aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch!
5261 Dem Kind war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck
5262 schwindlig. Der Vater blieb entsetzt mit dem Rinde im Arme
5263 Stehen, die Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die besondere
5264 Geschicklichkeit dieser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit
5265 der Reaktion bei den Eltern legten es ‘mir nahe, in dieser Zufällig-
5266keit eine Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht
5267 gegen das geliebte Kind zum Ausdruck bringen sollte. Den Wider-
5268spruch gegen die aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem
5269 Kinde konnte ich aufheben, wenn ich den Impuls zur Schädigung
5270 in die Zeit zurückverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein
5271 gewesen war, daß sich der Vater noch nicht zärtlich für dasselbe
5272 zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht, anzunehmen,
5273 daß der von seiner Frau wenig befriedigte Mann damals den Ge-
5274danken gehabt oder den Vorsatz gefaßt: Wenn dieses kleine Wesen,
5275 an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei und kann
5276 mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach dem Tode
5277 dieses jetzt so geliebten Wesens mußte also unbewußt weiter-
5278bestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewußten Fixierung
5279 dieses Wunsches leicht zu finden. Eine mächtige Determinierung
5280 ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des Patienten,
5281 daß der Tod eines kleinen Bruders, den die Mutter der Nachlässig-
5282keit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Auseinandersetzungen
5283 zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung geführt hatte. Der
5284 weitere Verlauf der Ehe meines Patienten bestätigte meine Kom-
5285bination auch durch den therapeutischen Erfolg.
5286

§ 872

IX.
5287 Symptom— und Zufallshandlungen.
5288

§ 873

Die bisher beschriebenen Handlungen, in denen wir die Aus-
5289führung einer unbewußten Absicht erkannten, traten als Störungen
5290 anderer unbeabsichtigter Handlungen auf und deckten sich mit dem
5291 Vorwand der Ungeschicklichkeit. Die Zufallshandlungen, von denen
5292 jetzt die Rede sein soll, unterscheiden sich von denen des Ver-
5293greifens nur dadurch, daß sie die Anlehnung an eine bewußte
5294

§ 874

5295

§ 875

——134—
5296

§ 876

Intention verschmähen und also des Vorwandes nicht bedürfen.
5297 Sie treten für sich auf und werden zugelassen, weil man Zweck
5298 und Absicht bei ihnen nicht vermutet. Man führt sie aus, „ohne
5299 sich etwas bei ihnen zu denken“, nur „rein zufällig“, „wie um die
5300 Hände zu beschäftigen“, und man rechnet darauf, daß solche Aus-
5301kunft der Nachforschung nach der Bedeutung der Handlung ein
5302 Ende bereiten wird. Um sich dieser Ausnahmsstellung erfreuen
5303 zu können, müssen diese Handlungen, die nicht mehr die Ent-
5304schuldigung der Ungeschicklichkeit in Anspruch nehmen, bestimmte
5305 Bedingungen erfüllen; sie müssen unauffällig und ihre Effekte
5306 müssen geringfügig sein.
5307

§ 877

Ich habe eine große Anzahl solcher Zufallshandlungen bei
5308 mir und anderen gesammelt, und meine nach gründlicher Unter-
5309suchung der einzelnen Beispiele, daß sie eher den Namen von
5310 Symptomhandlungen verdienen. Sie bringen etwas zum Aus-
5311druck, was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet, und was er
5312 in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten be-
5313absichtigt. Sie spielen also ganz so wie alle anderen bisher be-
5314trachteten Phänomene die Rolle von Symptomen.
5315

§ 878

Die reichste Ausbeute an solchen Zufalls- oder Symptom-
5316handlungen erhält man allerdings bei der psychoanalytischen Be-
5317handlung der Neurotiker. Ich kann es mir nicht versagen, an
5318 zwei Beispielen dieser Herkunft zu zeigen, wie weit und wie fein
5319 die Determinierung dieser unscheinbaren Vorkommnisse durch un-
5320bewußte Gedanken getrieben ist. Die Grenze der Symptomhand-
5321lungen gegen das Vergreifen ist so wenig scharf, daß ich diese
5322 Beispiele auch im vorigen Abschnitt hätte unterbringen können.
5323

§ 879

a) Eine junge Frau erzählt als Einfall während der Sitzung,
5324 daß sie sich gestern beim Nägelschneiden „ins Fleisch geschnitten,
5325 während sie das feine Häutchen im Nagelbett abzutragen bemüht
5326 war“. Das ist so wenig interessant, daß man sich verwundert
5327 fragt, wozu es überhaupt erinnert und erwähnt wird, und auf die
5328 Vermutung gerät, man habe es mit einer Symptomhandlung zu tun.
5329 Es war auch wirklich der Ringfinger, an dem das kleine Ungeschick
5330 vorfiel, der Finger, an dem man den Ehering trägt. Es war über-
5331dies ihr Hochzeitstag, was der Verletzung des feinen Häutchens
5332 einen ganz bestimmten, leicht zu erratenden Sinn verleiht. Sie
5333 erzählt auch gleichzeitig einen Traum, der auf die Ungeschicklich—
5334

§ 880

5335

§ 881

——185—
5336

§ 882

keit ihres Mannes und auf ihre Anästhesie als Frau anspielt.
5337 Warum war es aber der Ringfinger der linken Hand, an dem sie
5338 sich verletzte, da man doch den Ehering an der rechten Hand
5339 trägt? Ihr Mann ist Jurist, „Doktor der Rechte“, und ihre geheime
5340 Neigung hatte als Mädchen einem Arzt (scherzhaft: „Doktor der
5341 Linke“) gehört. Eine Ehe zur linken Hand hat auch ihre be-
5342stimmte Bedeutung.
5343

§ 883

b) Eine unverheiratete junge Dame erzählt: „Ich habe gestern
5344 ganz unabsichtlich eine Hundertguldennote in zwei Stücke gerissen
5345 und die Hälfte davon einer mich besuchenden Dame gegeben. Soll
5346 das auch eine Symptomhandlung sein?“ Die genauere Erforschung
5347 deckt folgende Einzelheiten auf. Die Hundertguldennote: Sie
5348 widmet einen Teil ihrer Zeit und ihres Vermögens wohltätigen
5349 Werken. Gemeinsam mit einer anderen Dame sorgt sie für die
5350 Erziehung eines verwaisten Kindes. Die 100 Gulden sind der ihr
5351 zugeschickte Beitrag jener Dame, den sie in ein Kuvert einschloß
5352 und vorläufig auf ihren Schreibtisch niederlegte.
5353

§ 884

Die Besucherin war eine angesehene Dame, der sie bei einer
5354 anderen Wohltätigkeitsaktion beisteht. Diese Dame wollte eine
5355 Reihe Namen von Personen notieren, an die man sich um
5356 Unterstützung wenden könnte. Es fehlte an Papier, da griff meine
5357 Patientin nach dem Kuvert auf ihrem Schreibtisch und riß es,
5358 ohne sich an seinen Inhalt zu besinnen, in zwei Stücke, von denen
5359 ‘ sie eines selbst behielt, um ein Duplikat der N amensliste zu haben,
5360 das andere ihrer Besucherin übergab. Man bemerke die Harm—
5361 losigkeit dieses unzweckmäßigen Vorgehens. Eine Hundertgulden-
5362note erleidet bekanntlich keine Einbuße an ihrem Werte, wenn
5363 sie zerrissen wird, falls sie sich aus den Rißstücken "vollständig
5364 zusammensetzen läßt. Daß die Dame das Stück Papier nicht weg-
5365werfen würde, war durch die Wichtigkeit der darauf stehenden
5366 Namen verbürgt, und ebensowenig litt es einen Zweifel, daß sie
5367 den wertvollen Inhalt zurückstellen würde, sobald sie ihn bemerkt
5368 hätte. '
5369

§ 885

Welchem unbewußten Gedanken sollte aber diese Zufalls-
5370handlung, die sich durch ein Vergessen ermöglichte, Ausdruck
5371 geben? Die besuchende Dame hatte eine ganz bestimmte Beziehung
5372 zu unserer Kur. Es war dieselbe, die mich seinerzeit dem leidenden
5373 Mädchen als Arzt empfohlen, und. wenn ich nicht irre, hält sich
5374

§ 886

5375

§ 887

—136——
5376

§ 888

meine Patientin zum Dank für diesen Rat verpflichtet. Soll die
5377 halbierte Hundertguldennote etwa ein Honorar für diese Vermitt-
5378lung darstellen? Das bliebe noch recht befremdlich.
5379

§ 889

Es kommt aber anderes Material hinzu. Einige Tage vorher
5380 hatte eine Vermittlerin ganz anderer Art bei einer Verwandten
5381 angefragt, ob das gnädige Fräulein wohl die Bekanntschaft eines
5382 gewissen Herrn machen wolle, und. am Morgen, einige Stunden
5383 vor dem Besuche der Dame, war der Werbebrief des Freiers ein-
5384getroffen, der viel Anlaß zur Heiterkeit gegeben hatte. Als nun
5385 die Dame das Gespräch mit einer Erkundigung nach dem Be-
5386finden meiner Patientin eröffnete, konnte diese wohl gedacht
5387 haben: „Den richtigen Arzt hast du mir zwar empfohlen, wenn
5388 du-mir aber zum richtigen Mann (und dahinter: zu einem Kind)
5389 verhelfen könntest, wäre ich dir doch dankbarer.“ Von diesem
5390 verdrängt gehaltenen Gedanken aus flossen ihr die beiden Ver-
5391mittlerinnen in eins zusammen, und sie überreichte der Besucherin
5392 das Honorar, das ihre Phantasie der anderen zu geben bereit
5393 war. Völlig verbindlich wird diese Lösung, wenn ich hinzufüge,
5394 daß ich ihr erst am Abend vorher von solchen Zufalls- oder
5395 Symptomhandlungen erzählt hatte. Sie bediente sich dann der
5396 nächsten Gelegenheit, um etwas Analoges zu produzieren.
5397

§ 890

Eine Gruppierung der so überaus häufigen Zufalls- und
5398 Symptomhandlungen könnte man vornehmen, je nachdem sie ge-
5399wohnheitsmäßig, regelmäßig unter gewissen Umständen, oder ver-
5400einzelt erfolgen. Die ersteren (wie das Spielen mit der Uhrkette,
5401 das Zwirbeln am Bart usw.), die fast zur Charakteristik der be-
5402treffenden Personen dienen können, streifen an die mannigialtigen
5403 Tikbewegungen und verdienen wohl im Zusammenhange mit
5404 letzteren behandelt zu werden. Zur zweiten Gruppe rechne ich
5405 das Spielen, wenn man einen Stock, das Kritzeln, wenn man
5406 einen Bleistift in der Hand hält, das Klimpern mit Münzen in
5407 der Tasche, das Kneten von Teig und anderen plastischen
5408 Stoffen, allerlei Hantierungen an seiner Gewandung u. dgl. mehr.
5409 Unter diesen spielenden Beschäftigungen verbergen sich während
5410 der psychischen Behandlung regelmäßig Sinn und Bedeutung,
5411 denen ein anderer Ausdruck versagt ist. Gewöhnlich weiß die
5412 betreffende Person nichts davon, daß sie dergleichen tut, oder daß
5413 sie gewisse Modifikationen an ihrem gewöhnlichen Tändeln vor-
5414

§ 891

5415

§ 892

——137—
5416

§ 893

genommen hat, und sie übersicht und überhört auch die Effekte
5417 dieser Handlungen. Sie hört z. B. das Geräusch nicht, das sie
5418 beim Klimpern mit Geldstücken hervorbringt, und benimmt sich
5419 wie erstaunt und ungläubig, wenn man sie darauf aufmerksam
5420 macht. Ebenso ist alles, was man, oft ohne es zu merken, mit
5421 seinen Kleidern vornimmt, bedeutungsvoll und der Beachtung des
5422 Arztes wert. Jede Veränderung des gewohnten Aufzuges, jede
5423 kleine Nachlässigkeit, wie etwa ein nicht schließender Knopf,
5424 jede Spur von Entblößung will etwas besagen, was der Eigen-
5425tümer der Kleidung nicht direkt sagen will, meist gar nicht zu
5426 sagen weiß. Die Deutungen dieser kleinen Zufallshandlungen,
5427 sowie die Beweise für diese Deutungen ergeben sich jedesmal
5428 mit zureichender Sicherheit aus den Begleitumständen während
5429 der Sitzung, aus dem eben behandelten Thema und aus den Ein—-
5430fällen, die sich einstellen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die
5431 anscheinende Zufälligkeit lenkt. Wegen dieses Zusammenhanges
5432 unterlasse ich es, meine Behauptungen durch Mitteilung von Bei-
5433spielen mit Analyse zu unterstützen; ich erwähne diese Dinge
5434 aber, weil ich glaube, daß sie bei normalen Menschen dieselbe
5435 Bedeutung haben wie bei meinen Patienten.
5436

§ 894

Ich kann es mir nicht versagen, an wenigstens einem Beispiel
5437 zu zeigen, wie innig eine gewohnheitsgemäß ausgeführte Symbol—
5438 handlung mit dem Intimsten und Wichtigsten im Leben eines
5439 „Gesunden verknüpft sein kann 1):
5440

§ 895

„Wie Professor Freud uns gelehrt hat, spielt die Symbolik
5441 im kindlichen Leben des Normalen eine größere Rolle, als man
5442 nach früheren psychoanalytischen Erfahrungen erwartete: im Hin-
5443blick darauf mag die folgende kurze Analyse von einigem Interesse
5444 sein, insbesondere wegen ihrer medizinischen Ausblicke.
5445

§ 896

Ein Arzt stieß bei der Wiedereinrichtung seiner Möbel in einem
5446 neuen Heim auf ein „einfaches“ hölzernes Stethosk0p. Nachdem
5447 er einen Augenblick nachgedacht hatte, wo er es denn eigentlich
5448 unterbringen solle, fühlte er sich gedrängt, es seitlich auf seinen
5449 Schreibtisch zu stellen, und zwar so, daß es genau zwischen
5450 seinem Stuhl und dem, worin seine Patienten zu sitzen pflegten,
5451

§ 897

1) Beitrag zur Symbolik im Alltag von Ernest Jones (Toronto). Aus
5452

§ 898

dem Englischen übersetzt von Otto Rank (Wien). Zentralbl. f. Psycho—
5453 analyse .I, 3, 1911.
5454

§ 899

5455

§ 900

—138-—
5456

§ 901

zu stehen kam. Die Handlung als solche war aus zwei Gründen
5457 ein wenig seltsam. Erstens braucht er überhaupt nicht oft ein
5458 Stethosk0p (er ist nämlich Neurologe), und sobald er eines nötig
5459 hat, benützt er ein d0ppeltes für beide Ohren. Zweitens waren
5460 alle seine medizinischen Apparate und Instrumente in Schubkästen
5461 untergebracht, mit alleiniger Ausnahme dieses einen. Gleichwohl
5462 dachte er nicht mehr an die Sache, bis ihn eines Tages eine
5463 Patientin, die noch nie ein „einfaches“ Stethosk0p gesehen hatte,
5464 fragte, was das sei. Er sagte es ihr, und sie fragte, warum er es
5465 gerade hierher gestellt habe, worauf er schlagfertig erwiderte, daß
5466 dieser Platz ebensogut wäre wie jeder andere. Dies machte ihn
5467 jedoch stutzig und er begann nachzudenken, ob dieser Handlung
5468 nicht irgendeine unbewußte Motivierung zugrunde liege; und
5469 vertraut mit der psychoanalytischen Methode beschloß er, die
5470 Sache zu erforschen.
5471

§ 902

Als erste Erinnerung fiel ihm die Tatsache ein, daß als
5472 Student der Medizin die Gewohnheit seines Spitalarztes auf ihn
5473 Eindruck gemacht hatte, der immerwährend ein einfaches Stetho-
5474sk0p bei seinen Besuchen in den Krankensälen in der Hand ge-
5475halten hatte, obgleich er es niemals benützte. Er hatte diesen
5476 Arzt sehr bewundert und war ihm außerordentlich zugetan. Später,
5477 als er selbst die Spitalpraxis ausübte, nahm er die gleiche Ge-
5478wohnheit an und hätte sich unbehaglich gefühlt, wenn er durch
5479 ein Versehen sein Zimmer verlassen hätte, ohne das Instrument
5480 in der Hand zu schwingen. Die Nutzlosigkeit dieser Gewohnheit
5481 zeigt sich jedoch nicht nur in der Tatsache, daß das einzige
5482 Stethoskop, welches er in Wirklichkeit benutzte, eines für beide
5483 Ohren war, das er in der Tasche trug, sondern auch darin, daß
5484 sie fortgesetzt wurde, als er auf der chirurgischen Abteilung war
5485 und überhaupt kein Stethoskop mehr brauchte. Die Bedeutung
5486 dieser Beobachtungen wird sogleich klar, wenn wir auf die
5487 phallische Natur dieser symbolischen Handlung hinweisen.
5488

§ 903

Als nächstes erinnerte er die Tatsache, daß ihn als kleinen
5489 Jungen die Gewohnheit ihres Hausarztes frappiert hatte, ein ein-
5490faches Stethoskop im Innern seines Hutes zu tragen; er fand es
5491 interessant, daß der Doktor sein Hauptinstrument immer zur Hand
5492 habe, wenn er Patienten besuchen ging, und daß er nur den Hut
5493 (d. i. einen Teil seiner Kleidung) abzunehmen und „es heraus-
5494

§ 904

5495

§ 905

—139—
5496

§ 906

zuziehen“ hatte. Er war als kleines Kind diesem Arzte überaus
5497 anhänglich gewesen und konnte kürzlich durch Selbstanalyse auf-
5498decken, daß er im Alter von 31/2 Jahren eine doppelte Phantasie
5499 inbetreff der Geburt einer jüngeren Schwester gehabt hatte:
5500 nämlich, daß sie das Kind war erstens von ihm selbst und seiner
5501 Mutter, zweitens vom Doktor und ihm selbst. In dieser Phantasie
5502 spielte er also sowohl die männliche wie die weibliche Rolle. Er
5503 erinnerte ferner, im Alter von 6 Jahren von demselben Arzt unter-
5504sucht worden zu sein und entsinnt sich deutlich der wollüstigen
5505 Empfindung, als er den Kopf des Doktors, der ihm das Stethoskop
5506 an die Brust drückte, in seiner Nähe fühlte, sowie der rhythmisch
5507 hin- und hergehenden Atmungsbewegung. Im Alter von drei Jahren
5508 hatte er ein chronisches Brustübel gehabt und mußte wiederholt
5509 untersucht worden sein, wenn er das auch tatsächlich nicht mehr
5510 erinnern konnte.
5511

§ 907

Im Alter von acht Jahren machte die Mitteilung eines älteren
5512 Knaben Eindruck auf ihn, der ihm sagte, es sei Sitte des Arztes,
5513 mit seinen Patientinnen zu Bett zu gehen. Es gab sicherlich in
5514 Wahrheit einen Grund zu diesem Gerüchte, und auf alle Fälle
5515 waren die Frauen der Nachbarschaft, einschließlich seiner eigenen
5516 Mutter, dem jungen und netten Arzte sehr zugetan. Der Analy-
5517sierte selbst hatte bei verschiedenen Gelegenheiten sexuelle Ver-
5518suchungen inbezug auf seine Patientinnen erfahren, hatte sich
5519 ' zweimal in solche verliebt und schießlich eine geheiratet. Es ist
5520 kaum zweifelhaft, daß seine unbewußte Identifizierung mit dem
5521 Doktor der hauptsächlichste Grund war, der ihn bewog, den Be-
5522ruf des Mediziners zu ergreifen. Aus anderen Analysen läßt sich
5523 vermuten, daß dies sicherlich das häufigste Motiv ist (obgleich es
5524 schwer ist, zu bestimmen wie häufig). Im vorliegenden Falle war
5525 es zweifach bedingt: erstens durch die bei mehreren Gelegen-
5526heiten erwiesene Überlegenheit des Arztes dem Vater gegenüber,
5527 auf den der Sohn sehr eifersüchtig war, und zweitens durch des
5528 Doktors Kenntnis verbotener Dinge und Gelegenheiten zu sexueller
5529 Befriedigung.
5530

§ 908

, Dann kam ein bereits anderwärts veröffwtlichter Traum 1)
5531 von deutlich homosexuell-masochistischer Natur, in welchem ein
5532

§ 909

1) „Freud’s Theory of Dreams“. American Journ. of Psychol. April 1910.
5533 p. 801, Nr. 7.
5534

§ 910

5535

§ 911

——-140———
5536

§ 912

Mann, der eine Ersatzfigur des Arztes ist, den Träumer mit einem
5537 „Schwert“ angrifi’. Das Schwert erinnerte ihn an eine Geschichte
5538 in der Völsung—Nibelungen-Sage, wo Sigurd ein bloßes Schwert
5539 (Gram) zwischen sich und die schlafende Brünhilde legt. Die
5540 gleiche Geschichte kommt in der Arthus—Sage vor, die unser Mann
5541 ebenfalls genau kennt.
5542

§ 913

Der Sinn der Symptomhandlung wird nun klar. Der Arzt
5543 hatte das einfache Stethoskop zwischen sich und seine Patientinnen
5544 gestellt, genau so wie Sigurd sein Schwert zwischen sich und die
5545 Frau legte, die er nicht berühren durfte. Die Handlung war eine
5546 Kompromißbildung; sie diente zweierlei Regungen: in seiner Ein-
5547' bildung dem unterdrückten Wunsche nachzugeben, mit irgendeiner
5548 reizenden Patientin in sexuelle Beziehungen zu treten, ihn aber
5549 zugleich zu erinnern, daß dieser Wunsch nicht verwirklicht werden
5550 konnte. Es war sozusagen ein Zauber gegen die Anfechtungen
5551 der Versuchung.
5552

§ 914

Ich möchte hinzufügen, daß auf den Knaben die Stelle aus
5553 Lord Lyttons Richelieu großen Eindruck machte:
5554

§ 915

„Beneath the rule of men entirer great
5555 The pen is mightier than the sword“ 1),
5556

§ 916

daß er ein fruchtbarer Schriftsteller geworden ist und eine außer-
5557gewöhnlich große Füllfeder benützt. Als ich ihn fragte, wozu er
5558 diese nötig habe, erwiderte er charakteristischerweise: „Ich habe
5559 soviel auszudrücken.“
5560

§ 917

Diese Analyse mahnt uns wieder einmal daran, welch weit-
5561reichende Einblicke in das Seelenleben uns die „harmlosen“ und
5562 „sinnlosen“ Handlungen gewähren, und wie frühzeitig im Leben
5563 die Tendenz zur Symbolisierung entwickelt ist.“
5564

§ 918

Ich kann noch etwa aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung
5565 einen Fall erzählen, in dem die mit einem Klumpen Brotkrume
5566 spielende Hand eine beredte Aussage ablegte. Mein Patient war
5567 ein noch nicht dreizehnjähriger, seit fast zwei Jahren schwer
5568 hysterischer Knabe, den ich endlich in psychoanalytische Be-
5569handlung nahm, nachdem ein längerer Aufenthalt in einer Wasser-
5570heilanstalt sich erfolglos erwiesen hatte. Er mußte nach meiner
5571 Voraussetzung sexuelle Erfahrungen gemacht haben und seiner
5572

§ 919

1) Ci. Oldhams „I wear my pen as others do their sword.“
5573

§ 920

5574

§ 921

——141—
5575

§ 922

Altersstufe entsprechend von sexuellen Fragen gequält sein; ich
5576 hütete mich aber, ihm mit Aufklärungen zur Hilfe zu kommen,
5577 weil ich wieder einmal eine Probe auf meine Voraussetzungen
5578 anstellen wollte. Ich durfte also neugierig sein, auf welchem
5579 Wege sich das Gesuchte bei ihm andeuten würde. Da fiel es
5580 mir auf, daß er eines Tages irgend etwas zwischen den Fingern
5581 der rechten Hand rollte, damit in die Tasche fuhr, dort weiter
5582 spielte, es wieder hervorzog usw. Ich fragte nicht, was er in der
5583 Hand habe; er zeigte es mir aber, indem er plötzlich die Hand
5584 öffnete. Es war Brotkrume, die zu einem Klumpen zusammen-
5585geknetet war. In der nächsten Sitzung brachte er wieder einen
5586 solchen Klumpen mit, formte aber aus ihm, während wir das Ge-
5587Spräch führten, mit unglaublicher Raschheit und bei geschlossenen
5588 Augen Figuren, die mein Interesse erregten. Es waren unzweifel-
5589haft Männchen mit K0pf, zwei Armen, zwei Beinen, wie die
5590 rohesten prähistorischen Idole, und einem Fortsatz zwischen
5591 beiden Beinen, den er in eine lange Spitze auszog. Kaum daß
5592 dieser gefertigt war, knetete er das Männchen wieder zusammen;
5593 später ließ er es bestehen, zog aber einen ebensolchen Fortsatz
5594 an der Rückenfläche und an anderen Stellen aus, um die Be—
5595 deutung des ersten zu verhüllen. Ich wollte ihm zeigen, wie ich
5596 ihn verstanden hatte, ihm aber dabei die Ausflucht benehmen,
5597 daß er sich bei dieser menschenformenden Tätigkeit nichts ge-
5598dacht habe. In dieser Absicht fragte ich ihn plötzlich, ob er sich
5599 an die Geschichte jenes römischen Königs erinnere, der dem Ab-
5600gesandten seines Sohnes eine pantomimische Antwort im Garten
5601 gegeben. Der Knabe wollte sich nicht an das erinnern, was er
5602 doch vor so viel kürzerer Zeit als ich gelernt haben mußte. Er
5603 fragte, ob das die Geschichte von dem Sklaven sei, auf dessen
5604 glattrasierten Schädel man die Antwort geschrieben habe. Nein,
5605 das gehört in die griechische Geschichte, sagte ich und erzählte:
5606 Der König Tarquinius Superbus hatte seinen Sohn Sextus ver-
5607anlaßt, sich in eine feindliche latinische Stadt einzuschleichen.
5608 Der Sohn, der sich unterdes Anhang in dieser Stadt verschafft
5609 hatte, schickte einen Boten an den König mit der Frage, was
5610 nun weiter geschehen solle. Der König gab keine Antwort,
5611 sondern ging in seinen Garten, ließ sich dort die Frage wieder-
5612holen und schlug schweigend die größten und schönsten Mohn-
5613

§ 923

5614

§ 924

——142—
5615

§ 925

köpfe ab. Dem Boten blieb nichts übrig als dieses dem Sextus
5616 zu berichten, der den Vater verstand und es sich angelegen sein
5617 ließ, die angesehensten Bürger der Stadt durch Mord zu beseitigen.
5618

§ 926

Während ich redete, hielt der Knabe in seinem Kneten inne,
5619 und als ich mich anschickte zu erzählen, was der König in seinem
5620 Garten tat, schon bei den Worten „schlug schweigend“, hatte er
5621 mit einer blitzschnellen Bewegung seinem Männchen den Kopf
5622 abgerissen. Er hatte mich also verstanden und gemerkt, daß er
5623 von mir verstanden worden war. Ich konnte ihn nun direkt
5624 befragen, gab ihm die Auskünfte, um die es ihm zu tun war, und
5625 wir hatten binnen kurzem der Neurose ein Ende gemacht.
5626

§ 927

Die Symptomhandlungen, die man in fast unerschöpflicher
5627 Reichhaltigkeit bei Gesunden wie bei Kranken beobachten kann,
5628 verdienen unser Interesse aus mehr als einem Grunde. Dem Arzte
5629 dienen sie oft als wertvolle Winke zur Orientierung in neuen oder
5630 ihm wenig bekannten Verhältnissen, dem Menschenbeobachter ver-
5631raten sie oft alles, und mitunter selbst mehr, als er zu wissen wünscht.
5632 Wer mit ihrer Würdigung vertraut ist, darf sich gelegentlich wie
5633 der König Salomo vorkommen, der nach der orientalischen Sage
5634 die Sprachen der Tiere verstand. Eines Tages sollte ich einen
5635 mir fremden jungen Mann im Hause seiner Mutter ärztlich unter-
5636suchen. Als er mir entgegentrat, fiel mir ein großer Eiweißfleck,
5637 kenntlich an seinen eigentümlich starren Rädern, auf seiner Hose
5638 auf. Der junge Mann entschuldigte sich nach kurzer Verlegenheit,
5639 er habe sich heiser gefühlt und darum ein rohes Ei getrunken,
5640 von dem wahrscheinlich etwas schlüpiriges Eiweiß auf seine
5641 Kleidung herabgeronnen sei, und konnte zur Bestätigung auf die
5642 Eierschale hinweisen, die noch auf einem Tellerchen im Zimmer
5643 zu sehen war. Somit war der suspekte Fleck in harmloser Weise
5644 aufgeklärt; als aber die Mutter uns allein gelassen hatte, dankte
5645 ich ihm, daß er mir die Diagnose so sehr erleichtert habe, und
5646 nahm ohne weiteres sein Geständnis, daß er unter den Beschwerden
5647 der Masturbation leide, zur Grundlage unserer Unterhaltung. Ein
5648 anderes Mal machte ich einen Besuch bei einer ebenso reichen
5649 als geizigen und närrischen Dame, die dem Arzte die Aufgabe zu
5650 stellen pflegte, sich durch ein Heer. von Klagen durchzuarbeiten,
5651 ehe man zur simpeln Begründung ihrer Zustände gelangte. Als
5652 ich eintrat, saß sie bei einem Tischchen damit beschäftigt, Silber-
5653

§ 928

5654

§ 929

——143——
5655

§ 930

gulden in Häufchen zu schichten, und während sie sich erhob,
5656 warf sie einige der Geldstücke zu Boden. Ich half ihr beim
5657 Aufklauben derselben, unterbrach sie bald in der Schilderung
5658 ihres Elends und fragte: Hat Sie also der vornehme Schwiegersohn
5659 wiederum um soviel Geld gebracht? Sie antwortete mit erbitterter
5660 Verneinung, um die kürzeste Zeit nachher die klägliche Geschichte
5661 von der Aufregung über die Verschwendung des Schwiegersohnes
5662 zu erzählen, hat mich aber allerdings seither nicht wieder gerufen.
5663 Ich kann nicht behaupten, daß man sich immer Freunde unter
5664 denen wirbt, denen man die Bedeutung ihrer Symptomhandlungen
5665 mitteilt.
5666

§ 931

Wer seine Nebenmenschen während des Essens beobachten
5667 will, wird die schönsten und lehrreichsten Symptomhandlungen an
5668 ihnen feststellen können.
5669

§ 932

So erzählt Dr. Hanns Sachs:
5670

§ 933

„Ich war zufällig zugegen, als ein älteres Ehepaar meiner Ver-
5671wandtschaft das Abendessen einnahm. Die Dame war magenleidend
5672 und mußte sehr strenge Diät halten. Dem Manne war eben ein
5673 Braten vorgesetzt worden, und er hat seine Frau, die sich an
5674 dieser Speise nicht beteiligen durfte, um den Senf. Die Frau
5675 öffnete den Schrank, griff hinein und stellte vor ihren Mann das
5676 Fläschchen mit ihren Magentropfen auf den Tisch. Zwischen dem
5677 ' faßförmigen Senfglase und dem kleinen Tropf-Fläschchen bestand
5678 natürlich keine Ähnlichkeit, aus der der Mißgriff erklärt werden
5679 konnte; trotzdem bemerkte die Frau ihre Verwechslung erst, als
5680 der Gatte sie lachend darauf aufmerksam machte.
5681

§ 934

Der Sinn der Symptomhandlung bedarf keiner Erklärung.“
5682

§ 935

Ein köstliches Beispiel dieser Art, das vom Beobachter sehr
5683 geschickt ausgebeutet wurde, verdanke ich Dr. Bernh. Dattner
5684 (Wien): '
5685

§ 936

„Ich sitze mit einem Kollegen von der Phi1030phie, Dr. H.,
5686 im Restaurant beim Mittagessen. Er erzählt von den Unbilden
5687 der Probekandidatur, erwähnt nebenbei, daß er vor der Beendigung
5688 seiner Studien beim Gesandten reSp. bevollmächtigten außerordent-
5689lichen Minister von Chile als Sekretär untergekommen war. „Dann
5690 wurde aber der Minister versetzt und dem neu antretenden habe
5691 ich mich nicht vorgestellt.“ Und während er diesen letzten Satz
5692 ausspricht, führt er ein Stück Torte zum Munde, läßt es aber, wie
5693

§ 937

5694

§ 938

——-144——
5695

§ 939

aus Ungeschicklichkeit, vom Messer herabfallen. Ich erfasse sofort
5696 den geheimen Sinn dieser Symptomhandlung und werfe dem mit
5697 der Psychoanalyse nicht vertrauten Kollegen wie von ungefähr
5698 ein: „Da haben Sie "aber einen fetten Bissen fallen lassen.“ Er
5699 aber merkt nicht, daß sich meine Wort ebensogut auf seine Symp-
5700tomhandlung beziehen können, und wiederholt mit einer sonderbar
5701 anmutenden, überraschenden Lebhaftigkeit, so als hätte ich ihm
5702 förmlich das Wort aus dem Munde genommen, gerade dieselben
5703 Worte, die ich ausgesprochen: „Ja, das war wirklich ein fetter
5704 Bissen, den ich fallen gelassen habe“ und erleichtert sich dann
5705 durch eine erschöpfende Darstellung seiner Ungeschicklichkeit, die
5706 ihn um diese gut bezahlte Stellung gebracht hat.
5707

§ 940

Der Sinn der symbolischen Symptomhandlung erleuchtet sich,
5708 wenn man ins Auge faßt, daß der Kollege Skrupel empfand, mir,
5709 der ihm ziemlich ferne steht, von seiner prekären materiellen
5710 Situation zu erzählen, daß sich'dann der vordrängende Gedanke
5711 in eine Symptomhändlung kleidete, die symbolisch ausdrückt, was
5712 hätte verborgen werden sollen, und somit dem Sprecher aus dem
5713 Unbewußten Erleichterung schuf.“ —
5714

§ 941

Wie sinnreich sich ein scheinbar nicht beabsichtiges Weg-
5715nehmen oder Mitnehmen herausstellen kann, mögen folgende Bei-
5716Spiele zeigen.
5717

§ 942

1. Dr. B. Dattner: „Ein Kollege stattet seiner verehrten
5718 Jugendfreundin das erstemal nach ihrer Eheschließung einen Be-
5719such ab. Er erzählt mir von dieser Visite und drückt mir sein
5720 Erstaunen darüber aus, daß es ihm nicht gelungen sei, sich nur
5721 ganz kurze Zeit, wie er es vorhatte, bei ihr zu verweilen. Dann
5722 aber berichtet er von einer sonderbaren Fehlleistung, die ihm dort
5723 zugestoßen sei.
5724

§ 943

Der Mann seiner Freundin, der am Gespräch teilgenommen habe,
5725 hätte eine Zündhölzchenschachtel gesucht, die ganz bestimmt bei
5726 seiner Ankunft auf der Tischplatte gelegen sei. Auch der Kollege
5727 habe seine Taschen durchsucht, ob er „sie“ nicht zufällig „ein-
5728gesteckt“ habe, doch vergebens. Geraume Zeit danach habe er
5729 „sie“ tatsächlich in seiner Tasche entdeckt, wobei ihm aufgefallen
5730 sei, daß nur ein einziges Zündhölzchen in der Schachtel ge-
5731legen war.
5732

§ 944

Ein paar Tage später bestätigt ein Traum, der die Schachtel-
5733

§ 945

5734

§ 946

——145——
5735

§ 947

symbolik aufdringlich zeigt und sich mit der Jugendfreundin be-
5736schäftigt, meine Erklärung, daß der Kollege mit seiner Symptom-
5737handlung Prioritätsrechte reklamieren und die Ausschließlichkeit
5738 seines Besitzes (nur ein Zündhölzchen drinnen) darstellen wollte.“
5739

§ 948

Dr. Hanns Sachs:
5740

§ 949

„Unser Mädchen ißt eine bestimmte Torte besonders gerne.
5741 An dieser Tatsache ist kein Zweifel möglich, denn es ist die
5742 einzige Speise, die sie ausnahmslos gut zubereitet. Eines Sonn—
5743 tags brachte sic uns eben diese Torte, stellte sie auf der Kredenz
5744 ab, nahm die beim vorigen Gange benützten Teller und Bestecke
5745 und häufte sie auf die Tasse, auf der sie die Torte hereingetragen
5746 hatte; auf die Spitze dieses Haufens plazierte sie dann wieder
5747 die Torte, anstatt sie uns vorzusetzen, und verschwand damit in
5748 die Küche. Wir meinten zuerst, sie habe an der Torte irgend
5749 etwas zu verbessern gefunden, da sie aber nicht wieder erschien,
5750 läutete meine Frau und fragte: „Betty, was ist denn mit der
5751 "Torte los?“ Darauf das Mädchen ohne Verständnis: „Wieso?“
5752 Wir mußten sie erst darüber aufklären, daß sie die Torte wieder
5753 mitgenommen habe; sie hatte sie aufgeladen, hinausgetragen und
5754 wieder abgestellt, „ohne es zu bemerken“.
5755

§ 950

Am nächsten Tage, als wir uns daran machten, den Rest
5756 dieser Torte zu verzehren, bemerkte meine Frau, daß nicht weniger
5757 vorhanden war, als wir am Vortage übrig gelassen hatten, daß
5758 also das Mädchen das ihr gebührende Stück der Lieblingsspeise ver-
5759.schmäht hatte. Auf die Frage, warum sie nichts von der Torte
5760 gegessen habe, antwortete sie leicht verlegen, sie habe keine Lust
5761 gehabt
5762

§ 951

Die infantile Einstellung ist beide Male sehr deutlich; erst
5763 die kindliche Maßlosigkeit, die das Ziel der Wünsche mit niemandem
5764 teilen will, dann die ebenso kindliche Reaktion mit Trotz: wenn
5765 ihr es mir nicht gönnt, so behaltet es für euch, ich will jetzt gar
5766 nichts haben.“ — .
5767

§ 952

Die Zufalls- oder Sympt0mhandlungen, die sich in Ehesachen
5768 ereignen, haben oft die ernsteste Bedeutung und könnten den, der
5769 sich um die Psychologie des Unbewußten nicht bekümmern will,
5770 zum Glauben an Vorzeichen nötigen. Es ist kein guter Anfang,
5771 wenn eine junge Frau auf der Hochzeitsreise ihren Ehering verliert,
5772

§ 953

doch war er meist nur verlegt und wird bald wiedergefunden. —-—
5773 Freud, Psychopathologie des Alltagslebens. 10
5774

§ 954

5775

§ 955

—146—
5776

§ 956

Ich kenne eine jetzt von ihrem Manne geschiedene Dame, die bei
5777 der Verwaltung ihres Vermögens Dokumente häufig mit ihrem
5778 Mädchennamen unterzeichnet hat, viele Jahre vorher, ehe sie diesen
5779 wirklich wieder annahm. —— Einst war ich als Gast bei einem
5780 jung verheirateten Paare und hörte die junge Frau lachend ihr
5781 letztes Erlebnis erzählen, wie sie am Tage nach der Rückkehr
5782 von der Reise wieder ihre ledige Schwester aufgesucht hätte, um
5783 mit ihr, wie in früheren Zeiten, Einkäufe zu machen, während der
5784 Ehemann seinen Geschäften nachging. Plötzlich sei ihr ein Herr
5785 auf der anderen Seite der Straße aufgefallen, und sie habe ihre
5786 Schwester anstoßend gerufen: Schau, dort geht ja der Herr L.
5787 Sie hatte vergessen, daß dieser Herr seit einigen Wochen ihr
5788 Ehegemahl war. Mich überlief es kalt bei dieser Erzählung, aber
5789 ich getraute mich der Folgerung nicht. Die kleine Geschichte fiel
5790 mir erst Jahre später wieder ein, nachdem diese Ehe den unglück—
5791

§ 957

lichsten Ausgang genommen hatte.
5792

§ 958

Den beachtenswerten, in französischer Sprache veröffentlichten
5793 Arbeiten von A. Maederl) in Zürich entnehme ich folgende
5794 Beobachtung, die ebensowohl einen Platz beim „Vergessen“ ver-
5795dient hätte:
5796

§ 959

„Une dame nous racontait récemment qu’elle avait oublié
5797 d’essayer sa robe de noce et s’en souvint la veille du mariage a
5798 huit heures du soir, la couturiére désespérait de voir sa cliente.
5799 Ce détail suffit ä montrer que la fiancée ne se sentait pas trés
5800 heureuse de porter une robe d’épouse, elle cherchait a oublier cette
5801 représentation pénible. Elle est aujourd’hui ...... divorcée.“
5802

§ 960

Von der großen Schauspielerin Eleonora Duse erzählte
5803 mir ein Freund, der auf Zeichen achten gelernt hat, sie bringe
5804 in einer ihrer Rollen eine Symptomhandlung an, die so recht zeige,
5805 aus welcher Tiefe sie ihr Spiel heraufhole. Es ist ein Ehebruchs—
5806 drama; sie hat eben eine Auseinandersetzung mit ihrem Manne_
5807 gehabt und steht nun in Gedanken abseits, ehe sich ihr der Ver-
5808sucher nähert. In diesem kurzen Intervall spielt sie mit dem
5809 Ehering an ihrem Finger, zieht ihn ab, um ihn wieder anzustecken,
5810 und zieht ihn wieder ab. Sie ist nun reif für den anderen.
5811

§ 961

1) Alp h. Maeder, Contributions a la psychopathologie de la vie quoti—‘
5812 dienne. Archives des Psychologie T. VI, 1906.
5813

§ 962

5814

§ 963

——147—
5815

§ 964

Ich weiß auch von einem älteren Herrn, der ein sehr junges
5816 Mädchen zur Frau nahm und die Hochzeitsnacht anstatt abzureisen
5817 in einem Hotel der Großstadt zuzubringen gedachte. Kaum im
5818 Hotel angelangt, merkte er mit Schrecken, daß er seine Brieftasche,
5819 in der sich die ganze für die Hochzeitsreise bestimmte Geldsumme
5820 befand, vermisse, also verlegt oder verloren habe. Es gelang noch,
5821 den Diener telephonisch zu erreichen, der das Vermißte in dem
5822 abgelegten Rock des Hochzeiters auffand und dem Harrenden, der
5823 so ohne Vermögen in die Ehe gegangen war, ins Hotel brachte.
5824 Er konnte also am nächsten Morgen die Reise mit seiner jungen
5825 Frau antreten; in der Nacht selbst war er, wie seine Befürchtung
5826 vorausgesehen hatte, „unvermögend“ geblieben.
5827

§ 965

Es ist tröstlich zu denken, daß das „Verlieren“ der Menschen
5828 in ungeahnter Ausdehnung Symptomhandlung und somit wenigstens
5829 einer geheimen Absicht des Verlustträgers willkommen ist. Es ist
5830 oft nur ein Ausdruck der geringen Schätzung des verlorenen Gegen—
5831 standes oder einer geheimen Abneigung gegen denselben oder
5832 gegen die Person, von der er herstammt, oder die Verlustneigung
5833 hat sich auf diesen Gegenstand durch symbolische Gedanken-
5834verbindung von anderen und bedeutsameren Objekten her über—
5835 tragen. Das Verlieren wertvollerer Dinge dient mannigfachen
5836 Regungen zum Ausdruck, es soll entweder einen verdrängten Ge-
5837danken symbolisch darstellen, also eine Mahnung wiederholen, die
5838 man gerne überhören möchte, oder es soll — und dies vor allem
5839 anderen — den dunkeln Schicksalsmächten — Opfer bringen,
5840 deren Dienst auch unter uns noch nicht erloschen ist 1).
5841

§ 966

1) Hier noch eine kleine Sammlung mannigfaltiger Symptomhandlungen
5842 bei Gesunden und N eurotikern: Ein älterer Kollege, der nicht gerne im
5843 Kartenspiel verliert, hat eines Abends eine größere Verlustsumme k]aglos,
5844 aber in eigentümlich verhaltener Stimmung ausgezahlt. Nach seinem Weg-
5845gehen wird entdeckt, daß er so ziemlich alles, was er bei sich trägt, auf
5846 seinem Platz zurückgelasseh hat: Brille, Zigarrentasche und Sacktuch. Das
5847 fordert wohl die Übersetzung: Ihr Räuber, ihr habt mich da schön ausge-
5848plündert. — Ein Mann, der an gelegentlich auftretender sexueller Impotenz
5849 leidet, welche in der Innigkeit seiner Kinderbeziehungen zur Mutter be-
5850gründet ist, beriChtet, daß er gewohnt ist, Schriften und. Aufzeichnungen mit
5851 einem S, dem Anfangsbuchstaben des Namens seiner Mutter, zu verzieren.
5852 ‘ Er verträgt es nicht, daß Briefe von Hause auf seinem Schreibtisch in Be-
5853rührung mit anderen unheiligen Briefschaften geraten, und ist darum genötigt,
5854

§ 967

10’*<
5855

§ 968

5856

§ 969

—148——
5857

§ 970

Zur Erläuterung dieser Sätze über das Verlieren nun einige
5858 Beispiele:
5859

§ 971

Dr. B. Dattner. „Ein Kollege berichtet mir, daß er seinen
5860 Penkalastift, den er bereits über zwei Jahre besessen habe, und
5861 der ihm seiner Vorzüge wegen sehr wertvoll geworden sei, un-
5862vermutet verloren habe. Die Analyse ergab folgenden Tatbestand:
5863 Am Tage vorher hatte der Kollege von seinem Schwager einen
5864 empfindlich unangenehmen Brief erhalten, dessen Schlußsatz
5865 folgendermaßen lautete: „Ich habe vorläufig weder Lust noch
5866 Zeit, Deinen Leichtsinn und Deine Faulheit zu unterstützen.“ Der
5867 Affekt, der sich an diesen Brief knüpfte, war so mächtig, daß der
5868 Kollege prompt am nächsten Tage den Penkala, ein G es eh enk
5869 dieses Schwagers, opferte, um durch dessen Gnade nicht
5870 allzusehr beschwert zu sein.
5871

§ 972

Otto B ank hat in einer längeren Mitteilung (Das Verlieren
5872 als Symptomhandlung, Zentralbl. f. Psychoanalyse I. Jahrg. 10/11)
5873 die diesem Akt zugrunde liegende Opferstimmung und dessen tiefer
5874

§ 973

erstere gesondert aufzubewahren. — Eine junge Dame reißt plötzlich die
5875 Türe des Behandlungszimmers auf, in dem sich noch ihre Vorgängerin be-
5876findet. Sie entschuldigt sich mit „Gedankenlosigkeit“; es ergibt sich bald,
5877 daß sie die Neugierde demonstriert hat, welche sie seinerzeit ins Schlaf-
5878zimmer der Eltern dringen ließ. — Mädchen, die auf ihre schönen Haare
5879 stolz sind, wissen so geschickt mit Kamm und Haarnadeln umzugehen, daß
5880 sich ihnen mitten im Gespräch die Haare lösen. — Manche Männer zerstreuen
5881 während der Behandlung (in liegender Stellung) Kleingeld aus der Hosen-
5882tasche und honorieren so die Arbeit der Behandlungsstunde je nach ihrer
5883 Schätzung. —— Wer beim Arzt einen mitgebrachten Gegenstand, wie Zwicker,
5884 Handschuhe, Täschchen vergißt, deutet damit an, daß er sich nicht losreißen
5885 kann und gerne bald wiederkommen möchte. E. Jones sagt: One can
5886 almost measure the success with which a physician is practising psycho-
5887therapy, for instance by the size of the collection of umbrellas, handkerchiefs,
5888 purses, and so on, that he could make in a month. — Die kleinsten ge—
5889 wohnheitsmäßigen und mit minimaler Aufmerksamkeit ausgeführten Ver-
5890richtungen, wie das Aufziehen der Uhr vor dem Schlafengehen, das Aus-
5891löschen des Lichtes vor dem Verlassen des Zimmers 11. a., sind gelegentlich
5892 Störungen unterworfen, welche den Einfluß der unbewußten Komplexe auf
5893 die angeblich stärksten „Gewohnheiten“ unverkennbar demonstrieren. Maeder
5894 erzählt in der Zeitschrift „Coenobium“ von einem Spitalarzte, der sich eines
5895 Abends einer wichtigen Angelegenheit wegen entschloß, in die Stadt zu gehen,
5896 obwohl er Dienst hatte und das Spital nicht hätte verlassen sollen. Als er
5897 zurückkam, bemerkte er zu seinem Erstaunen Licht in seinem Zimmer. Er
5898

§ 974

5899

§ 975

——149—-
5900

§ 976

reichende Motivierungen mit Hilfe von Traumanalysen durchsichtig
5901 gemacht. Man muß sagen, daß gerade solche Symptomhandlungen
5902 oft den besten Zugang zur Erkenntnis des intimen Seelenlebens
5903 der Menschen gestatten.
5904

§ 977

Von den vereinzelten Zufallshandlungen will ich ein Beispiel
5905 mitteilen, welches auch ohne Analyse eine tiefere Deutung zuließ,
5906 das die Bedingungen trefflich erläutert, unter denen solche Sym—
5907 ptome vollkommen unauffällig produziert werden können, undfan
5908 das sich eine praktisch bedeutsame Bemerkung anknüpfen läßt.
5909 Auf einer Sommerreise traf es sich, daß ich einige Tage an einem
5910 gewissen Orte auf die Ankunft meines Reisegefährten zu warten
5911 hatte. Ich machte unterdes die Bekanntschaft eines jungen Mannes,
5912 der sich gleichfalls einsam zu fühlen schien und sich bereitwillig
5913 mir anschloß. Da wir in demselben Hotel wohnten, fügte es sich
5914 leicht, daß wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnahmen und Spazier-
5915gänge miteinander machten. Am Nachmittag des dritten Tages
5916 teilte er mir plötzlich mit, daß er heute abends seine mit dem Eil-
5917

§ 978

hatte, was ihm früher nie geschehen war, vergessen, bei seinem Weggehen
5918 dunkel zu machen. Er besann sich aber bald auf das Motiv dieses Ver-
5919gessens. Der im Hause wohnende Spitaldirektor mußte ja aus dem Licht
5920 im Zimmer seines Interne den Schluß ziehen, daß dieser im Hause sei. -—
5921 Ein mit Sorgen überbürdeter und gelegentlich Verstimmungen unterworfener
5922 Mann versicherte mir, daß er regelmäßig am Morgen seine Uhr abgelaufen
5923 finde, wenn ihm am Abend vorher das Leben gar zu hart und unfreundlich
5924 ' erschienen sei. Er drückt also durch die_Unterlassung, die Uhr aufzuziehen,
5925 symbolisch aus, daß ihm nichts daran gelegen sei, den nächsten Tag zu er-
5926leben. —— Ein anderer, mir persönlich unbekannt, schreibt: „Von einem harten
5927 Schicksalsschlage betroffen, erschien mir das Leben so hart und unfreundlich,
5928 daß ich mir einbildete, keine genügende Kraft zu finden, um den nächsten
5929 Tag durchzuleben, und da bemerkte ich, daß ich fast täglich meine Uhr auf-
5930zuziehen vergaß, was ich früher niemals unterli'eß und es vor dem Niederlegen
5931 regelmäßig fast mechanich unbewußt tat. Nur sehr selten erinnerte ich mich
5932 daran, wenn ich am folgenden Tage etwas Wichtiges oder mein Interesse
5933 besonders fesselndes vorhatte. Sollte auch dies eine Symptomhandlung sein?
5934 Ich konnte mir dies gar nicht erklären.“ — Wer sich wie Jung (Über die
5935 Psychologie der Dementia praecox, 1907 S. 62) oder Maeder (Une voie
5936 nouvelle en.psychologie — Freud et son école, „Coenobium“, Lugano 1909)
5937 die Mühe nehmen will, auf die Melodien zu achten, welche man, ohne es zu
5938 beabsichtigen, oft ohne es zu merken, vor sich hin trällert, wird die Be-
5939

§ 979

ziehung des Textes zu einem die Person beschäftigenden Thema wohl regel-
5940mäßig aufdecken können.
5941

§ 980

5942

§ 981

—150——
5943

§ 982

zugeäanlangende Frau erwarte. Mein psychologisches Interesse
5944 wurdeäf’nun rege, denn es war mir an meinem Gesellschafter be-
5945reits am Vormittag aufgefallen, daß er meinen Vorschlag zu einer
5946 größeren Partie zurückgewiesen und auf unserm kleinen Spazier-
5947gang einen gewissen Weg als zu steil und gefährlich nicht hatte
5948 begehen wollen. Auf dem Nachmittagspaziergang behauptete er
5949 plötzlich, ich müßte doch hungrig sein, ich sollte doch ja nicht
5950 seinetwegen die Abendmahlzeit aufschieben, er werde erst nach der
5951 Ankunft seiner Frau mit ihr zu Abend essen. Ich verstand den
5952 Wink und setzte mich an den Tisch, während er auf den Bahnhof
5953 ging. Am nächsten Morgen trafen wir uns in der Vorhalle des
5954 Hotels. Er stellte mich seiner Frau vor und fügte hinzu: Sie
5955 werden doch mit uns das Frühstück nehmen? Ich hatte noch
5956 eine kleine Besorgung in der nächsten Straße vor und versicherte,
5957 ich würde bald nachkommen. Als ich dann in den Frühstücks-
5958saal trat, sah ich, daß das Paar an einem kleinen Fenstertisch
5959 Platz genommen hatte, auf dessen einer Seite sie beide saßen.
5960 Auf der Gegenseite befand sich nur ein Sessel, aber über dessen
5961 Lehne hing der große und schwere Lodenmantel des Mannes herab,
5962 den Platz verdeckend. Ich verstand sehr wohl den Sinn dieser
5963 gewiß nicht absichtlichen, aber darum um so ausdrucksvolleren
5964 Lagerung. Es hieß: Für dich ist hier kein Platz, du bist jetzt
5965 überflüssig. Der Mann bemerkte es nicht, daß ich vor dem Tische
5966 stehen blieb, ohne mich zu setzen, wohl aber die Dame, die ihren
5967 . Mann sofort anstieß und ihm zuflüsterte: Du hast ja dem Herrn
5968 den Platz verlegt.
5969

§ 983

Bei diesem wie bei anderen ähnlichen Erlebnissen habe ich
5970 mir gesagt, daß die unabsichtlich ausgeführten Handlungen unver-
5971meidlich zur Quelle von Mißverständnissen im menschlichen Ver-
5972kehr werden müssen. Der Täter, der von einer mit ihnen ver-
5973knüpften Absicht nichts weiß, rechnet sich dieselben nicht an und
5974 hält sich nicht verantwortlich für sie. Der andere hingegen er-
5975kennt, indem er regelmäßig auch solche Handlungen seines Partners
5976 zu Schlüssen über dessen Absichten und Gesinnungen verwertet,
5977 mehr von den psychischen Vorgängen des Fremden, 'als dieser
5978 selbst zuzugeben bereit ist und mitgeteilt zu haben glaubt. Letzterer
5979 aber entrüstet sich, wenn ihm diese aus seinen Symptomhand—
5980 lungen gezogenen Schlüsse vorgehalten werden, erklärt sie für
5981

§ 984

5982

§ 985

—151—-—
5983

§ 986

grundlos, da ihm das Bewußtsein für die Absicht bei der Aus-
5984führung fehlt, und klagt über Mißverständnis von seiten des anderen.
5985 Genau besehen beruht ein solches Mißverständnis auf einem Zufein-
5986und Zuvielverstehen. Je „nervöser“ zwei Menschen sind, desto
5987 eher werden sie einander Anlaß zu Entzweiungen bieten, deren
5988 Begründung jeder für seine eigene Person ebenso bestimmt
5989 leugnet, wie er sie für die Person des anderen als gesichert an-
5990nimmt. Und dies ist wohl die Strafe für die innere Unaufrichtig-
5991keit, daß die Menschen unter den Vorwänden des Vergessens,
5992 Vergreifens und der Unabsichtlichkeit Regungen den Ausdruck
5993 gestatten, die sie besser sich und anderen eingestehen würden,
5994 wenn sie sie schon nicht beherrschen können. Man kann in der
5995 Tat ganz allgemein behaupten, daß jedermann fortwährend psychische
5996 Analyse an seinen Nebenmenschen betreibt und diese infolge—
5997 dessen besser kennen lernt als jeder einzelne sich selbst. Der
5998 Weg zur Befolgung der Mahnung yvc‘üdc oeocvzbv führt durch
5999 das Studium seiner eigenen scheinbar zufälligen Handlungen und
6000

§ 987

Unterlassungen.
6001

§ 988

X.
6002 Irrtümer.
6003

§ 989

Die Irrtümer des Gedächtnisses sind vom Vergessen mit Fehl—
6004 erinnern nur durch den einen Zug unterschieden, daß der Irrtum
6005 (das Fehlerinnern) nicht als solcher erkannt wird, sondern Glauben
6006 findet. Der Gebrauch des Ausdruckes „Irrtum“ scheint aber noch
6007 an einer anderen Bedingung zu hängen. Wir sprechen von „Irren“
6008 anstatt von „falsch Erinnern“, wo in dem zu reproduzierenden
6009 psychischen Material der Charakter der objektiven Realität hervor-
6010gehoben werden soll, wo also etwas anderes erinnert werden soll
6011 als eine Tatsache meines eigenen psychischen Lebens, vielmehr
6012 etwas, was der Bestätigung oder Widerlegung durch die Erinnerung
6013 anderer zugänglich ist. Den Gegensatz zum Gedächtnisirrtum in
6014 diesem Sinn bildet die Unwissenheit.
6015

§ 990

In meinem Buche „Die Traumdeutung“ (1900) 1) habe ich
6016

§ 991

1) 3. Aufl. 1911.
6017

§ 992

[/]
6018

151grundlos, da ihm das Bewußtsein für die Absicht bei der Aus-
6019führung fehlt, und klagt über Mißverständnis von seiten des anderen.
6020 Genau besehen beruht ein solches Mißverständnis auf einem Zufein-
6021und Zuvielverstehen. Je „nervöser“ zwei Menschen sind, desto
6022 eher werden sie einander Anlaß zu Entzweiungen bieten, deren
6023 Begründung jeder für seine eigene Person ebenso bestimmt
6024 leugnet, wie er sie für die Person des anderen als gesichert an-
6025nimmt. Und dies ist wohl die Strafe für die innere Unaufrichtig-
6026keit, daß die Menschen unter den Vorwänden des Vergessens,
6027 Vergreifens und der Unabsichtlichkeit Regungen den Ausdruck
6028 gestatten, die sie besser sich und anderen eingestehen würden,
6029 wenn sie sie schon nicht beherrschen können. Man kann in der
6030 Tat ganz allgemein behaupten, daß jedermann fortwährend psychische
6031 Analyse an seinen Nebenmenschen betreibt und diese infolge-
6032dessen besser kennen lernt als jeder einzelne sich selbst. Der
6033 Weg zur Befolgung der Mahnung γνῶδι σεαυτὸν führt durch
6034 das Studium seiner eigenen scheinbar zufälligen Handlungen und
6035 Unterlassungen.
6036

§ 993

X.
6037

§ 994

Irrtümer.
6038

§ 995

Die Irrtümer des Gedächtnisses sind vom Vergessen mit Fehl-
6039erinnern nur durch den einen Zug unterschieden, daß der Irrtum
6040 (das Fehlerinnern) nicht als solcher erkannt wird, sondern Glauben
6041 findet. Der Gebrauch des Ausdruckes „Irrtum“ scheint aber noch
6042 an einer anderen Bedingung zu hängen. Wir sprechen von „Irren“
6043 anstatt von „falsch Erinnern“, wo in dem zu reproduzierenden
6044 psychischen Material der Charakter der objektiven Realität hervor-
6045gehoben werden soll, wo also etwas anderes erinnert werden soll
6046 als eine Tatsache meines eigenen psychischen Lebens, vielmehr
6047 etwas, was der Bestätigung oder Widerlegung durch die Erinnerung
6048 anderer zugänglich ist. Den Gegensatz zum Gedächtnisirrtum in
6049 diesem Sinn bildet die Unwissenheit.
6050

§ 996

In meinem Buche „Die Traumdeutung“ (1900) ¹⁾1) habe ich
6051

¹⁾ 3. Aufl. 1911.
6052

§ 997

——152——
6053

§ 998

mich einer Reihe von Verfälschungen an geschichtlichem und. über-
6054haupt tatsächlichem Material schuldig gemacht, auf die ich nach
6055 dem Erscheinen des Buches mit Verwunderung aufmerksam ge-
6056worden bin. Ich habe bei näherer Prüfung derselben gefunden,
6057 daß sie nicht meiner Unwissenheit entsprungen sind, sondern sich
6058 auf Irrtümer des Gedächtnisses zurückleiten, welche sich durch
6059 Analyse aufklären lassen.
6060

§ 999

a) Auf S. 266 bez_eichne ich als den Geburtsort Schillers
6061 die Stadt M arb urg, deren Name in der Steiermark wiederkehrt.
6062 Der Irrtum findet sich in der Analyse eines Traumes während
6063 einer Nachtreise, aus dem ich durch den vom Kondukteur aus-
6064gerufenen Stationsnamen Marburg geweckt wurde. Im Traum-
6065inhalt wird nach einem Buch von Schiller gefragt. Nun ist
6066 Schiller nicht in der Universitätsstadt Marburg, sondern in
6067 dem schwäbischen Marbach geboren. Ich behaupte auch, daß
6068 ich dies immer gewußt habe.
6069

§ 1000

b) Auf S. 135 wird Hannibals Vater Hasdrubal ge—
6070 nannt. Dieser Irrtum war mir besonders ärgerlich, hat mich aber
6071 in der Auffassung solcher Irrtümer am meisten bestärkt. In der
6072 Geschichte der B ar k i d e n dürften wenige der Leser des Buches
6073 besser Bescheid wissen als der Verfasser, der diesen Fehler nieder-
6074schrieb und ihn bei drei Korrekturen übersah. Der Vater H a n n i -
6075bais hieß Hamilkar Barkas, Hasdrubal war der Name
6076 von Hannibals Bruder, übrigens auch der seines Schwagers
6077 und Vorgängers im Kommando.
6078

§ 1001

c) Auf S. 177 und S. 370 behaupte ich, daß Zeus seinen
6079 Vater Kronos entmannt und ihn vom Throne stürzt. Diesen
6080 Greuel habe ich aber irrtümlich um eine Generation vorgeschoben;
6081 die griechische Mythologie läßt ihn von Kronos an seinem
6082 Vater Uranos verüben 1). '
6083

§ 1002

Wie ist es nun zu erklären, daß mein Gedächtnis in diesen
6084 Punkten Ungetreues lieferte, während es mir sonst, wie sich Leser
6085 des Buches überzeugen können, das entlegenste und ungebräuch-
6086lichste Material zur Verfügung stellte? Und ferner, daß ich bei
6087

§ 1003

1) Kein voller Irrtum! Die orphische Version des Mythus ließ die Ent-
6088mannung an Kronos von seinem Sohne Zeus wiederholt werden. (Roseher,
6089 Lexikon d. Mythologie.)
6090

§ 1004

6091

§ 1005

——153—
6092

§ 1006

drei sorgfältig durchgeführten Korrekturen wie mit Blindheit ge-
6093schlagen an diesen Irrtümern vorbeiging?
6094

§ 1007

Goethe hat von Lichtenberg gesagt: Wo er einen Spaß
6095 macht, liegt ein Problem verborgen. Ähnlich kann man über die
6096 hier angeführten Stellen meines Buches behaupten: Wo ein Irrtum
6097 vorliegt, da steckt eine Verdrängung dahinter. Richtiger gesagt:
6098 Eine Unaufrichtigkeit, eine Entstellung, die schließlich auf Ver-
6099drängtem fußt. Ich bin bei der Analyse der dort mitgeteilten
6100 Träume durch die bloße Natur der Themata, auf: welche sich die
6101 Traumgedanken beziehen, genötigt gewesen, einerseits die Analyse
6102 irgendwo vor ihrer Abrundung abzubrechen, andererseits einer in-
6103diskreten Einzelheit durch leise Entstellung die Schärfe zu be-
6104nehmen. Ich konnte nicht anders und hatte auch keine andere
6105 Wahl, wenn ich überhaupt Beispiele und Belege vorbringen wollte;
6106 meine Zwangslage leitete sich mit Notwendigkeit aus der Eigen-
6107schaft der Träume ab, Verdrängtem, d. h. Bewußtseinsunfähigem,
6108 Ausdruck zu geben. Es dürfte trotzdem genug übrig geblieben
6109 sein, woran empfindlichere Seelen Anstoß genommen haben. Die
6110 Entstellung oder Verschweigung der mir selbst noch bekannten
6111 fortsetzenden Gedanken hat sich nun nicht spurlos durchführen
6112 lassen. Was ich unterdrücken wollte, hat sich oftmals wider
6113 meinen Willen den Zugang in das von mir Aufgenommene er-
6114kämpft und ist darin als von mir unbemerkter Irrtum zum Vor—
6115 schein gekommen. In allen drei hervorgehobenen Beispielen liegt
6116 übrigens das nämliche Thema zugrunde; die Irrtümer sind Ab-
6117kömmlinge verdrängter Gedanken, die sich mit meinem verstorbenen
6118 Vater beschäftigen.
6119

§ 1008

ad a) Wer den auf S. 266 analysierten Traum durchliest,
6120 wird teils unverhüllt erfahren, teils aus Andeutungen erraten
6121 können, daß ich bei Gedanken abgebrochen habe, die eine un-
6122freundliche Kritik am Vater enthalten hätten. In der Fortsetzung
6123 dieses Zuges von Gedanken und Erinnerungen liegt nun eine
6124 ärgerliche Geschichte, in welcher Bücher eine Rolle spielen, und
6125 ein Geschäftsfreund des Vaters, der den Namen Marburg führt,
6126 denselben Namen, durch dessen Anruf in der gleichnamigen Süd-
6127bahnstation ich aus dem Schlaf geweckt wurde. Diesen Herrn
6128 Mar burg wollte ich bei der Analyse mir und den Lesern unter-
6129schlagen; er rächte sich dadurch, daßer sich dort einmengte, wo
6130

§ 1009

6131

§ 1010

—-154——
6132

§ 1011

er nicht hingehört, und den Namen des Geburtsortes Schillers
6133 aus Marbach in Marburg veränderte.
6134

§ 1012

ad b) Der Irrtum Hasdrubal anstatt Hamilkar, der
6135 Name des Bruders an Stelle des Namens des Vaters, ereignete
6136 sich gerade in einem Zusammenhange, der von den Hannibal-
6137phantasien meiner Gymnasiastenjahre und von meiner Unzufrieden-
6138heit mit dem Benehmen des Vaters gegen die „Feinde unseres Volkes“
6139 handelt. Ich hätte fortsetzen und erzählen können, wie mein Ver-
6140hältnis zum Vater durch einen Besuch in England verändert wurde,
6141 der mich die Bekanntschaft meines dort lebenden Halbbruders aus
6142 früherer Ehe des Vaters machen ließ. Mein Bruder hat einen
6143 ältesten Sohn, der mir gleichalterig ist; die Phantasien, wie anders
6144 es geworden wäre, wenn ich nicht als Sohn des Vaters, sondern
6145 des Bruders zur Welt gekommen wäre, fanden also kein Hindernis
6146 an den Altersrelationen. Diese unterdrückten Phantasien fälschten
6147 nun an der Stelle, wo ich in der Analyse abbrach, den Text
6148 meines Buches, indem sie mich nötigten, den Namen des Bruders
6149 für den des Vaters zu setzen.
6150

§ 1013

ad 0) Dem Einfluß der Erinnerung an diesen selben Bruder
6151 schreibe ich es zu, daß ich die mythologischen Greuel der griechischen
6152 Götterwelt um eine Generation vorgeschoben habe. Von den
6153 Mahnungen des Bruders ist mir lange Zeit eine im Gedächtnis
6154 geblieben: „Vergiß nicht in bezug auf Lebensführung eines“, hatte
6155 er mir gesagt, „daß du nicht der zweiten, sondern eigentlich der
6156 dritten Generation vom Vater aus angehörst.“ Unser Vater hatte
6157 sich in späteren Jahren wieder verheiratet und war um so vieles
6158 älter als seine Kinder zweiter Ehe. Ich begehe den besprochenen
6159 Irrtum im Buche gerade dort, wo ich von der Pietät zwischen
6160 Eltern und Kindern handle.
6161

§ 1014

Es ist auch einige Male vorgekommen, daß Freunde und
6162 Patienten, deren Träume ich berichtete, oder auf die ich in den
6163 Traumanalysen anspielte, mich aufmerksam machten, die Umstände
6164 der gemeinsam erlebten Begebenheit seien von mir ungenau er-
6165zählt worden. Das wären nun wiederum historische Irrtümer.
6166 Ich habe die einzelnen Fälle nach der Richtigstellung nachgeprüft
6167 und mich gleichfalls überzeugt, daß meine Erinnerung des Sach-
6168lichen nur dort ungetreu war, wo ich in der Analyse etwas mit
6169 Absicht entstellt oder verhehlt hatte. Auch hier wieder ein un-
6170

§ 1015

6171

§ 1016

_— 155 .—
6172

§ 1017

bemerkter Irrtum als Ersatz für eine absichtliche
6173 Verschweigung oder Verdrängung.
6174

§ 1018

Von diesen Irrtümern, die der Verdrängung entspringen, heben
6175 sich scharf andere ab, die auf wirklicher Unwissenheit beruhen.
6176 So war es z. B. Unwissenheit, wenn ich auf einem Ausflug in
6177 die Wachau den Aufenthalt des Revolutionärs Fischhof be-
6178rührt zu haben glaubte. Die beiden Orte haben nur den Namen
6179 gemein; das Emmersdorf Fischhofs liegt in Kärnthen.
6180 Ich wußte es aber nicht anders.
6181

§ 1019

Noch ein beschämender und lehrreicher Irrtum, ein Beispiel
6182 von temporärer Ignoranz, wenn man so sagen darf. Ein Patient
6183 mahnte mich, eines Tages, ihm die zwei versprochenen Bücher
6184 über Venedig mitzugeben, aus denen er sich für seine Österreise
6185 vorbereiten wolle. Ich habe sie bereit gelegt, erwiderte ich, und
6186 ging in das Bibliothekszimmer, um sie zu holen. In Wahrheit
6187 hatte ich aber vergessen, sie herauSZusuchen, denn ich war mit
6188 der Reise meines Patienten, in der ich eine unnötige Störung der ‘
6189 Behandlung und eine materielle Schädigung des Arztes erblickte,
6190 nicht recht einverstanden. Ich halte also in der Bibliothek rasche
6191 Umschau nach den beiden Büchern, die ich ins Auge gefaßt hatte.
6192 „Venedig als Kunststätte“ ist das eine; außerdem aber muß ich
6193 noch ein historisches Werk in einer ähnlichen Sammlung besitzen.
6194 Richtig, da ist es: „Die Mediceer“, ich nehme es und bringe es
6195 dem Wartenden, um dann beschämt den Irrtum einzugestehen.
6196 Ich weiß doch wirklich, daß die Medici nichts mit Venedig zu
6197 tun haben, aber es erschien mir für eine kurze Weile gar nicht
6198 unrichtig. Nun muß ich Gerechtigkeit üben; da ich dem Patienten
6199 so häufig seine eigenen Symptomhandlungen vorgehalten habe,
6200 kann ich meine Autorität vor ihm nur retten, wenn ich ehrlich
6201 werde und ihm die geheim gehaltenen Motive meiner Abneigung
6202 gegen seine Reise kundgebe.
6203

§ 1020

Man darf ganz allgemein erstaunt sein, daß der Wahrheits-
6204drang der Menschen soviel stärker ist, als man ihn für gewöhn—
6205 lich einschätzt. Vielleicht ist es übrigens eine Folge meiner Be-
6206schäftigung mit der Psychoanalyse, daß ich kaum mehr lügen
6207 kann. So oft ich eine Entstellung versuche, unterliege ich einer
6208 Irrung oder anderen Fehlleistung, durch die sich meine Unauf-
6209richtigkeit wie in diesen und den vorstehenden Beispielen verrät.
6210

§ 1021

6211

§ 1022

——156——
6212

§ 1023

Der Mechanismus des Irrtums scheint der lockerste unter
6213 allen Fehlleistungen, d. h. das Vorkommen des Irrtums zeigt ganz
6214 allgemein an, daß die betreffende seelische Tätigkeit mit irgend-
6215einem störenden Einfluß zu kämpfen hatte, ohne daß die Art des
6216 Irrtums durch die Qualität der im Dunkeln gebliebenen störenden
6217 Idee determiniert wäre. Wir tragen indes an dieser Stelle nach,
6218 daß bei vielen einfachen Fällen von Versmechen und Verschreiben
6219 derselbe Tatbestand anzunehmen ist. Jedesmal, wenn wir uns
6220 versprechen oder verschreiben, dürfen wir eine Störung durch
6221 seelische Vorgänge außerhalb der Intention erschließen, aber es
6222 ist zuzugeben, daß das Versprechen und Verschreiben oftmals den
6223 Gesetzen der Ähnlichkeit, der Bequemlichkeit oder der Neigung
6224 zur Beschleunigung folgt, ohne daß es dem Störenden gelungen
6225 wäre, ein Stück seines eigenen Charakters in dem beim Versprechen
6226 oder Verschreiben resultierenden Fehler durchzusetzen. Das Ent-
6227gegenkommen des sprachlichen Materiales ermöglicht erst die Deter-
6228' minierung des Fehlers und setzt derselben auch die Grenze.
6229

§ 1024

Um nicht ausschließlich eigene Irrtümer anzuführen, will ich
6230 noch einige Beispiele mitteilen, die allerdings ebensowohl beim
6231 Versprechen und Vergreifen hätten eingereiht werden können,
6232 was aber bei der Gleichwertigkeit all dieser Weisen von Fehl-
6233leistung bedeutungslos zu nennen ist.
6234

§ 1025

a) Ich habe einem Patienten untersagt, die Geliebte, mit der
6235 er selbst brechen möchte, telephonisch anzurufen, da jedes Ge-
6236spräch den Abgewöhnungskampf von neuem entfacht. Er soll ihr
6237 seine letzte Meinung schreiben, wiewohl es Schwierigkeiten hat,
6238 ihr Briefe zuzustellen. Er besucht mich nun um 1 Uhr, um mir
6239 zu sagen, daß er einen Weg gefunden hat, der diese Schwierig-
6240keiten umgeht, fragt auch unter anderem, ob er sich auf meine
6241 ärztliche Autorität berufen darf. Um 2 Uhr ist er mit der Ab-
6242fassung des Absagebriefes beschäftigt, unterbricht sich plötzlich,
6243 sagt der dabei anwesenden Mutter: Jetzt habe ich vergessen, den
6244 Professor zu fragen, ob ich in dem Brief seinen Namen nennen
6245 darf, eilt zum Telephon, läßt sich verbinden und ruft die Frage
6246 ins Rohr: Bitte, ist der Herr Professor schon nach dem Speisen
6247 zu sprechen? Als Antwort tönt ihm ein erstauntes „Adolf, bist
6248 du verrückt geworden?“ entgegen, und zwar von der nämlichen
6249 Stimme, die er nach meinem Gebote nicht mehr hätte hören
6250

§ 1026

6251

§ 1027

—157—
6252

§ 1028

sollen. Er hatte sich bloß „geirrt“ und anstatt der Nummer des
6253 Arztes die der Geliebten angegeben.
6254

§ 1029

b) In einer Sommerfrische hat der Schullehrer, ein ganz
6255 armer, aber stattlicher junger Mann, der Tochter eines Villen-
6256besitzers aus der Großstadt so lange den Hof gemacht, bis das
6257 Mädchen sich leidenschaftlich in ihn verliebt und auch ihre
6258 Familie bewogen hat, die Heirat trotz der bestehenden Standes-
6259und Rassenunterschiede gutzuheißen. Da schreibt der Lehrer
6260 eines Tages seinem Bruder einen Brief, in dem es heißt: Schön
6261 ist das Dirndl ja gar nicht, aber recht lieb und soweit wär’s gut.
6262 Ob ich mich aber werd’ entschließen können, eine Jüdin zu
6263 heiraten, das kann ich dir noch nicht sagen. Dieser Brief gerät
6264 in die Hände der Braut und macht dem Verlöbnis ein Ende,
6265 während der Bruder sich gleichzeitig über die an ihn gerichteten
6266 Liebesbeteuerungen zu verwundern hat. Mein Gewährsmann ver-
6267sicherte mir, daß hier Irrtum und nicht eine sehlaue Veranstaltung
6268 verlag. Mir ist auch ein anderer Fall bekannt geworden, in dem
6269 eine Dame, die mit ihrem alten Arzt unzufrieden, ihm doch nicht
6270 offen absagen wollte, diesen Zweck mittels einer Briefverwechslung
6271 erreichte, und wenigstens hier kann ich dafür einstehen, daß der
6272 Irrtum und nicht die bewußte List sich des bekannten Lustspiel-
6273motivs bedient hat.
6274

§ 1030

c) Brill erzählt von einer Dame, die sich bei ihm nach dem
6275 Befinden einer gemeinsamen Bekannten erkundigte, wobei sie
6276 dieselbe irrtümlich bei ihrem Mädchennamen nannte. Aufmerksam
6277 gemacht, mußte sie zugestehen, daß sie den Mann dieser Dame
6278 nicht möge und mit der Heirat derselben sehr unzufrieden ge-
6279wesen sei. ' _
6280

§ 1031

d) Wie man einen ungern unterdrückten Wunsch vermittels eines
6281 „Irrtums“ befriedigen kann, davon erzählt Maeder (Novelles
6282 contributions etc., Arch. de Psych. VI, 1908) ein hübsches Beispiel.
6283 Ein Kollege möchte einen dienstfreien Tag so recht ungestört ge-
6284nießen; er soll aber einen Besuch in Luzern machen, auf den er
6285 sich nicht freuen kann, und beschließt nach längerer Überlegung
6286 doch hinzufahren. Um sich zu zerstreuen, liest er auf der Fahrt
6287 Zürich—Arth-Goldau die Tageszeitungen, wechselt in letzterer
6288 ' Station den Zug und setzt seine Lektüre fort. In der Fortsetzung
6289 der Fahrt entdeckt ihm dann der kontrollierende Schaffner, daß
6290

§ 1032

6291

§ 1033

——-158——
6292

§ 1034

er in einen falschen Zug eingestiegen ist, nämlich in den, der
6293 von Goldau nach Zürich zurückfährt, während er ein Billet nach
6294 Luzern genommen hatte.
6295

§ 1035

Ein sehr ähnliches Kunststück ist mir selbst erst kürzlich
6296 gelungen. Ich hatte meinem gestrengen ältesten Bruder zugesagt,
6297 ihn in diesem Sommer den längst fälligen Besuch in einem
6298 englischen Seebad abzustatten und dabei die Verpflichtung über—
6299 nommen, da die Zeit drängte, auf dem kürzesten Wege ohne
6300 Aufenthalt zu reisen. Ich bat um einen Tag Aufschub für
6301 Holland, aber er meinte, das könnte ich für die Rückreise auf-
6302sparen. Ich fuhr also von München über Köln nach Rotterdam——
6303 Hoek of Holland, von wo das Schiff um Mitternacht nach Harwich
6304 übersetzt. In Köln hatte ich Wagenwechsel; ich verließ meinen
6305 Zug, um in den Eilzug nach Rotterdam umzusteigen, aber der
6306 war nicht zu entdecken. Ich fragte verschiedene Bahnbedienstete,
6307 wurde von einem Bahnsteig auf den anderen geschickt, geriet in
6308 eine übertriebene Verzweiflung und konnte mir bald berechnen,
6309 daß ich während dieses erfolglosen Suchens den Anschluß ver—
6310 säumt haben dürfte. Nachdem mir dieses bestätigt worden war,
6311 überlegte ich, ob ich in Köln übernachten sollte, wofür unter
6312 anderem auch die Pietät sprach, da nach einer alten Familien-
6313tradition meine Ahnen einst bei einer Judenverfoigung aus dieser
6314 Stadt geflüchtet waren. Ich entschloß mich aber anders, fuhr
6315 mit einem späteren Zug nach Rotterdam, wo ich in tiefer Nacht-
6316zeit ankam, und war nun genötigt, einen Tag in Holland zuzu-
6317bringen. Dieser Tag brachte mir die Erfüllung eines längst ge-
6318hegten Wunsches; ich konnte die herrlichen Rembrandtbilder im
6319 Haag und im Reichsmuseum zu Amsterdam sehen. Erst am
6320 nächsten Vormittage, als ich während der Eisenbahnfahrt in
6321 England meine Eindrücke sammeln konnte, tauchte mir die un-
6322zweifelhafte Erinnerung auf, daß ich auf dem Bahnhofe in Köln
6323 wenige Schritte von der Stelle, wo ich ausgestiegen war, auf dem
6324 nämlichen Bahnsteig eine große Tafel Rotterdam—Bock of Holland
6325 gesehen hatte. Dort wartete der Zug, in dem ich die Reise hätte
6326 fortsetzen sollen. Man müßte es als unbegreifliche „Verblendung“
6327 bezeichnen, daß ich trotz dieser guten Anleitung weggeeilt und
6328 den Zug anderswo gesucht habe, wenn man nicht annehmen '
6329 wollte, daß es eben mein Vorsatz war, gegen die Vorschrift
6330

§ 1036

[/]
6331

159meines Bruders die Rembrandtbilder schon auf der Hinreise zu
6332 bewundern. Alles übrige, meine gut gespielte Ratlosigkeit, das
6333 Auftauchen der pietätvollen Absicht in Köln zu übernachten,
6334 war nur Veranstaltung, um mir meinen Vorsatz zu verbergen, bis
6335 er sich vollkommen durchgesetzt hatte.
6336

§ 1037

Man wird vielleicht nicht geneigt sein, die Klasse von Irr-
6337tümern, für die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich
6338 oder besonders bedeutungsvoll zu halten. Ich gebe aber zu be-
6339denken, ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch
6340 auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren Urteilsirrtümer der
6341 Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen. Nur
6342 den auserlesensten und ausgeglichensten Geistern scheint es möglich
6343 zu sein, das Bild der wahrgenommenen äußeren Realität vor der
6344 Verzerrung zu bewahren, die es sonst beim Durchgang durch die
6345 psychische Individualität des Wahrnehmenden erfährt.
6346

§ 1038

XI.
6347

§ 1039

Kombinierte Fehlleistungen.
6348

§ 1040

Zwei der letzterwähnten Beispiele, mein Irrtum, der die
6349 Mediceer nach Venedig bringt, und der des jungen Mannes, der
6350 ein telephonisches Gespräch mit seiner Geliebten dem Verbote ab-
6351zutrotzen weiß, haben eigentlich eine ungenaue Beschreibung ge-
6352funden und stellen sich bei sorgfältigerer Betrachtung als Ver-
6353einigung eines Vergessens mit einem Irrtum dar. Dieselbe Ver-
6354einigung kann ich noch deutlicher an einigen anderen Beispielen
6355 aufzeigen.
6356

§ 1041

a) Ein Freund teilt mir folgendes Erlebnis mit: „Ich habe vor
6357 einigen Jahren die Wahl in den Ausschuß einer bestimmten
6358 literarischen Vereinigung angenommen, weil ich vermutete, die
6359 Gesellschaft könnte mir einmal behilflich sein, eine Aufführung
6360 meines Dramas durchzusetzen, und nahm regelmäßig, wenn auch
6361 ohne viel Interesse, an den jeden Freitag stattfindenden Sitzungen
6362 teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die Zusicherung einer
6363 Aufführung am Theater in F., und seither passierte es mir regel-
6364mäßig, daß ich an die Sitzungen jenes Vereins vergaß. Als ich[/]
6365

159meines Bruders die Rembrandtbilder schon auf der Hinreise zu
6366 bewundern. Alles übrige, meine gut gespielte Ratlosigkeit, das
6367 Auftauchen der pietätvollen Absicht in Köln zu übernachten,
6368 war nur Veranstaltung, um mir meinen Vorsatz zu verbergen, bis
6369 er sich vollkommen durchgesetzt hatte.
6370

§ 1042

Man wird vielleicht nicht geneigt sein, die Klasse von Irr-
6371tümern, für die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich
6372 oder besonders bedeutungsvoll zu halten. Ich gebe aber zu be-
6373denken, ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch
6374 auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren Urteilsirrtümer der
6375 Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen. Nur
6376 den auserlesensten und ausgeglichensten Geistern scheint es möglich
6377 zu sein, das Bild der wahrgenommenen äußeren Realität vor der
6378 Verzerrung zu bewahren, die es sonst beim Durchgang durch die
6379 psychische Individualität des Wahrnehmenden erfährt.
6380

§ 1043

XI.
6381

§ 1044

Kombinierte Fehlleistungen.
6382

§ 1045

Zwei der letzterwähnten Beispiele, mein Irrtum, der die
6383 Mediceer nach Venedig bringt, und der des jungen Mannes, der
6384 ein telephonisches Gespräch mit seiner Geliebten dem Verbote ab-
6385zutrotzen weiß, haben eigentlich eine ungenaue Beschreibung ge-
6386funden und stellen sich bei sorgfältigerer Betrachtung als Ver-
6387einigung eines Vergessens mit einem Irrtum dar. Dieselbe Ver-
6388einigung kann ich noch deutlicher an einigen anderen Beispielen
6389 aufzeigen.
6390

§ 1046

a) Ein Freund teilt mir folgendes Erlebnis mit: „Ich habe vor
6391 einigen Jahren die Wahl in den Ausschuß einer bestimmten
6392 literarischen Vereinigung angenommen, weil ich vermutete, die
6393 Gesellschaft könnte mir einmal behilflich sein, eine Aufführung
6394 meines Dramas durchzusetzen, und nahm regelmäßig, wenn auch
6395 ohne viel Interesse, an den jeden Freitag stattfindenden Sitzungen
6396 teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die Zusicherung einer
6397 Aufführung am Theater in F., und seither passierte es mir regel-
6398mäßig, daß ich an die Sitzungen jenes Vereins vergaß. Als ich
6399

§ 1047

—’lßO —
6400

§ 1048

Ihre Schrift über diese Dinge las, schämte ich mich meines Ver-
6401gessens, machte mir Vorwürfe, es sei doch eine Gemeinheit, daß
6402 ich jetzt ausbleibe, nachdem ich die Leute nicht mehr brauche,
6403 und beschloß, nächsten Freitag gewiß nicht zu vergessen. Ich
6404 erinnerte mich an diesen Vorsatz immer wieder, bis ich ihn aus—
6405 führte und vor der Tür des Sitzungssaales stand. Zu meinem
6406 Erstaunen war sie geschlossen, die Sitzung war schon vorüber;
6407 ich hatte mich nämlich im Tage geirrt; es war schon Samstag!“
6408

§ 1049

b) Das nächste Beispiel ist eine Kombination einer Symptom—
6409 handlung mit einem Verlegen; es ist auf entfernteren Umwegen,
6410 aber aus guter Quelle zu mir gelangt.
6411

§ 1050

Eine Dame reist mit ihrem Schwager, einem berühmten
6412 Künstler, nach Rom. Der Besucher wird von den in Rom lebenden
6413 Deutschen sehr gefeiert und erhält unter anderem eine goldene
6414 Medaille antiker Herkunft zum Geschenk. Die Dame kränkt sich
6415 darüber, daß ihr Schwager das schöne Stück nicht genug zu
6416 schätzen weiß. Nachdem sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder
6417 zu Hause angelangt ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die
6418 Medaille — sie weiß nicht wie —— mitgenommen hat. Sie teilt
6419 es sofort dem Schwager brieflich mit und kündigt ihm an, daß
6420 sie das Entführte am nächsten Tage nach Rom zurückschicken
6421 wird. Am nächsten Tage aber ist die Medaille so geschickt ver-
6422legt, daß sie unauffindbar und unabsendbar ist, und dann dämmert
6423 der Dame, was ihre „Zerstreutheit“ bedeute, nämlich, daß sie das
6424 Stück für sich selbst behalten wolle.
6425

§ 1051

0) Einige Fälle, in denen sich die Fehlhandlung hartnäckig
6426 wiederholt und dabei auch ihre Mittel wechselt: _
6427

§ 1052

Jones (1. c. S. 483): Aus ihm unbekannten Motiven hatte er
6428 einst einen Brief mehrere Tage auf seinem Schreibtisch liegen lassen,
6429 ohne ihn aufzugeben. Endlich entschloß er sich dazu, aber er erhielt
6430 ihn vom „Dead letter office“ zurück, denn er hatte vergessen, die
6431 Adresse zu schreiben. Nachdem er ihn adressiert hatte, brachte
6432 er ihn wieder zur Post, aber diesmal ohne Briefmarke. Die Ab-
6433neigung dagegen, den Brief überhaupt abzusenden, konnnte er
6434 dann nicht mehr übersehen.
6435

§ 1053

Sehr eindrucksvoll schildert die vergeblichen Bemühungen,
6436 eine Handlung gegen einen inneren Widerstand durchzusetzen,
6437 eine kleine Mitteilung von Dr. Karl Weiß (Wien) über einen
6438

§ 1054

6439

§ 1055

——161——
6440

§ 1056

Fall von Vergessen. (Zentralbl. f. Psychoanalyse 11. 9.) „Wie
6441 konsequent sich das Unbewußte durchzusetzen weiß, wenn es ein
6442 Motiv hat, einen Vorsatz nicht zur Ausführung gelangen zu lassen,
6443 und wie schwer es ist, sich gegen diese Tendenz zu sichern,
6444 dafür bietet der folgende Vorfall einen Beleg. Ein Bekannter
6445 ersucht mich, ihm ein Buch zu leihen und es ihm am nächsten
6446 Tage mitzubringen. Ich sage sogleich zu, empfinde aber ein leb-
6447haftes Unlustgefühl, das ich mir zunächst nicht erklären kann.
6448 Später wird es mir klar: der Betreffende schuldet mir seit Jahren
6449 eine Summe Geldes, an deren Bezahlung er anscheinend nicht
6450 denkt. Ich denke nicht weiter an die Sache, erinnere mich ihrer
6451 aber am nächsten Voi*mittage mit dem gleichen Unlustgefühl und
6452 sage mir sofort: „Dein Unbewußtes wird darauf hinarbeiten, daß
6453 du das Buch vergißt. Du willst aber nicht ungefällig sein und
6454 wirst deshalb alles tun, um nicht zu vergessen.“ Ich komme nach
6455 Hause, packe das Buch in Papier und lege es neben mich auf
6456 den Schreibtisch, an dem ich Briefe schreibe.
6457

§ 1057

Nach einiger Zeit gehe ich fort; nach wenigen Schritten er-
6458innere ich mich, daß ich die Briefe, die ich zur Post mitnehmen
6459 wollte, auf dem Schreibtisch liegen gelassen habe. (Beiläufig be-
6460merkt war einer darunter, in dem ich einer Person, die mich in
6461 einer bestimmten Angelegenheit fördern sollte, etwas Unangenehmes
6462 schreiben mußte.) Ich kehre um, hole die Briefe und gehe wieder
6463 weg. In der Elektrischen fällt mir ein, daß ich meiner Frau ver-
6464sprochen habe, ihr einen Einkauf zu besorgen, und ich bin recht
6465 befriedigt bei dem Gedanken, daß es nur ein kleines Päckchen
6466 sein wird. Hier stellt sich plötzlich die Assoziation Päckchen—
6467 Buch her und jetzt erst merke ich, daß ich das Buch nicht bei
6468 mir habe. Ich hatte es also nicht nur das erstemal, als ich fort-
6469ging, vergessen, sondern auch konsequent übersehen, als ich die
6470 Briefe holte, neben denen es lag.“
6471

§ 1058

Das Nämliche in einer eingehend analysierten Beobachtung
6472 von Otto Bank (Zentralbl. f. Psychoanalyse II. 5):
6473

§ 1059

„Ein peinlich ordentlicher und pedantisch genauer Mann be-
6474richtet das folgende für ihn ganz außergewöhnliche Erlebnis.
6475 Eines Nachmittags, als er auf der Straße nach der Zeit sehen will,
6476 bemerkt er, daß er seine Uhr zu Hause vergessen hat, was seiner
6477

§ 1060

Erinnerung nach noch nie vorgekommen war. Da er für den
6478 F r e u d, Psychopathologie des Alltagslebens. 1 1
6479

§ 1061

6480

§ 1062

——162—
6481

§ 1063

Abend eine pünktliche Verabredung hat und nicht mehr die Zeit
6482 findet, vorher seine Uhr zu holen, benützt er den Besuch bei
6483 einer befreundeten Dame, um sich ihre Uhr für den Abend aus-
6484zuleihen; dies war um so eher angängig, als er die Dame infolge
6485 einer früheren Verabredung am nächsten Vormittag zu besuchen
6486 hatte und bei dieser Gelegenheit die Uhr zurückzustellen versprach.
6487 Zu seinem Erstaunen merkt er aber, als er tags darauf der Be-
6488sitzerin die entlehnte Uhr überreichen will, daß er nun diese zu
6489 Hause vergaß; seine eigene Uhr hatte er diesmal zu sich gesteckt.
6490 Er nahm sich nun fest vor, die Damenuhr noch am Nachmittag
6491 zurückzustellen und führte den Vorsatz auch aus. Als er aber _
6492 beim Weggehen nach der Zeit sehen will, hat er zu seinem maß-
6493losen Ärger und Erstaunen wieder die eigene Uhr vergessen.
6494 Diese Wiederholung der Fehlleistung kam dem sonst so ordnungs-
6495liebenden Manne derart pathologisch vor, daß er gerne ihre psycho-
6496logische Motivierung gekannt hätte, die sich auch prompt auf die
6497 psychoanalytische Fragestellung ergab, ob er an dem kritischen
6498 Tage des ersten Vergessens irgendetwas Unangenehmes erlebt
6499 habe, und in welchem Zusammenhang dies geschehen sei. Er-
6500“erzählt darauf sogleich, daß er nach dem Mittagessen, kurz bevor
6501 er wegging und die Uhr vergaß, ein Gespräch mit seiner Mutter
6502 gehabt hatte, die ihm erzählte, ein leichtsinniger Verwandter, der
6503 ihm schon viel Kummer und Geldopfer verursacht hatte, hätte
6504 seine Uhr versetzt; da sie aber zu Hause gebraucht werde, ließe
6505 er ihn bitten, ihm das Geld zur Auslösung zu geben. Diese fast
6506 erzwungene Art des Geldleihens hatte unseren Mann sehr peinlich
6507 berührt und ihm all die Unannehmlichkeiten wieder in Erinnerung
6508 gebracht, die ihm dieser Verwandte seit vielen Jahren bereitet
6509 hatte. Seine Symptomhandlung erweist sich demnach als mehr-
6510fach determiniert: erstens gibt sie einem Gedankengange Ausdruck,
6511 der etwa besagt, ich lasse mir das Geld nicht auf diese Weise
6512 abpressen, und wenn eine Uhr gebraucht wird, so lasse ich eben
6513 meine eigene zu Hause; da er sie jedoch abends zur Einhaltung
6514 seines Rendezvous braucht, kann sich diese Absicht nur auf un-
6515bewußtem Wege, in Form einer Symptomhandlung, durchsetzen;
6516 zweitens besagt das Vergessen soviel als: die ewigen Geldopfer
6517 für diesen Taugenichts werden mich noch gänzlich zugrunde
6518 richten, so daß ich alles werde hergeben müssen. Obwohl nun
6519

§ 1064

6520

§ 1065

—163——
6521

§ 1066

der Ärger über diese Mitteilung nach Angabe des Mannes nur
6522 ein momentaner gewesen war, zeigt doch die Wiederholung der
6523 gleichen Symptomhandlung, daß er im Unbewußten intensiv weiter-
6524wirkt, etwa wie das Bewußtsein sagen würde: Diese Geschichte
6525 geht mir nicht aus dem Kopi1). Daß dann das gleiche Schicksal
6526 einmal auch die entlehnte Damenuhr betrifft, wird uns nach dieser
6527 Einstellung des Unbewußten nicht wundernehmen. Doch be—
6528 günstigen vielleicht noch spezielle Motive diese Übertragung auf
6529 die „unschuldige“ Damenuhr. Das nächstliegende Motiv ist wohl,
6530 daß er sie vermutlich gerne als Ersatz seiner eigenen, aufgeopierten
6531 Uhr behalten hätte und sie darum am nächsten Tage zurück-
6532zugeben vergißt; auch hätte er die Uhr vielleicht gerne als An-
6533denken an die Dame besessen. Ferner bietet ihm das Vergessen
6534 der Damenuhr Gelegenheit, die verehrte Dame ein zweites Mal
6535 zu besuchen; er hatte sie ja des Morgens einer anderen Sache
6536 wegen aufsuchen müssen und scheint mit dem Vergessen der Uhr
6537 gleichsam anzudeuten, daß ihm dieser schon längere Zeit vorher
6538 bestimmte Besuch zu schade sei, um ihn noch nebenbei zur Rück-
6539gabe der Uhr zu benützen. Auch spricht das zweimalige Ver-
6540gessen der eigenen und die dadurch ermöglichte Rückstellung der
6541 fremden Uhr dafür, daß unser Mann es unbewußterweise zu ver-
6542meiden sucht, beide Uhren gleichzeitig zu tragen. Er trachtet
6543 offenbar, diesen Anschein des Überflusses zu vermeiden, der in zu
6544 auff.‘alligem Gegensatz zu dem Mangel des Ve1wandten stünde;
6545 anderseits aber weiß er damit seiner anscheinlichen Heirats-
6546absicht der Dame gegenüber mit der Selbstmahnung zu begegnen,
6547 daß er seiner Familie (Mutter) gegenüber unlösbare Verpflichtungen
6548 habe. Ein weiterer Grund für das Vergessen einer Damenuhr
6549 mag endlich darin zu suchen sein, daß er sich am Abend zuvor
6550 als Junggeselle vor seinen Bekannten geniert hatte, auf die Damen—
6551 uhr zu sehen, was er nur verstohlen tat, und daß er, um die Wieder-
6552holung dieser peinlichen Situation zu vermeiden, die Uhr nicht
6553 mehr zu sich stecken mochte. Da er sie aber anderseits zurück-
6554zustellen hatte, so resultiert auch hier die unbewußt vollzogene
6555 Symptomhandlung, die sich als Kompromißbildung zwischen wider-
6556

§ 1067

1) Dieses Weiterwirkcnvim Unbewußten äußert sich einmal in Form
6557 eines Traumes, welcher der Fehlhandlung folgt, ein andermal in der Wieder-
6558holung derselben oder in der Unterlassung einer Korrektur.
6559

§ 1068

11*
6560

§ 1069

6561

§ 1070

-—164—
6562

§ 1071

streitenden Gefühlsregungen und als teuer erkaufter Sieg der un-
6563bewußten Instanz erweist.“ ,
6564

§ 1072

Bank hat auch den sehr interessanten Beziehungen von
6565 „Fehlleistung und Traum“ (Zentralbl. f. Psychoanalyse ebda.) Auf-
6566merksamkeit geschenkt, denen man aber nicht ohne eingehende
6567 Analyse des Traumes folgen kann, welcher sich an die Fehl-
6568handlung anschließt. Ich träumte einmal in einem längeren Zu-
6569sammenhange, daß ich mein Portemonnaie verloren. Am Morgen
6570 vermißte ich es wirklich beim Ankleiden; ich hatte vergessen, es
6571 beim Auskleiden vor der Traumnacht aus der Hosentasche zu
6572 nehmen und an seinen gewohnten Platz zu legen. Dieses Ver-
6573gessen war mir also nicht unbekannt, es sollte wahrscheinlich
6574 einem unbewußten Gedanken Ausdruck geben, der für das Auf-
6575treten im Trauminhalt vorbereitet war.
6576

§ 1073

Ich will nicht behaupten, daß solche Fälle von kombinierten
6577 Fehlleistungen etwas neues lehren können, was nicht schon aus
6578 den Einzelfällen zu ersehen wäre, aber dieser Formenwechsel der
6579 Fehlleistung bei Erhaltung desselben Erfolgs gibt doch den plastischen
6580 Eindruck eines Willens, der nach einem bestimmten Ziele strebt,
6581 und widerspricht in ungleich energischerer Weise der Auffassung, daß
6582 die Fehlleistung etwas zufälliges und der Deutung nicht bedürftiges sei.
6583 Es darf uns auch auffallen, daß es in diesen Beispielen einem bewußten
6584 Vorsatz so gründlich mißlingt, den Erfolg der Fehlleistung hintanzu-
6585halten. Mein Freund setzt es doch nicht durch, die Vereinssitzung
6586 zu besuchen, und die Dame findet sich außerstande, sich von der
6587 Medaille zu trennen. Jenes Unbekannte, das sich gegen diese
6588 Vorsätze sträub't, findet einen anderen Ausweg, nachdem ihm der
6589 erste Weg versperrt wird. Zur Überwindung des unbekannten
6590 Motivs ist nämlich noch etwas anderes als der b.ewußte Gegen-
6591vorsatz erforderlich; es brauchte eine psychische Arbeit, welche
6592 das Unbekannte dem Bewußtsein bekannt macht.
6593

§ 1074

6594

§ 1075

XII.
6595 Determinismus. — Zufalls- und Aherglauben. ——
6596 Gesichtspunkte.
6597

§ 1076

Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörte-
6598rungen kann man folgende Einsicht hinstellen: Gewisse Un-
6599zulänglichkeiten unserer psychischen Leistungen
6600 —— deren gemeinsamer Charakter sogleich näher bestimmt werden
6601 soll — und gewisse absichtslos erscheinende Ver-
6602richtungen erweisen sich, wenn man das Ver—
6603 fahren der psychoanalytischen Untersuchung auf:
6604 sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem
6605 Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.
6606

§ 1077

Um in die Klasse der so zu erklärenden Phänomene ein—
6607 gereiht zu werden, muß eine psychische Fehlleistung folgenden
6608 Bedingungen genügen:
6609

§ 1078

a) Sie darf nicht über ein gewisses Maß hinausgehen, welches
6610 von unserer Schätzung festgesetzt ist und durch den Ausdruck
6611 „innerhalb der Breite des Normalen“ bezeichnet wird.
6612

§ 1079

b) Sie muß den Charakter der momentanen und zeitweiligen
6613 Störung an sich tragen. Wir müssen die nämliche Leistung vor-
6614her korrekter ausgeführt haben oder uns jederzeit zutrauen, sie
6615 korrekter auszuführen. Wenn wir von anderer Seite korrigiert
6616 werden, müssen wir die Richtigkeit der Korrektur und die Un-
6617richtigkeit unseres eigenen psychischen Vorganges sofort erkennen.
6618

§ 1080

c) Wenn wir die Fehlleistung überhaupt wahrnehmen, dürfen
6619 wir von einer Motivierung derselben nichts in uns verspüren, sondern
6620 müssen versucht sein, sie durch „Unaufmerksamkeit“ zu erklären
6621 oder als „Zufälligkeit“ hinzustellen.
6622

§ 1081

Es verbleiben somit in dieser Gruppe die Fälle von Vergessen
6623 und die Irrtümer bei besserem Wissen, das Versprechen, Verlesen,
6624 Verschreiben, Vergreifen und die sog. Zufallshandlungen. Die
6625 gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe ver deutet für die—
6626 meisten dieser Phänomene die innere Gleichartigkeit sprachlich
6627 an. An die Aufklärung dieser so bestimmten psychischen Vorgänge
6628 knüpft aber eine Reihe von Bemerkungen an, die zum Teil ein
6629 weitergehendes Interesse erwecken dürfen.
6630

§ 1082

6631

§ 1083

——166—
6632

§ 1084

I. Indem wir einen Teil unserer psychischen Leistungen als
6633 unaufklärbar durch Zielvorstellungen preisgeben, verkennen wir
6634 den Umfang der Determinierung im Seelenleben. Dieselbe reicht
6635 hier und noch auf anderen Gebieten weiter, als wir es vermuten.
6636 Ich habe im Jahre 1900 in einem Aufsatz des Literarhistorikers
6637 R. M. Meyer in der „Zeit“ ausgeführt und an Beispielen er-
6638läutert gefunden, daß es unmöglich ist, absichtlich und willkür-
6639lich einen Unsinn zu komponieren. Seit längerer Zeit weiß ich,
6640 daß man es nicht zustande bringt, sich eine Zahl nach freiem
6641 Belieben einfallen zu lassen, ebensowenig wie etwa einen Namen.
6642 Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehr-
6643stellige, wie im Scherz oder Übermut ausgesprochene Zahl, so er-
6644weist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich nicht
6645 für möglich gehalten hätte. Ich will nun zunächst ein Beispiel
6646 eines willkürlich gewählten Vornamens kurz erörtern und dann
6647 ein analoges Beispiel einer „gedankenlos hingeworfenen“ Zahl
6648 ausführlicher analysieren.
6649

§ 1085

a) Im Begriffe, die Krankengeschichte einer meiner Patien-
6650tinnen für die Publikation herzurichten, erwäge ich, welchen Vor-
6651namen ich ihr in der Arbeit geben soll. Die Auswahl scheint
6652 sehr groß; gewiß schließen sich einige Namen von vorne herein
6653 aus, in erster Linie der echte Name, sodann die Namen meiner
6654 eigenen Familienangehörigen, an denen ich Anstoß nehmen würde,
6655 etwa noch andere Frauennamen von besonders seltsamen Klang;
6656 im übrigen aber brauchte ich um einen solchen Namen nicht verlegen
6657 zu sein. Man sollte erwarten und ich erwarte selbst, daß sich
6658 mir eine ganze Schar weiblicher Namen zur Verfügung stellen
6659 wird. Anstatt dessen taucht ein einzelner auf, kein zweiter neben
6660 ihm, der Name Dora. Ich frage nach seiner Determinierung.
6661 Wer heißt denn nur sonst Dora? Ungläubig möchte ich den
6662 nächsten Einfall zurückweisen, der lautet, daß das Kindermädchen
6663 meiner Schwester so heißt. Aber ich besitze soviel Selbstzucht
6664 oder Übung im Analysieren, daß ich den Einfall festhalte und
6665 weiterspinne. Da fällt mir auch sofort eine kleine Begebenheit
6666 des vorigen Abends ein, welche die gesuchte Determinierung bringt.
6667 Ich sah auf dem Tisch im Speisezimmer meiner Schwester einen
6668 Brief liegen mit der Aufschrift: „An Fräulein Rosa W.“ Erstaunt
6669 fragte ich, wer so heißt, ,und wurde belehrt, daß die vermeintliche
6670

§ 1086

6671

§ 1087

—167—
6672

§ 1088

Dora eigentlich Rosa heißt, und diesen ihren Namen beim Eintritt
6673 ins Haus ablegen mußte, weil meine Schwester den Ruf „Rosa“
6674 auch auf ihre eigene Person beziehen kann. Ich sagte bedauernd:
6675 Die armen Leute, nicht einmal ihren Namen können sie beibe—
6676 halten! Wie ich mich jetzt besinne, wurde ich dann für einen
6677 Moment still und begann an allerlei ernsthafte Dinge zu denken,
6678 die ins Unklare verliefen, die ich mir jetzt aber leicht bewußt
6679 machen könnte. Als ich dann am nächsten Tag nach einem
6680 Namen für eine Person suchte, die ihren eigenen nicht bei-
6681behalten durfte, fiel mir kein anderer als „Dora“ ein. Die
6682 Ausschließlichkeit beruht hier auf fester inhaltlicher Verknüpfung,
6683 denn in der Geschichte meiner Patientin rührte ein auch für den
6684 ' Verlauf der Kur entscheidender Einfluß von der im fremden Haus
6685 dienenden Person, von einer Gouvernante, her.
6686

§ 1089

Diese kleine Begebenheit fand Jahre später eine unerwartete
6687 Fortsetzung. Als_ ich einmal die längst veröffentlichte Kranken-
6688geschichte des nun Dora genannten Mädchens in meiner Vorlesung
6689 besprach, fiel mir ein, daß ja eine meiner beiden Hörerinnen
6690 den gleichen Namen Dora, den ich in den verschiedenen Ver-
6691knüpfungen so oft auszusprechen hatte, trage, und ich wandte mich
6692 an die junge Kollegin, die mir auch persönlich bekannt war, mit
6693 der Entschuldigung, ich hätte wirklich nicht daran gedacht, daß
6694 sie auch so heiße, sei aber gern bereit, den Namen in der Vor-
6695lesung durch einen anderen zu ersetzen. Ich hatte nun die Auf-
6696gabe, rasch einen anderen zu wählen, und überlegte dabei, jetzt
6697 dürfe ich nur nicht auf den Vornamen der anderen Hörerin kommen
6698 und so den psychoanalytisch bereits geschulten Kollegen ein
6699 schlechtes Beispiel geben- Ich war also sehr zufrieden, als mir
6700 zum Ersatz für Dora der Name Erna einfiel, dessen ich mich
6701 nun im Vortrage bediente. Nach der Vorlesung fragte ich mich,
6702 woher wohl der Name Erna stammen möge, und mußte lachen,
6703 als ich merkte, daß die gefürchtete Möglichkeit sich beider Wahl
6704 des Ersatznamens dennoch, wenigstens teilweise, durchgesetzt hatte.
6705 Die andere Dame hieß mit ihrem Familiennamen Lucern a , wovon
6706 Erna ein Stück ist.
6707

§ 1090

,B) In einem Briefe “an einen Freund kündige ich ihm an, daß
6708 ich jetzt die Korrekturen der Traumdeutung abgeschlossen habe
6709 und nichts mehr an dem Werk ändern will, „möge es auch 2467
6710

§ 1091

6711

§ 1092

——168——
6712

§ 1093

Fehler enthalten“. Ich versuche sofort, mir diese Zahl aufzu-
6713klaren und füge die kleine Analyse noch als Nachschrift dem
6714 Briefe an. Am besten zitiere ich jetzt, wie ich damals geschrieben,
6715 als ich mich auf frischer Tat ertappte:
6716

§ 1094

„Noch rasch einen Beitrag zur Psych0path010gie des Alltags-
6717lebens. Du findest im Brief die Zahl 2467 als übermütige Will-
6718kürschätzung der Fehler, die sich im Traumbuch finden werden.
6719 Es soll heißen: irgendeine große Zahl, und da stellt sich diese
6720 ein. Nun gibt es aber nichts Willkürliches, Undeterminiertes im
6721 Psychischen. Du wirst also auch mit Recht erwarten, daß das
6722 Unbewußte sich beeilt hat, die Zahl zu determinieren, die von
6723 dem Bewußten freigelassen wurde. Nun hatte ich gerade vorher
6724 in der Zeitung gelesen, daß ein General E. M. als Feldzeugmeister
6725 in den Ruhestand getreten ist. Du mußt wissen, der Mann
6726 interessiert mich. Während ich als militärärztlicher Eleve diente,
6727 kam er einmal, damals Oberst, in den Krankenstand und sagte
6728 zum Arzt: „Sie müssen mich aber in acht Tagen gesund machen,
6729 denn ich habe etwas zu arbeiten, worauf der Kaiser wartet.“
6730 Damals nahm ich mir vor, die Laufbahn des Mannes zu verfolgen,
6731 und siehe da, heute (1899) ist er am Ende derselben, Feldzeug-
6732meister und schon im Ruhestande. Ich wollte ausrechnen, in
6733 welcher Zeit er diesen Weg zurückgelegt, und nahm an, daß ich
6734 ihn 1882 im Spital gesehen. Das wären also 17 Jahre. Ich er-
6735zähle meiner Frau davon und sie bemerkt: „Da müßtest du also
6736 auch schon im Ruhestand sein?“ Und ich protestiere: Davor be-
6737wahre mich Gott. Nach diesem Gespräch setze ich mich an den
6738 Tisch, um dir zu schreiben. Der frühere Gedankengang setzt
6739 sich aber fort und mit gutem Recht. Es war falsch gerechnet;
6740 ich habe einen festen Punkt dafür in meiner Erinnerung. Meine
6741 Großjährigkeit, meinen 24. Geburtstag also, habe ich im Militär-
6742arrest gefeiert (weil ich mich eigenmächtig absentiert hatte). Das
6743 war also 1880: es sind 19 Jahre her. Da hast du nun die Zahl
6744 24 in 2467 ! Nimm nun meine Alterszahl 43, und gib 24 Jahre
6745 hinzu, so bekommst du die 67 ! D. h. auf die Frage, ob ich auch
6746 in den Ruhestand treten will, habe ich mir im Wunsch noch
6747 24 Jahre Arbeit zugelegt. Offenbar bin ich gekränkt darüber,
6748 daß ich es in dem Intervall, durch das ich den Oberst M. verfolgt,
6749 selbst nicht weit gebracht habe, und doch wie in einer Art von
6750

§ 1095

6751

§ 1096

—169———
6752

§ 1097

Triumph darüber, daß er jetzt schon fertig ist, während ich noch
6753 alles vor mir habe. Da darf man mit Recht sagen, daß nicht einmal
6754 die absichtslos hingeworfene Zahl 2467 ihrer Determinierung aus
6755 dem Unbewußtsein entbehrt.“
6756

§ 1098

Seit diesem ersten Beispiel von Aufklärung einer scheinbar
6757 willkürlich gewählten Zahl habe ich den gleichen Versuch vielmals
6758 mit dem nämlichen Erfolg wiederholt; aber die meisten Fälle sind
6759 so sehr intimen Inhalts, daß sie sich der Mitteilung entziehen.
6760

§ 1099

Gerade darum aber will ich es nicht versäumen, eine sehr
6761 interessante Analyse eines „Zahleneinfalls“ hier anzufügen, welche
6762 Dr. Alfred Adler (Wien) von einem ihm bekannten „durchaus
6763 gesunden“ Gewährsmann erhieltl): A. schreibt mir: „Gestern
6764 Abend habe ich mich über die ,Psychopathologie des Alltags‘ her-
6765gemacht, und ich hätte das Buch gleich ausgelesen, wenn mich
6766 nicht ein merkwürdiger Zwischenfall gehindert hätte. Als ich
6767 nämlich las, daß jede Zahl, die wir scheinbar ganz willkürlich
6768 ins Bewußtsein rufen, einen bestimmten Sinn hat, beschloß ich,
6769 einen Versuch zu machen. Es fiel mir die Zahl 1734 ein. Nun
6770 überstürzten sich folgende Einfälle: 1734: 172102;
6771 102:17=6. Dann zerreiße ich die Zahl in 17 und 34. Ich
6772 bin 34 Jahre alt. Ich betrachte, wie ich Ihnen, glaube ich, einmal
6773 gesagt habe, das 34. Jahr als das letzte Jugendjahr, und ich habe
6774 mich darum an meinem letzten Geburtstag sehr miserabel gefühlt.
6775 Am Ende meines 17. Jahres begann für mich eine sehr schöne
6776 und interessante Periode meiner Entwicklung. Ich teile mein
6777 Leben in Abschnitte von 17 Jahren. Was haben nun die Divisionen
6778 zu bedeuten? Es fällt mir zu der Zahl 102 ein, daß die Nummer
6779 102 der Reclamschen Universalbibliothek das Kotzebuesche Stück
6780 ,Menschenhaß und Reue‘ enthält.“
6781

§ 1100

„Mein gegenwärtiger psychischer Zustand ist Menschenhaß
6782 und Reue. Nr. 6 der U.—B. (ich weiß eine ganze Menge Nummern
6783 auswendig) ist Mülln-ers ,Schuld‘. Mich quält in einem fort
6784 der Gedanke, daß ich durch meine Schuld nicht geworden bin,
6785 was ich nach meinen Fähigkeiten hätte werden können. Weiter
6786 fällt mir ein, daß Nr. 34 der U.-B. eine Erzählung desselben
6787

§ 1101

_ 1) Alf. Adler, Drei Psycho-Analysen von Zahleneinfällen und obsedie-
6788renden Zahlen. Psych.-Neur. Wochenschr. Nr. 28, 1905.
6789

§ 1102

6790

§ 1103

——170——
6791

§ 1104

Müllner, betitelt ,Der Kaliber‘, enthält. Ich zerreiße das Wort
6792 in ,Ka-liber‘; weiter fällt mir ein, daß es die Worte ,Ali‘ und
6793 ,Kali‘ enthält. Das erinnert mich daran, daß ich einmal mit
6794 meinem (sechsjährigén) Sohn Ali Reime machte. Ich forderte ihn
6795 auf, einen Reim auf Ali zu suchen. Es fiel ihm keiner ein, und ich
6796 sagte ihm, als er einen von mir wollte: „Ali reinigt den Mund
6797 mit hypermangansaurem Kali“. Wir lachten viel und Ali war
6798 sehr lieb. In den letzten Tagen mußte ich mit Verdruß kon-
6799statiercn, daß er ,ka (kein) lieber Ali sein‘.“
6800

§ 1105

„Ich fragte mich nun: Was ist Nr. 17 der U.-B. ?, konnte es
6801 aber nicht herausbringen. Ich habe es aber früher ganz be-
6802stimmt gewußt, nehme also an, daß ich diese Zahl vergessen
6803 wollte. Alles Nachsinuen blieb umsonst. Ich wollte weiter lesen,
6804 las aber nur mechanisch, ohne ein Wort zu verstehen, da mich
6805 die 17 quälte. Ich löschte das Licht aus und suchte weiter.
6806 Schließlich fiel mir ein, daß Nr. 17 ein Stück von Shakespeare
6807 sein muß. Welches aber? Es fällt mir ein: Hero und Leander.
6808 Offenbar ein blödsinniger Versuch meines Willens, mich ab-
6809zulenken. Ich stehe endlich auf und suche den Katolog der U.-B.
6810 Nr. 17 ist ,Macbeth‘.‘ Zu meiner Verblüffung muß ich kon-
6811statieren, daß ich von dem Stück fast gar nichts weiß, trotzdem
6812 es mich nicht weniger beschäftigt hat als andere Dramen Shake—
6813 speares. Es fällt mir nur ein: Mörder, Lady Macbeth, Hexen,
6814 ,Schön ist häßlich‘, und daß ich seinerzeit Schillers Macbeth-
6815bearbeitung sehr schön gefunden habe. Zweifellos habe ich also
6816 auch das Stück vergess'en wollen. Noch fällt mir ein, daß 17
6817 und 34 durch 17 dividiert 1 und 2 ergibt. Nr. 1 und 2 der U.-B.
6818 ist Goethes ,Faust‘. Ich habe früher sehr viel Faustisches in mir
6819 gefunden.“
6820

§ 1106

Wir müssen bedauern, daß die Diskretion des Arztes uns
6821 keinen Einblick in die Bedeutung dieser Reihe von Einfällen ge-
6822gönnt hat. Adler bemerkt, daß dem Manne die Synthese seiner
6823 Auseinandersetzungen nicht gelungen ist. Dieselben würden uns
6824 auch kaum mitteilenswert erschienen sein, wenn in deren Fort-
6825setzung nicht etwas aufträte, was uns den Schlüssel zum Verständnis
6826 der Zahl 1734 und der ganzen Einfallsreihe in die Hand spielte.
6827

§ 1107

„Heute früh hatte ich freilich ein Erlebnis, das sehr für die
6828 Richtigkeit der Freudschen Auffassung spricht. Meine Frau, die
6829

§ 1108

6830

§ 1109

———171——
6831

§ 1110

ich beim Aufstehen des nachts aufgeweckt hatte, fragte mich,
6832 was ich denn mit dem Katalog der U.-B. gewollt hätte. Ich erzählte
6833 ihr die Geschichte. Sie fand, daß alles Rabulistik sei, nur ——
6834 sehr interessant — den Macbeth, gegen den ich mich so sehr
6835 gewehrt hatte, ließ sie gelten. Sie sagte, ihr falle gar nichts ein,
6836 wenn sie sich eine Zahl denke. Ich antwortete: „Machen wir
6837 eine Probe.“ Sie nannte die Zahl 117. Ich erwiderte darauf
6838 sofort: „17 ist eine Beziehung auf das, was ich dir erzählt habe,
6839 ferner habe ich dir gestern gesagt: wenn eine Frau im 82. Jahre
6840 steht und ein Mann im 35., so ist das ein arges Mißverhältnis.
6841 Ich frozzle seit ein paar Tagen meine Frau mit der Behauptung,
6842 daß sie ein altes Mütterchen von 82 Jahren sei. 82 —|— 35 = 117.“
6843

§ 1111

Der Mann, der seine eigene Zahl nicht zu determinieren
6844 wußte, fand also sofort die Auflösung, als seine Frau ihm eine
6845 angeblich willkürlich gewählte Zahl nannte. In Wirklichkeit
6846 hatte die Frau sehr wohl aufgefaßt, aus welchem Komplex die
6847 Zahl ihres Mannes stammte, und wählte die eigene Zahl aus dem
6848 nämlichen Komplex, der gewiß beiden Personen gemeinsam war,
6849 da es sich in ihm um das Altersverhältnis der beiden handelte.
6850 Wir haben es nun leicht, den Zahleneinfall des Mannes zu über-
6851setzen. Er spricht, wie Dr. Adler andeutet, einen unterdrückten
6852 Wunsch des Mannes aus, der voll entwickelt lauten würde: „Zu
6853 einem Manne von 34 Jahren, wie ich einer bin, paßt nur eine
6854 Frau von 17 Jahren.“
6855

§ 1112

Damit man nicht allzu geringschätzig von solchen „ Spielereien“
6856 denken möge, will ich hinzufügen, was ich kürzlich von
6857 Dr. Adler erfahren habe, daß ein Jahr nach Veröffentlichung
6858 dieser Analyse der Mann von seiner Frau geschieden war1).
6859

§ 1113

Ähnliche Aufklärungen gibt Adler für die Entstehung obse-
6860dierender Zahlen. Auch die Wahl sogenannter „Lieblingszahlen“
6861 ist nicht ohne Beziehung auf das Leben der betreffenden Person
6862 und entbehrt nicht eines gewissen psychologischen Interesses. Ein
6863

§ 1114

1) Zur Aufklärung des „Macbeth“ Nr. 17 der U.-B. teilt mir Adler
6864 mit, daß der betreffende in seinem“ 17. Lebensjahr einer anarchistischen
6865 Gesellschaft beigetreten war, die sich den Königsmord zum Ziel gesetzt hatte.
6866 Darum verfiel wohl der Inhalt des Macbeth dem Vergessen. Zu jener Zeit
6867

§ 1115

erfand die nämliche Person eine Geheimschrift, in der die Buchstaben durch
6868 Zahlen ersetzt waren.
6869

§ 1116

6870

§ 1117

—172-——
6871

§ 1118

Herr, der sich zu einer besonderen Vorliebe für die Zahlen 17
6872 und 19 bekannte, wußte nach kurzem Besinnen anzugeben, daß
6873 er mit 17 Jahren in die langersehnte akademische Freiheit, auf
6874 die Universität gekommen, und daß er mit 19 Jahren seine erste
6875 große Reise und bald darauf seinen ersten wissenschaftlichen
6876 Fund gemacht. Die Fixierung dieser Vorliebe erfolgte aber zwei
6877 Lustren später, als die gleichen Zahlen zur Bedeutung für sein
6878 Liebesleben gelangten. —— Ja selbst Zahlen, die man anscheinend
6879 willkürlich in gewissem Zusammenhange besonders häufig ge-
6880braucht, lassen sich durch die Analyse auf unerwarteten Sinn
6881 zurückführen. So fiel es einem meiner Patienten eines Tages auf,
6882 daß er im Unmut besonders gerne zu sagen pflege: Das habe ich
6883 dir schon 17 bis 36 mal gesagt, und er fragte sich, ob es auch
6884 dafür eine Motivierung gebe. Es fiel ihm alsbald ein, daß er an
6885 einem 27. Monatstag geboren sei, sein jüngerer Bruder aber an
6886 einem 26., und daß er Grund habe, darüber zu klagen, daß das
6887 Schicksal ihm soviel von den Gütern des Lebens geraubt, um sie
6888 diesem jüngeren Bruder zuzuwenden. Diese Parteilichkeit des
6889 Schicksals stellte er also dar, indem er von seinem Geburtsdatum
6890 zehn abzog und diese zum Datum des Bruders hinzufügte. „Ich
6891 bin der Ältere und dennoch so verkürzt worden.“
6892

§ 1119

Ich will bei den Analysen von Zahleneinfällen länger ver—
6893 weilen, denn ich kenne keine anderen Einzelbeobachtungen, die
6894 so schlagend die Existenz von hoch zusammengesetzten Denk——
6895 vorgängen erweisen würden, von denen das Bewußtsein doch
6896 keine Kunde hat, und anderseits kein besseres Beispiel von
6897 Analysen,\ bei denen die häufig angeschuldigte Mitarbeit des
6898 Arztes (die Suggestion) so deutlich außer Betracht kommt. Ich
6899 werde daher die Analyse eines Zahleneinfalles eines meiner
6900 Patienten (mit seiner Zustimmung) hier mitteilen, von dem ich
6901 nur anzugeben brauche, daß er das jüngste Kind einer langen
6902 Kinderreihe ist, und daß er den bewunderten Vater in jungen
6903 Jahren verloren hat. In besonders heiterer Stimmung läßt er sich-
6904die Zahl 426718 einfallen und stellt sich die Frage: „Also was
6905 fällt mir dazu ein? Zunächst ein Witz, den ich gehört habe.
6906 „Wenn man einen Schnupfen ärztlich behandelt, dauert er 42 Tage,
6907

§ 1120

wenn man ihn aber unbehandelt läßt — 6 Wochen.“ Das ent-
6908spricht den ersten Ziffern der Zahl 42=6><7. In der Stockung,
6909

§ 1121

6910

§ 1122

—-—173——
6911

§ 1123

die sich bei ihm nach dieser ersten Lösung einstellt, mache ich
6912 ihn aufmerksam, daß die von ihm gewählte sechsstellige Zahl alle
6913 ersten Ziffern enthalte bis auf 3 und 5. Nun findet er sofort die
6914 Fortsetzung der Deutung. „Wir sind 7 Geschwister, ich der jüngste.
6915 3 entspricht in der Kinderreihe der Schwester A, 5 dem Bruder L,
6916 das waren meine beiden Feinde. Ich pflegte als Kind jeden
6917 Abend zu Gott zu beten, daß er diese meine beiden Quälgeister
6918 aus dem Leben abberufen solle. Es scheint mir nun, daß ich
6919 mir hier diesen Wunsch selbst erfülle; 3 und 5, der böse Bruder
6920 und die gehaßte Schwester sind übergangen.“ — Wenn die Zahl
6921 also Ihre Geschwisterreihe bedeutet, was soll das 18 am Ende?
6922 Sie waren doch nur 7. -——- „Ich habe oft gedacht, wenn der Vater
6923 noch länger gelebt hätte, so wäre ich nicht das jüngste Kind ge-
6924blieben. Wenn noch 1 gekommen wäre, so wären wir 8 gewesen,
6925 und ich hätte ein kleineres Kind hinter mir gehabt, gegen das
6926 ich den Älteren gespielt hätte.“ '
6927

§ 1124

Somit war die Zahl aufgeklärt, aber es lag uns noch ob,
6928 den Zusammenhang zwischen dem ersten Stück der Deutung und
6929 den folgenden herzustellen. Das ergab sich sehr leicht aus der
6930 für die letzten Zahlen benötigten Bedingung: Wenn der Vater
6931 noch länger gelebt hätte. 42: 6><7 bedeutete den Hohn gegen
6932 die Ärzte, die dem Vater nicht hatten helfen können, drückte
6933 also in dieser Form den Wunsch nach dem Fortleben des Vaters
6934 aus. Die ganze Zahl entsprach eigentlich der Erfüllung seiner
6935 beiden infantilen Wünsche in betreff seines Familienkreises, die
6936 beiden bösen Geschwister sollten sterben, und ein kleines Ge-
6937schwisterchen hinter ihm nachkommen, oder auf den kürzesten
6938

§ 1125

Ausdruck gebracht: Wenn doch lieber die Beiden gestorben wären
6939 anstatt des geliebten Vatersll)
6940

§ 1126

Eine andere Zahlenanalyse entnehme ich Jones (1. c. p. 47 8).
6941 Ein Herr seiner Bekanntschaft ließ sich die Zahl 986 einfallen
6942 und forderte ihn dann heraus, sie mit irgend etwas, was er sich
6943 denke, in Zusammenhang zu bringen. „Die nächste Assoziation
6944 der Versuchsperson war die Erinnerung an einen längst ver-
6945gessenen Scherz. Am heißesten Tag des Jahres vor 6 Jahren
6946

§ 1127

1) Zur Vereinfachung habe ich einige nicht minder gut passende
6947 Zwischeminfälle des Patienten weggelassen.
6948

§ 1128

6949

§ 1129

———-174——
6950

§ 1130

hatte eine Zeitung die Notiz gebracht, das Thermometer zeige
6951 9860 Fahr., offenbar eine groteske Ubertreibung von 98,6, dem
6952 wirklichen Thermometerstand! Wir saßen während dieser Unter-
6953haltung vor einem starken Feuer im Kamin, von dem er sich
6954 wegrückte, und er bemerkte wahrscheinlich mit Recht, daß die
6955 große Hitze ihn auf diese Erinnerung gebracht habe. Ich gab
6956 mich aber nicht so leicht zufrieden und verlangte zu wissen,
6957 wieso gerade diese Erinnerung bei ihm so fest gehaftet habe.
6958 Er erzählte, er habe über den Scherz so fürchterlich gelacht und
6959 sich jedesmal von neuem über ihn amüsiert, so oft er ihm wieder
6960 eingefallen sei. Da ich aber den Scherz nicht besonders gut
6961 finden konnte, wurde meine Erwartung eines geheimen Sinnes
6962 dahinter nur noch verstärkt. Sein nächster Gedanke war, daß
6963 die Vorstellung der Wärme ihm immer soviel bedeutet habe.
6964 Wärme sei das Wichtigste in der Welt, die Quelle alles Lebens usw.
6965 Eine solche Schwärmerei eines sonst recht nüchternen jungen
6966 Mannes mußte nachdenklich stimmen; ich hat ihn, mit seinen
6967 Assoziationen fortzufahren. Sein nächster Einfall ging auf den
6968 Rauchfang einer Fabrik, den er von seinem Schlafzimmer aus
6969 sehen konnte. Er pflegte oft des abends auf den Rauch und
6970 das Feuer zu starren, der aus ihm hervorging, und dabei über
6971 die beklagensvverte Vergeudung von Energie nachzudenken.
6972 Wärme, Feuer, die Quelle alles Lebens, die Vergeudung von
6973 Energie aus einer hohen hohlen Röhre —— es war nicht schwer,
6974 aus diesen Assoziationen zu erraten, daß die Vorstellung Wärme
6975 und Feuer bei ihm mit der Vorstellung von Liebe verknüpft
6976 waren, wie es im symbolischen Denken gewöhnlich ist, und daß
6977 ein starker Masturbationskomplex seinen Zahleneinfall motiviert
6978 habe. Es bleibt ihm nichts übrig, als meine Vermutung zu
6979 bestätigen.“ '
6980

§ 1131

Wer sich von der Art, wie das Material der Zahlen im
6981 unbewußten Denken verarbeitet wird, einen guten Eindruck holen
6982 will, den verweise ich auf C. G. J ung’s Aufsatz „Ein Beitrag
6983 zur Kenntnis des Zahlentraumes“ (Zentralbl. f. Psychoanalyse I, 12)
6984 und auf einen anderen von E. Jones „Unconscious manipulations
6985 of numbers“ (ibd. II, 5. 1912).
6986

§ 1132

In eigenen Analysen dieser Art ist mir zweierlei besonders
6987 auffällig: Erstens die geradezu somnambule Sicherheit, mit der ich
6988

§ 1133

6989

§ 1134

—175—
6990

§ 1135

auf das mir unbekannte Ziel losgehe, mich in einen rechnenden
6991 Gedankengang versenke, der dann plötzlich bei der gesuchten
6992 Zahl angelangt ist, und die Raschheit, mit der sich die ganze
6993 Nacharbeit vollzieht; zweitens aber der Umstand, daß die Zahlen
6994 meinem unbewußten Denken so bereitwillig zur Verfügung stehen,
6995 während ich ein schlechter Rechner bin und die größten Schwierig-
6996keiten habe, mir Jahreszahleh, Hausnummern und dergleichen be-
6997wußt zu merken. Ich finde übrigens in diesen unbewußten Ge-
6998dankenoperationen mit Zahlen eine Neigung zum Aberglauben,
6999 deren Herkunft mir lange Zeit fremd geblieben ist.
7000

§ 1136

Es wird uns nicht überraschen zu finden, daß nicht nur Zahlen,
7001 sondern auch Worteinfälle anderer Art sich der analytischen
7002 Untersuchung regelmäßig als gut determiniert erweisen.
7003

§ 1137

Ein hübsches Beispiel von Herleitung eines obsedierenden,
7004 d. h. verfolgenden Wortes findet sich bei J ung (Diagnost.
7005 Assoziationsstudien IV, S. 215). „Eine Dame erzählte mir, daß
7006 ihr seit einigen Tagen beständig das Wort „Taganrog“ im
7007 Munde liege, ohne daß sie eine Idee habe, woher das komme.
7008 Ich fragte die Dame nach den afiektbetonten Ereignissen und ver-
7009drängten Wünschen der Jüngstvergangenheit. Nach einigem
7010 Zögern erzählte sie mir, daß sie sehr gerne einen „M o r g e n r o c k“
7011 hätte, ihr Mann aber nicht das gewünschte Interesse dafür habe.
7012 „Morgen-rock: Tagan-rock“, man sieht die partielle Sinn- und
7013 Klangverwandtschaft. Die Determination der russischen Form
7014 kommt daher, daß ungefähr zu gleicher Zeit die Dame eine Per-
7015sönlichkeit aus Taganrog kennen gelernt hatte.“
7016

§ 1138

Dr. E. Hits chmann verdanke ich die Auflösung eines
7017 anderen Falles, in dem sich ein Vers wiederholt in einer be-
7018stimmten Örtlichkeit als Einfall aufdrängte, ohne daß dessen Her-
7019kunft und Beziehungen einsichtlich gewesen wären.
7020

§ 1139

„Erzählung des Dr. jur. E.: Ich fuhr vor sechs Jahren von
7021 Biarritz nach San Sebastian. Die Eisenbahnstrecke führt über
7022 den Bidassoafluß, der hier die Grenze zwischen Frankreich und
7023 Spanien bildet. Auf der Brücke hat man einen schönen Blick,
7024 auf der einen Seite über ein weites Tal und die Pyrenäen, auf
7025 der anderen Seite weithin über das Meer. Es war ein schöner,
7026 heller Sommertag, alles war erfüllt von Sonne und Licht, ich war
7027 auf einer Ferienreise, freute mich nach Spanien zu kommen —-
7028

§ 1140

7029

§ 1141

——176——
7030

§ 1142

da fielen mir die Verse ein: „Aber frei ist schon die Seele,
7031 schwebet in dem Meer von Licht.“
7032

§ 1143

Ich erinnere mich, daß ich damals darüber nachdachte, woher
7033 diese Verse seien und mich dessen nicht entsinnen konnte; nach
7034 dem Rhythmus mußten die Worte aus einem Gedicht stammen,
7035 welches aber meiner Erinnerung vollständig entfallen war. Ich
7036 glaube später, da mir die Verse wiederholt in den Sinn kamen,
7037 noch mehrere Leute danach gefragt zu haben, ohne etwas er-
7038fahren zu können.
7039

§ 1144

Im Vorjahre fuhr ich, von einer spanischen Reise zurück-
7040kehrend, auf derselben Bahnstrecke. Es war stockfinstere Nacht
7041 und es regnete. Ich sah zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob
7042 wir schon an der Grenzstation ankämen, und bemerkte, daß wir
7043 auf der Bidassoabrücke waren. Sofort kamen mir die oben an—
7044 geführten Verse wieder ins Gedächtnis, und wieder konnte ich
7045 mich ihrer Herkunft nicht erinnern.
7046

§ 1145

Mehrere Monate nachher kamen mir zu Hause die Uhland-
7047schen Gedichte in die Hand. Ich öffnete den Band und mein
7048 Blick fiel auf die Verse: „Aber frei ist schon die Seele, schwebet
7049 in dem Meer von Licht“, die den Schluß eines Gedichtes: „Der
7050 Waller“ bilden. Ich las das Gedicht und erinnerte mich nun
7051 ganz dunkel, es einmal vor vielen Jahren gekannt zu haben. Der
7052 Schauplatz der Handlung ist in Spanien, und dies schien mir die
7053 einzige Beziehung der zitierten Verse zu der von mir beschriebenen
7054 Stelle der Eisenbahnstrecke zu bilden. Ich war von meiner Ent-
7055deckung nur halb befriedigt und blätterte mechanisch in dern
7056 Buche weiter. Die Verse „Aber frei ist schon usw.“ standen als
7057 die letzten auf einer Seite. Beim Umblättern fand ich auf der
7058 nächsten Seite ein Gedicht mit der Überschrift: „Die Bidassoa-
7059brücke“.
7060

§ 1146

Ich bemerke noch, daß mir der Inhalt dieses letzteren Ge-
7061dichtes fast noch fremder schien als der des ersten, und daß seine
7062 ersten Verse lauten: „Auf der Bidassoabrücke steht ein Heiliger
7063 altersgrau, segnet rechts die spanschen Berge, segnet links den
7064 fränkschen Gau.“
7065

§ 1147

II. Diese Einsicht in die Determinierung scheinbar willkürlich
7066 gewählter Namen und Zahlen kann vielleicht zur Klärung eines
7067 anderen Problems beitragen. Gegen die Annahme eines durch-
7068

§ 1148

7069

§ 1149

—177-———
7070

§ 1150

gehenden psychischen Determinismus berufen sich bekanntlich
7071 viele Personen auf ein besonderes Überzeugungsgefühl für die
7072 Existenz eines freien Willens. Dieses Überzeugungsgefühl besteht
7073 und weicht auch dem Glauben an den Determinismus nicht. Es
7074 muß wie alle normalen Gefühle durch irgend etwas berechtigt
7075 sein. Es äußert sich aber, soviel ich beobachten kann, nicht bei
7076 den großen und wichtigen Willensentscheidungen; bei diesen Ge-
7077legenheiten hat man vielmehr die Empfindung des psychischen
7078 Zwanges und beruft sich gerne auf sie („Hier stehe ich, ich kann
7079 nicht anders“). Hingegen möchte man gerade bei den belang-
7080losen, indifferenten Entschließungen versichern, daß man eben-
7081sowohl anders hätte handeln können, daß man aus freiem, nicht
7082 motiviertem Willen gehandelt hat. Nach unseren Analysen
7083 braucht man nun das Recht des Überzeugungsgefühles vom freien
7084 Willen nicht zu bestreiten. Führt man die Unterscheidung der
7085 Motivierung aus dem Bewußten von der Motivierung aus dem
7086 Unbewußten ein, so berichtet uns das Überzeugungsgefühl, daß
7087 die bewußte Motivierung sich nicht auf alle unsere motorischen
7088 Entscheidungen erstreckt. Minima non curat praetor. Was aber
7089 so von der einen Seite frei gelassen wird, das empfängt seine
7090 Motivierung von anderer Seite, aus dem Unbewußten, und so ist
7091 die Determinierung im Psychischen doch lückenlos durchgeführt 1).
7092

§ 1151

III. Wenngleich dem bewußten Denken die Kenntnis von der
7093 Motivierung der besprochenen Fehlleistungen nach der ganzen
7094 Sachlage abgehen muß, so wäre es doch erwünscht, einen psycho-
7095logischen Beweis für deren Existenz aufzufinden; ja es ist aus
7096

§ 1152

1) Diese Anschauungen über die strenge Determinierung anscheinend
7097 willkürlieher psychischer Aktionen haben bereits reiche Früchte für die
7098 Psychologie —— vielleicht auch für die Rechtspflege -— getragen. Bleuler
7099 und Jun g haben in diesem Sinne die Reaktionen beim sogenannten Assoziations-
7100experiment verständlich gemacht, bei dem die untersuchte Person auf ein
7101 ihr zugerufenes Wort mit einem ihr dazu einfallenden antwortet (Reizwort-
7102Reaktion) und die dabei verlaufende Zeit gemessen wird (Reaktionszeit).
7103 Jung hat in seinen „Diagnostischen Assoziationsstudien 1906“ gezeigt, welch
7104 feines Reagens für psychische Zustände wir in dem so gedeuteten Assoziations—
7105 experiment besitzen. Zwei Schüler des Strafrechtslehrers H. Groß in Prag,
7106 Wertheimer und Klein haben aus diesen Experimenten eine Technik zur
7107 .„Tatbestands-Diagnostik“ in strafrechtlichen Fällen entwickelt, deren Prüfung
7108 gegenwärtig Psychologen und Juristen beschäftigt.
7109

§ 1153

Freud, Psychopathologie des Alltagslebens. 12
7110

§ 1154

7111

§ 1155

—-178——
7112

§ 1156

Gründen, die sich bei näherer Kenntnis des Unbewußten ergeben,
7113 wahrscheinlich, daß solche Beweise irgendwo auifindbar sind. Es
7114 lassen sich wirklich auf zwei Gebieten Phänomene nachweisen,
7115 welche einer unbewußten und darum verschobenen Kenntnis von
7116 dieser Motivierung zu entsprechen scheinen:
7117

§ 1157

a) Es ist ein auffälliger und. allgemein bemerkter Zug im
7118 Verhalten der Paranoiker, daß sie den kleinen, sonst von uns
7119 vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte
7120 Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage weit-
7121gehender Schlüsse machen. Der letzte Paranoiker z. B., den ich
7122 gesehen habe, schloß auf ein allgemeines Einverständnis in seiner
7123 Umgebung, weil die Leute bei seiner Abreise auf dem Bahnhof
7124 eine gewisse Bewegung mit der einen Hand gemacht hatten. Ein
7125 anderer hat die Art notiert, wie die Leute auf der Straße gehen,
7126 mit den Spazierstöcken fuchteln u. dgl. 1).
7127

§ 1158

Die Kategorie des Zufälligen, der Motivierung nicht Be-
7128düritigen, welche der Normale für einen Teil seiner eigenen
7129 psychischen Leistungen und F ehlleistungen gelten läßt, verwirft
7130 der Paranoiker also in der Anwendung auf die psychischen Äuße-
7131rungen der anderen. Alles, was er an den anderen bemerkt, ist
7132 bedeutungsvoll, alles ist deutbar. Wie kommt er nur dazu? Er
7133 projiziert wahrscheinlich in das Seelenleben der anderen,-was im
7134 eigenen unbewußt vorhanden ist, hier wie in so vielen ähnlichen
7135 Fällen. In der Paranoia drängt sich eben so vielerlei zum Be-
7136wußtsein durch, was wir bei N ormalen und Neurotikern erst durch
7137 die Psychoanalyse als im Unbewußten vorhanden nachweisen 2).
7138 Der Paranoiker hat also hierin in gewissem Sinne Recht, er er-
7139kennt etwas, was dem Normalen entgeht, er sieht schärfer als
7140 das normale Denkvermögen, aber die Verschiebung des so er—
7141 kannten Sachverhaltes auf andere macht seine Erkenntnis wertlos.
7142

§ 1159

1) Von anderen Gesichtspunkten ausgehend, hat man diese Beurteilung
7143 unwesentlicher und zufälliger Äußerungen bei anderen zum „Beziehungs-
7144Wahn“ gerechnet.
7145

§ 1160

2) Die durch Analyse bewußt zu machenden Phantasien der Hysteriker
7146 von sexuellen und grausamen Mißhandlungen decken sich z. B. gelegentlich,
7147 bis ins Einzelne mit den Klagen verfolgter Paranoiker. Es ist bemerkens-
7148wert, aber nicht unverständlich, wenn der“ identische Inhalt uns auch als
7149

§ 1161

Realität in den Veranstaltungen Perverser zur Befriedigung ihrer Gelüste
7150 entgegentritt.
7151

§ 1162

7152

§ 1163

—179—
7153

§ 1164

Die Rechtfertigung der einzelnen paranoischen Deutungen wird
7154 man dann hoffentlich von mir nicht erwarten. Das Stück Be-
7155rechtigung aber, welches wir der Paranoia bei dieser Auffassung
7156 der Zufallshandlungen zugestehen, wird uns das psychologische
7157 Verständnis der Überzeugung erleichtern, welche sich beim Para-
7158noiker an alle diese Deutungen geknüpft hat. Es ist eben
7159 etwas Wahres daran; auch unsere nicht als krankhaft zu
7160 bezeichnenden Urteilsirrtümer erwerben das ihnen zugehörige Über—
7161 zeugungsgefühl auf keine andere Art. Dies Gefühl ist für ein ge-
7162wisses Stück des irrtümlichen Gedankenganges oder für die Quelle,
7163 aus der er stammt, berechtigt und wird dann von uns auf den
7164 übrigen Zusammenhang ausgedehnt.
7165

§ 1165

b) Ein anderer Hinweis auf die unbewußte und verschobene
7166 Kenntnis der Motivierung bei Zufalls- und Fehlleistungen findet
7167 sich in den Phänomenen des Aberglaubens. Ich will meine Mei-
7168nung durch die Diskussion des kleinen Erlebnisses klar legen,
7169 welches für mich der Ausgangspunkt dieser Überlegungen war.
7170

§ 1166

Von den Ferien zurückgekehrt, richten sich meine Gedanken
7171 alsbald auf die Kranken, die mich in dem neu beginnenden
7172 Arbeitsjahre beschäftigen sollen. Mein erster Weg gilt einer sehr
7173 alten Dame, bei der ich (siehe oben) seit Jahren die nämlichen
7174 ärztlichen Manipulationen zweimal täglich vornehme. Wegen dieser
7175 Gleichförmigkeit haben sich unbewußte Gedanken sehr häufig auf
7176 dem Wege zu der Kranken und während der Beschäftigung mit
7177 ihr Ausdruck verschafft. Sie ist über 90 Jahre alt; es liegt also
7178 nahe, sich bei Beginn eines jeden Jahres zu fragen, wie lange
7179 sie wohl noch zu leben hat. An dem Tage, wovon ich erzähle,
7180 habe ich Eile, nehme also einen Wagen, der mich vor ihr Haus
7181 führen soll. Jeder der Kutscher auf dem Wagenstandplatz vor
7182 meinem Hause kennt die Adresse der alten Frau, denn jeder hat
7183 mich schon oftmals dahin geführt. Heute ereignet es sich nun,
7184 daß der Kutscher nicht vor ihrem Hause, sondern vor dem gleich-
7185bezifferten in einer nahegelegenen und wirklich ähnlich aussehenden
7186 Parallelstraße Halt macht. Ich merke den Irrtum und werfe ihn
7187 dem Kutscher vor, der sich entschuldigt. Hat das nun etwas zu
7188 * bedeuten, daß ich vor ein Haus geführt werde, in dem ich die
7189 alte Dame nicht vorfinde? Für mich gewiß nicht, aber wenn ich
7190 abergläubisch wäre, würde ich in dieser Begebenheit ein
7191

§ 1167

12*
7192

§ 1168

7193

§ 1169

——180—
7194

§ 1170

Vorzeichen erblicken, einen Fingerzeig des Schicksals, daß dies
7195 Jahr das letzte für die alte Frau sein wird. Recht viele Vor-
7196zeichen, welche die Geschichte aufbewahrt hat, sind in keiner
7197 besseren Symbolik begründet gewesen. Ich erkläre allerdings
7198 den Vorfall für eine Zufälligkeit ohne weiteren Sinn.
7199

§ 1171

Ganz anders läge der Fall, wenn ich den Weg zu Fuß gemacht
7200 und dann in „Gedanken“, in der „Zerstreutheit“ vor das Haus der
7201 Parallelstraße anstatt vors richtige gekommen wäre. Das würde
7202 ich für keinen Zufall erklären, sondern für eine der Deutung be-
7203dürftige Handlung mit unbewußter Absicht. Diesem „Vergehen“
7204 müßte ich wahrscheinlich die Deutung geben, daß ich die alte
7205 Dame bald nicht mehr anzutreffen erwarte.
7206

§ 1172

Ich unterscheide mich also von einem Abergläubischen in
7207 folgendem:
7208

§ 1173

Ich glaube nicht, daß ein Ereignis, an dessen Zustandekommen
7209 mein Seelenleben unbeteiligt ist, mir etwas Verborgenes über die
7210 zukünftige Gestaltung der Realität lehren kann; ich glaube aber,
7211 daß eine unbeabsichtigte Äußerung meiner eigenen Seelentätigkeit
7212 mir allerdings etwas Verborgenes enthüllt, was wiederum nur
7213 meinem Seelenleben angehört; ich glaube zwar an äußeren (realen)
7214 Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. Der Aber-
7215gläubische umgekehrt: er weiß nichts von der Motivierung seiner
7216 zufälligen Handlungen und F ehlleistungen, er glaubt, daß es
7217 psychische Zufälligkeiten gibt; dafür ist er geneigt, dem äußeren
7218 Zufall eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich im realen Geschehen
7219 äußern wird, im Zufall ein Ausdrucksmittel für etwas draußen ihm
7220 Verborgenes zu sehen. Die Unterschiede zwischen mir und dem
7221 Abergläubischen sind zwei: erstens projiziert er eine Motivierung
7222 nach außen, die ich innen suche; zweitens deutet er den Zufall
7223 durch ein Geschehen, den ich auf einen Gedanken zurückführe.
7224 Aber das Verborgene bei ihm entspricht dem Unbewußten bei mir,
7225 und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen,
7226 sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam.
7227

§ 1174

Ich nehme nun an, daß diese bewußte Unkenntnis und un-
7228bewußte Kenntnis von der Motivierung der psychischen Zufällig-
7229keiten eine der psychischen Wurzeln des Aberglaubens ist. Weil
7230 der Abergläubische von der Motivierung der eigenen zufälligen
7231 Handlungen nichts weiß, und weil die Tatsache dieser Motivierung
7232

§ 1175

7233

§ 1176

—181———
7234

§ 1177

nach einem Platz in seiner Anerkennung drängt, ist er genötigt,
7235 sie durch Verschiebung in der Außenwelt unterzubringen. Besteht
7236 ein solcher Zusammenhang, so wird er kaum auf diesen einzelnen
7237 Fall beschränkt sein. Ich glaube in der Tat, daß ein großes
7238 Stück der mythologischen W eltauifassung, die weit bis in die
7239 modernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist,
7240 als in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die
7241 dunkle Erkenntnis (sozusagen: endopsychisehe Wahrnehmung)
7242 psychischer Faktoren und Verhältnissefl des Unbewußten spiegelt
7243 sich — es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der
7244 Paranoia muß hier zur Hilfe genommen werden —-— in der Kon-
7245struktion einer übersinnlichen Realität, welche von der
7246 Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurück-
7247verwandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen
7248 vom Paradies und Sün'deniall, von Gott, vom Guten und Bösen,
7249 von der Unsterblichkeit u. dgl. in solcher Weise aufzulösen, die
7250 Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen. Die Kluft
7251 zwischen der Verschiebung des Paranoikers und der des Aber-
7252gläubischen ist mindergroß, als sie auf den ersten Blick erscheint.
7253 Als die Menschen zu denken begannen, waren sie bekanntlich
7254 genötigt, die Außenwelt anthr0pomorphisch in eine Vielheit von
7255 Persönlichkeiten nach ihrem Gleichnis aufzulösen; die Zufällig-
7256keiten, die sie abergläubisch deuteten, waren also Handlungen,
7257 Äußerungen von Personen, und sie haben sich demnach genau so
7258 benommen wie die Paranoiker, welche aus den unscheinbaren
7259 Anzeichen, die ihnen die anderen geben, Schlüsse ziehen, und wie
7260 die Gesunden alle, welche mit Recht die zufälligen und un-
7261beabsichtigten Handlungen ihrer Nebenmenschen zur Grundlage
7262 der Schätzung ihres Charakters machen. Der Aberglaube erscheint
7263 nur so sehr deplaziert in unserer modernen, naturwissenschaft-
7264lichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung; in
7265 der Weltanschauung vorwissenschaftlicher Zeiten und Völker war
7266 er berechtigt und konsequent.
7267

§ 1178

Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn
7268 ihm ein widriger Vogelfiug begegnete, war also relativ im Recht;
7269 „ er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen. Wenn er
7270

§ 1179

1) Die natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis hat.
7271

§ 1180

7272

§ 1181

-——182—
7273

§ 1182

aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle
7274 seiner Tür gestolpert war („Un Romain retournerait“), so war er
7275 uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelen-
7276kundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dies Stolpern
7277 konnte ihm die Existenz eines Zweifels, einer Gegenströmung in
7278 seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Momente der Aus-
7279führung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte. Des
7280 vollen Erfolges ist man nämlich nur dann sicher, wenn alle
7281 Seelenkräfte einig dem gewünschten Ziel entgegenstreben. Wie
7282 antwortet Schillers Tell, der so lange gezaudert, den Apfel
7283 vom Haupt seines Knaben zu schießen, auf die Frage des Vogts,
7284 wozu er den zweiten Pfeil eingesteckt?
7285

§ 1183

„Mit diesem zweiten Pfeil durchbohrt’ ich —— Euch,
7286

§ 1184

Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte,
7287

§ 1185

Und Euer -—— wahrlich —-— hätt’ ich nicht gefehlt.“
7288

§ 1186

IV. Wer die Gelegenheit gehabt hat, die verborgenen Seelen-
7289regungen der Menschen mit dem Mittel der Psychoanalyse zu
7290 studieren, der kann auch über die Qualität der unbewußten Motive,
7291 die sich im Aberglauben ausdrücken, einiges Neue sagen. Am
7292 deutlichsten erkennt man bei den oft sehr intelligenten, mit Zwangs-
7293denken und Zwangszuständen behafteten Nervösen, daß der Aber-
7294glaube aus unterdrückten feindseligen und grausamen Begungen -
7295hervorgeht. Aberglaube ist zum großen Teile Unheilserwartung,
7296 und wer anderen häufig Böses gewünscht, aber infolge der Er-
7297ziehung zur Güte solche Wünsche ins Unbewüßte verdrängt hat,’
7298 dem wird es besonders nahe liegen, die Strafe für solches un-
7299bewußte Böse als ein ihm drohendes Unheil von außen zu erwarten.
7300

§ 1187

Wenn wir zugeben, daß wir die Psychologie des Aberglaubens
7301 mit diesen Bemerkungen keineswegs erschöpft haben, so werden
7302 Wir auf der anderen Seite die Frage wenigstens streifen müssen,
7303 ob denn reale Wurzeln des Aberglaubens durchaus zu bestreiten
7304 seien, ob es gewiß keine Ahnungen, prophetische Träume, tele-
7305pathische Erfahrungen, Äußerungen übersinnlicher Kräfte u. dgl.
7306 gebe. Ich bin nun weit dav0n entfernt, diese Phänomene überall
7307 so kurzer Hand aburteilen zu wollen, über welche so viele ein-
7308gehende Beobachtungen selbst intellektuell hervorragender Männer
7309 vorliegen, und die am besten die Objekte weiterer Untersuchungen
7310 bilden sollen. Es ist dann sogar zu hoffen, daß ein Teil dieser
7311

§ 1188

7312

§ 1189

—-183—
7313

§ 1190

Beobachtungen durch unsere beginnende Erkenntnis der unbewußten
7314 seelischen Vorgänge zur Aufklärung gelangen wird, ohne uns zu
7315 grundstürzenden Abänderungen unserer heutigen Anschauungen zu
7316 nötigen. Wenn noch andere, wie z.B. die von den Spiritisten
7317 behaupteten Phänomene, erweisbar werden sollten, so werden wir
7318 eben die von der neuen Erfahrung geforderten Modifikationen
7319 unserer „Gesetze“ vornehmen, ohne an dem Zusammenhang der
7320 Dinge in der Welt irre zu werden.
7321

§ 1191

Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kann ich die nun
7322 aufgeworfenen Fragen nicht anders als subjektiv, d. i. nach meiner
7323 persönlichen Erfahrung beantworten. Ich muß leider bekennen,
7324 daß ich °zu jenen unwürdigen Individuen gehöre, vor denen die
7325 Geister ihre Tätigkeit einstellen und das Übersinnliche entweicht,
7326 so daß ich niemals in die Lage gekommen bin, selbst etwas zum
7327 Wunderglauben Anregendes zu erleben. Ich habe wie alle Menschen
7328 Ahnungen gehabt und Unheil erfahren, aber die beiden wichen
7329 einander aus, so daß auf die Ahnungen nichts folgte, und das Un-
7330heil unangekündigt über mich kam. Zur Zeit, als ich, ein junger
7331 Mann, allein in einer fremden Stadt lebte, habe ich oft genug
7332 meinen Namen plötzlich von einer unverkennbaren, teuern Stimme
7333 rufen hören, und mir dann den Zeitmoment der Halluzination
7334 notiert, um mich besorgt bei den Daheimgebliebenen zu erkundigen,
7335 was um jene Zeit vorgefallen. Es war nichts. Zum Ersatz dafür
7336 habe ich später ungerührt und ahnungslos mit meinen Kranken
7337 gearbeitet, während mein Kind einer Verblutung zu erliegen drohte.
7338 Es hat auch keine der Ahnungen, von denen mir Patienten be-
7339richtet haben, meine Anerkennung als reales Phänomen erwerben
7340 können.
7341

§ 1192

Der Glaube an pr0phetische Träume zählt viele Anhänger,
7342 weil er sich darauf stützen kann, daß manches sich wirklich in
7343 der Zukunft so gestaltet, wie es der Wunsch im Traume vorher
7344 konstruiert hat. Allein daran ist wenig zu verwundern, und
7345 zwischen dem Traum und der Erfüllung lassen sich in der Regel
7346 noch weitgehende Abweichungen nachweisen, welehe die Gläubig-
7347keit der Träumer zu vernachlässigen liebt. Ein schönes Beispiel
7348 \ eines mit Recht prophetisch zu nennenden Traumes bot mir einmal
7349 eine intelligente und wahrheitsliebende Patientin zur genauen Ana-
7350lyse. Sie erzählte, daß sie eimnal geträumt, sie treffe ihren früheren
7351

§ 1193

7352

§ 1194

——184—
7353

§ 1195

Freund und Hausarzt vor einem bestimmten Laden einer gewissen
7354 Straße, und als sie am nächsten Morgen in die innere Stadt ging,
7355 traf sie ihn wirklich an der im Traum genannten Stelle. Ich
7356 bemerke, daß dieses wunderbare Zusammentreffen seine Bedeutung
7357 durch kein nachfolgendes Ereignis erwies, also nicht aus dem Zu-
7358künftigen zu rechtfertigen war.
7359

§ 1196

Das sorgfältige Examen stellte fest, daß kein Beweis dafür
7360 vorliege, die Dame habe den Traum bereits am Morgen nach der
7361 Traumnacht, also vor dem Spaziergang und der Begegnung er-
7362innert. Sie konnte nichts gegen eine Darstellung des Sachverhaltes
7363 einwenden, die der Begebenheit alles Wunderbare nimmt und nur
7364 ein interessantes phychologisches Problem übrig läßt. Sie ist eines
7365 Vormittags durch die gewisse Straße gegangen, hat vor dem einen
7366 Laden ihren alten Hausarzt begegnet und nun bei seinem Anblick
7367 die Überzeugung bekommen, daß sie die letzte Nacht von diesem
7368 Zusammentreffen an der nämlichen Stelle geträumt habe. Die
7369 Analyse konnte dann mit großer Wahrscheinlichkeit andeuten, wie
7370 sie zu dieser Überzeugung gekommen war, welcher man ja nach
7371 allgemeinen Regeln ein gewisses Anrecht auf Glaubwürdigkeit nicht
7372 versagen darf. Ein Zusammentreffen am bestimmten Orte nach
7373 vorheriger Erwartung, das ist ja der Tatbestand eines Rendezvous.
7374 Der alte Hausarzt rief die Erinnerung an alte Zeiten in ihr wach,
7375 in denen Zusammenkünfte mit einer dritten, auch dem Arzt be-
7376freundeten Person für sie bedeutungsvoll gewesen waren. "Mit
7377 diesem Herrn war sie seitdem in Verkehr geblieben und hatte am
7378 Tage vor dem angeblichen Traum vergeblich auf ihn gewartet.
7379 Könnte ich die hier vorliegenden Beziehungen ausführlicher mit-
7380teilen, so wäre es mir leicht zu zeigen, daß die Illusion des
7381 prephetischen Traumes beim Anblick des Freundes aus früherer
7382 Zeit äquivalent ist etwa folgender Rede: „Ach, Herr Doktor, Sie
7383 erinnern mich jetzt an vergangene Zeiten, in denen ich niemals
7384 vergeblich auf N. zu warten brauchte, wenn wir eine Zusammen-
7385kunft bestellt hatten.“
7386

§ 1197

Von jenem bekannten „merkwürdigen Zusammentreffen“, daß
7387 man einer Person begegnet, mit welcher man sich gerade in Ge-
7388danken beschäftigt hat, habe ich bei'mir selbst ein einfaches und
7389 leicht zu deutendes Beispiel beobachtet, welches wahrscheinlich
7390 ein gutes Vorbild für ähnliche Vorfälle ist. Wenige Tage, nach—
7391

§ 1198

7392

§ 1199

———185—-
7393

§ 1200

dem mir der Titel eines Professors verliehen worden war, der in
7394 monarchisch eingerichteten Staaten selbst viel Autorität verleiht,
7395 lenkten während eines Spazierganges durch die Innere Stadt
7396 meine Gedanken plötzlich in eine kindische Rachephantasie ein,
7397 die sich gegen ein gewisses Elternpaar richtete. Diese hatten
7398 mich einige Monate vorher zu ihrem Töchterchen gerufen, bei
7399 dem sich eine interessante Zwangserscheinung im Anschluß an
7400 einen Traum eingestellt hatte. Ich brachte dem Falle, dessen
7401 Genese ich zu durchschauen glaubte, ein großes Interesse entgegen;
7402 meine Behandlung wurde aber von den Eltern abgelehnt und mir
7403 zu verstehen gegeben, daß man sich an eine ausländische Autorität,
7404 die mittels Hypnotismus heile, zu wenden gedenke. Ich phanta-
7405sierte nun, daß die Eltern nach dem völligen Mißglücken dieses
7406 Versuches mich bäten, mit meiner Behandlung einzusetzen, sie
7407 hätten jetzt volles Vertrauen zu mir usw. Ich aber antwortete:
7408 Ja, jetzt, nachdem ich auch Professor geworden bin, haben Sie
7409 Vertrauen. Der Titel hat an meinen Fähigkeiten weiter nichts
7410 geändert; wenn Sie mich als Dozenten nicht brauchen konnten,
7411 können Sie mich auch als Professor entbehren. — An dieser
7412 Stelle wurde meine Phantasie durch den lauten Gruß „Habe die
7413 Ehre, Herr Professor“ unterbrochen, und als ich aufschaute, ging
7414 das nämliche Elternpaar an mir vorüber, an dem ich soeben durch
7415 die Abweisung ihres Anerbietens Rache genommen hatte. Die
7416 nächste Überlegung zerstörte den Anschein des Wunderbaren. Ich
7417 ging auf einer geraden und breiten, fast menschenleeren Straße
7418 jenem Paar entgegen, hatte bei einem flüchtigen Aufschauen, viel-
7419leicht zwanzig Schritte von ihnen entfernt, ihre stattlichen Persön-
7420lichkeiten erblickt und erkannt, diese Wahrnehmung aber —— nach
7421 dem Muster einer negativen Halluzination —— aus jenen Gefühls-
7422motiven beseitigt, die sich dann in der anscheinend spontan auf-
7423tauchenden Phantasie zur Geltung brachten. '
7424

§ 1201

Eine andere „Auflösung einer scheinberen Vorahnung“ be-
7425richte ich nach Otto Rank (Zentr. f. Psychoanalyse II, 5):
7426

§ 1202

„Vor einiger Zeit erlebte ich selbst eine seltsame Variation
7427 jenes ,merkwürdigen Zusamfirentreffens‘, wobei man einer Person
7428 begegnet, mit welcher man sich gerade in Gedanken beschäftigt
7429 hat (Alltag 2, S. 120). Ich gehe unmittelbar vor Weihnachten in
7430 die Österreichisch-Ungarische Bank, um mir zehn neue Silberkronen
7431

§ 1203

7432

§ 1204

—186—
7433

§ 1205

zu Geschenkzwecken einzuwechseln. In ehrgeizige Phantasien
7434 versunken, die an den Gegensatz meiner geringen Barschaft zu
7435 den im Bankgebäude aufgestapelten Geldmassen anknüpfen, biege
7436 ich in die schmale Bankgasse ein, wo die Bank gelegen ist. Vor
7437 dem Tor sehe ich ein Automobil stehen und viele Leute aus- und
7438 eingehen. Ich denke mir, die Beamten werden gerade für meine
7439 paar Kronen Zeit haben; ich werde es jedenfalls rasch abmachen,
7440 die zu wechselnde Geldnote hinlegen und sagen: Bitte, geben Sie
7441 mir Gold! —— Sogleich bemerke ich meinen Irrtum —— ich sollte
7442 ja Silber verlangen —— und erwache aus meinen Phantasien.
7443 Ich befinde mich nur noch wenige Schritte vom Eingang "entfernt
7444 und sehe einen jungen Mann mir entgegenkommen, der mir be—
7445 kannt vorkommt, den ich jedoch wegen meiner Kurzsichtigkeit
7446 noch nicht mit Sicherheit zu erkennen vermag. Wie er näher
7447 kommt, erkenne ich in ihm einen Schulkollegen meines B ru d e rs,
7448 namens Gold, von dessen Bruder, einem bekannten Schrift—
7449 steller, ich zu Beginn meiner literarischen Laufbahn weitgehende
7450 Förderung erwartet hatte. Sie blieb jedoch aus und mit ihr auch
7451 der erhoffte materielle. Erfolg, mit dem sich meine Phantasie auf
7452 dem Wege zur Bank beschäftigt hatte. Ich muß also, in meine
7453 Phantasien versunken, das Herannahen des Herrn Gold unbewußt
7454 apperzipiert haben, was sich meinem von materiellen Erfolgen
7455 träumenden Bewußtsein in der Form darstellte, daß ich beschloß,
7456 am Kassenschalter Gold —-— statt des minderwertigen Silbers ——
7457 zu verlangen. Andererseits scheint aber auch die paradoxe Tat—
7458 sache, daß mein Unbewußtes ein Objekt wahrzunehmen imstande
7459 ist, welches meinem Auge erst später erkennbar wird, zum Teil
7460 aus der Komplexbereitschaft (Bleuler) erklärlich, die ja aufs
7461 Materielle eingestellt war und meine Schritte gegen mein besseres
7462 Wissen von Anfang an nach jedem Gebäude gelenkt hatte, wo
7463 nur die Gold- und Papiergeldverwechslung stattfindet.“
7464

§ 1206

In die Kategorie des Wunderbaren und Unheimlichen gehört
7465 noch jene eigentümliche Empfindung, die man in manchen Mo-
7466menten und Situationen verspürt, als ob man genau das nämliche schon
7467 einmal erlebt hätte, sich in derselben Lage schon einmal befunden
7468 hätte, ohne daß es je dem Bemühen gelingt, das frühere, das sich
7469 so anzeigt, deutlich zu erinnern. Ich weiß, daß ich bloß dem
7470 lockeren Sprachgebrauch folge, wenn ich das, was sich in solchen
7471

§ 1207

7472

§ 1208

—187-—
7473

§ 1209

Momenten in einem regt, eine Empfindung heiße; es handelt sich
7474 wohl um ein Urteil, und zwar ein Erkennungsurteil, aber diese
7475 Fälle haben doch einen ganz eigentümlichen Charakter, und daß
7476 man sich niemals an das Gesuchte erinnert, darf nicht beiseite
7477 gelassen werden. Ich weiß nicht, ob dies Phänomen des „D éj a
7478 vu“ im Ernst zum Erweis einer früheren psychischen Existenz
7479 des Einzelwesens herangezogen worden ist; wohl aber haben die
7480 Psychologen ihm ihr Interesse zugewendet und die Lösung des
7481 Rätsels auf den mannigfaltigsten spekulativen Wegen angestrebt.
7482 Keiner der beigebrachten Erklärungsversuche scheint mir richtig
7483 zu sein, weil in keinem etwas anderes als die Begleiterscheinrmgen
7484 und begünstigenden Bedingungen des Phänomens in Betracht ge—
7485 zogen wird. Jene psychischen Vorgänge, welche nach meinen
7486 Beobachtungen allein für die Erklärung des „Déjä vu“ verant-
7487wortlich sind, die unbewußten Phantasien nämlich, werden ja
7488 heute noch von den Psychologen allgemein vernachlässigt.
7489

§ 1210

Ich meine, man tut Unrecht, die Empfindung des schon ein—
7490 mal Erlebthabens als eine Illusion zu bezeichnen. Es wird viel-
7491mehr in solchen Momenten wirklich an etwas gerührt, was man
7492 bereits einmal erlebt hat, nur kann dies letztere nicht bewußt
7493 erinnert werden, weil es niemals bewußt war. Die Empfindung
7494 des „Déjä vu“ entspricht, kurz gesagt, der Erinnernng an eine
7495 unbewußte Phantasie. Es gibt unbewußte Phantasien (oder Tag-
7496träme), wie es bewußte solche Schöpfungen gibt, die ein jeder
7497 aus seiner eigenen Erfahrung kennt.
7498

§ 1211

Ich weiß, daß der Gegenstand der eingehendsten Behandlung
7499 würdig wäre, will aber hier nur die Analyse eines einzigen Falles
7500 von „Déjä vu“ anführen, in dem sich die Empfindung durch be-
7501sondere Intensität und Ausdauer, auszeichnete. Eine jetzt 37 jährige
7502 Dame behauptet, daß sie sich aufs schärfste erinnere, im Alter von
7503 121/2 Jahren habe sie einen ersten Besuch bei Schulfreundinnen
7504 auf dem Lande gemacht, und als sie in den Garten eintrat, sofort
7505 die Empfindung gehabt, hier sei sie schon einmal gewesen; diese
7506 Empfindung habe sich, als sie die Wohnräume betrat, wiederholt,
7507 so daß sie vorher zu wissen glaubte, welcher Raum der nächste
7508 sein würde, welche Aussicht man von ihm aus haben werde usw.
7509 Es ist aber ganz ausgeschlossen und durch ihre Erkundigung bei
7510 den Eltern widerlegt, daß dieses Bekanntheitsgefühl in einem
7511

§ 1212

7512

§ 1213

——188—
7513

§ 1214

'
7514

§ 1215

früheren Besuch des Hauses und Gartens, etwa in ihrer ersten
7515 Kindheit, seine Quelle haben könnte. Die Dame, die das be-
7516richtete, suchte nach keiner psychologischen Erklärung, sondern
7517 sah in dem Auftreten dieser Empfindung einen prophetischen Hin-
7518weis auf die Bedeutung, welche eben diese Freundinnen Später
7519 für ihr Gefühlsleben gewannen. Die Erwägung der Umstände,
7520 unter denen das Phänomen bei ihr auftrat, zeigt uns aber den
7521 Weg zu einer anderen Auffassung. Als sie den Besuch unter-
7522nahm, wußte sie, daß diese Mädchen einen einzigen schwerkranken
7523 Bruder hatten. Sie bekam ihn bei dem Besuch auch zu Gesichte,
7524 fand ihn sehr schlecht aussehend und dachte sich, daß er bald
7525 sterben werde. Nun war ihr eigener einziger Bruder einige
7526 Monate vorher an Diphtherie gefährlich erkrankt gewesen; während
7527 seiner Krankheit hatte sie vom Elternhause entfernt wochenlang
7528 bei einer Verwandten gewohnt. Sie glaubt, daß der Bruder
7529 diesen Landbesuch mitmachte, meint sogar, es sei sein erster
7530 größerer Ausflug nach der Krankheit gewesen; doch ist ihre Er-
7531innerung in diesen Punkten merkwürdig unbestimmt, während alle
7532 anderen Details, und besonders das Kleid, das sie an jenem Tage
7533 trug, ihr überdeutlich vor Augen stehen. Dem Kundigen wird es
7534 nicht schwer fallen, aus diesen Anzeichen zu schließen, daß die
7535 Erwartung, ihr Bruder werde sterben, bei dem Mädchen damals
7536 eine große Rolle gespielt hatte und entweder nie bewußt ge—
7537 worden oder nach dem glücklichen Ausgang der Krankheit
7538 energischer Verdrängung verfallen war. Im anderen Falle hätte
7539 sie ein anderes Kleid, nämlich Trauerkleidung, tragen müssen.
7540 Bei den Freundinnen fand sie nun die analoge Situation vor, den
7541 einzigen Bruder in Gefahr, bald zu sterben, wie es auch kurz
7542 darauf wirklich eintraf. Sie hätte bewußt erinnern sollen, daß sie
7543 diese Situation vor wenigen Monaten selbst durchlebt hatte; an-
7544statt dies zu erinnern, was durch die Verdrängung verhindert war,
7545 übertrug sie das Erinnerungsgefühl auf die Lokalitäten, Garten
7546 und Haus, und verfiel der „fausse reconnaissance“, daß sie das
7547 alles genau ebenso schon einmal gesehen habe. Aus der Tatsache
7548 der Verdrängung dürfen wir schließen, daß die seinerzeitige Er-
7549wartung, ihr Bruder werde sterben, nicht weit entfernt vom
7550 Charakter einer Wunschphantasie gewesen war. Sie wäre dann
7551 das einzige Kind geblieben. In ihrer späteren Neurose litt sie in
7552

§ 1216

7553

§ 1217

————189-—-
7554

§ 1218

' intensivster Weise unter der Angst, ihre Eltern zu verlieren, hinter
7555 welcher die Analyse wie gewöhnlich den unbewußten Wunsch des
7556 gleichen Inhalts aufdecken konnte.
7557

§ 1219

Meine eigenen flüchtigen Erlebnisse von „Deja vu“ habe ich
7558 mir in ähnlicher Weise aus der Gefühlskonstellation des Moments
7559 ableiten können. „Das wäre wieder ein Anlaß, jene (unbewußte
7560 und unbekannte) Phantasie zu wecken, die sich damals und da-
7561mals als Wunsch zur Verbesserung der Situation in mir gebildet
7562 hat“ 1).
7563

§ 1220

V. Als ich unlängst Gelegenheit hatte, einem philos0phisch
7564 gebildeten Kollegen einige Beispiele von Namenvergessen mit
7565 Analyse vorzutragen, beeilte er sich zu erwidern: Das ist sehr
7566 schön, aber bei mir geht das Namenvergessen anders zu. So
7567 leicht darf man es sich offenbar nicht machen; ich glaube nicht,
7568 daß mein Kollege je vorher an eine Analyse bei Namenvergessen
7569 gedacht hatte; er konnte auch nicht sagen, wie es bei ihm anders
7570 zugehe. Aber seine Bemerkung berührt doch ein Problem, welches
7571 viele in den Vordergrund zu stellen geneigt sein werden. Trifit
7572 die hier gegebene Auflösung der Fehl— und Zufallshandlungen
7573 allgemein zu oder nur vereinzelt, und wenn letzteres, welches sind
7574 die Bedingungen, unter denen sie zur Erklärung der auch anders-
7575wie ermöglichten Phänomene herangezogen werden darf? Bei der
7576 Beantwortung dieser Frage lassen mich meine Erfahrungen im
7577 Stiche. Ich kann nur davon abmahnen, den aufgezeigten Zu-
7578sammenhang für selten zu halten, denn so oft ich bei mir selbst
7579 und bei meinen Patienten die Probe angestellt, hat er sich wie
7580 in den mitgeteilten Beispielen sicher nachweisen lassen, oder
7581

§ 1221

1) Diese Erklärung des „Déj‘a vu“ ist bisher nur von einem einzigen
7582 Beobachter gewürdigt worden. Dr. Ferenczi, dem die dritte Auflage dieses
7583 BuChes soviel wertvolle Beiträge verdankt, schreibt mir hierüber: „Ich habe
7584 mich sowohl bei mir als auch bei anderen davon überzeugt, daß das un-
7585erklärliche Bekanntheitsgefühl auf unbewußte Phantasien zurückzuführen ist,
7586 an die man in einer aktuellen Situation unbewußt erinnert wird. Bei einem
7587 meiner Patienten ging es anscheinend anders, in Wirklichkeit aber ganz
7588 analog zu. Dies Gefühl kehrte "bei ihm sehr oft wieder, erwies sich aber
7589 regelmäßig als von einem vergessenen (verdrängten) Traumstiick
7590 der vergangenen Nacht herrührehd. Es scheint also, daß das „Déjä vu“
7591 nicht nur von Tagträumen, sondern auch von nächtlichen Träumen ab-
7592stammen kann.“
7593

§ 1222

7594

§ 1223

——190———
7595

§ 1224

haben sich wenigstens gute Gründe, ihn zu vermuten, ergeben.
7596 Es ist nicht zu verwundern, wenn es nicht alle Male gelingt,
7597 den verborgenen Sinn der Symptomhandlung zu finden, da die
7598 Größe der inneren Widerstände, die sich der Lösung widersetzen,
7599 als entscheidender Faktor in Betracht kommt. Man ist auch nicht
7600 imstande, bei sich selbst oder bei den Patienten jeden einzelnen
7601 Traum zu deuten; es genügt, um die Allgemeingültigkeit der
7602 Theorie zu bestätigen, wenn. man nur ein Stück weit in den ver-
7603deckten Zusammenhang einzudringen vermag. Der Traum, der
7604 sich beim Versuche, ihn am Tage nachher zu lösen, refraktär
7605 zeigt, läßt sich oft eine Woche oder einen‘Monat später sein Ge-
7606heimnis entreißen, wenn eine unterdes erfolgte reale Veränderung
7607 die miteinander streitenden psychischen Wertigkeiten herabgesetzt
7608 hat. Das nämliche gilt für die Lösung der Fehl- und Symptom-
7609handlungen; das Beispiel von Verlesen „Im Faß durch Europa“
7610 auf Seite 76 hat mir die Gelegenheit gegeben zu zeigen, wie ein
7611 anfänglich unlösbares Symptom der Analyse zugänglich wird, wenn
7612 das reale Interesse an den verdrängten Gedanken nach-
7613gelassen hat. Solange die Möglichkeit bestand, daß mein Bruder
7614 den beneideten Titel vor mir erhalte, widerstand das genannte
7615 Verlesen allen wiederholten Bemühungen der Analyse; nachdem
7616 es sich herausgestellt hatte, daß diese Bevorzugung unwahr-
7617scheinlich sei, klärte sich mir plötzlich der Weg, der zur Auf-
7618lösung desselben führte. Es wäre also unrichtig, von all den
7619 Fällen, welche der Analyse widerstehen, zu behaupten, sie seien
7620 durch einen anderen als den hier aufgedeckten psychischen
7621 Mechanismus entstanden; es brauchte für diese Annahme noch
7622 andere als negative Beweise. Auch die bei Gesunden wahrscheinlich
7623 allgemein vorhandene Bereitwilligkeit, an eine andere Erklärung
7624 der Fehl- und Symptomhandlungen zu glauben, ist jeder Beweis-
7625kraft bar; sie ist, wie selbstversändlich, eine Äußerung derselben
7626 seelischen Kräfte, die das Geheimnis hergestellt haben, und die
7627 sich darum auch für dessen Bewahrung einsetzen, gegen dessen
7628 Aufhellung aber sträuben.
7629

§ 1225

Auf der anderen Seite dürfen wir nicht übersehen, daß die
7630 verdrängten Gedanken und Regungen sich den Ausdruck in
7631 Symptom- und Fehlhandlungen ja nicht selbständig schaffen. Die
7632 technische Möglichkeit für solches, Ausgleiten der Innervationen
7633

§ 1226

7634

§ 1227

——191-—-
7635

§ 1228

muß unabhängig von ihnen gegeben sein; diese wird dann von
7636 der Absicht des Verdrängten, zur bewußten Geltung zu kommen,.
7637 gerne ausgenützt. Welche Struktur- und F unktionsrelationen es
7638 sind, die sich solcher Absicht zur Verfügung stellen, das haben
7639 für den Fall der sprachlichen Fehlleistung eingehende Unter-
7640suchungen der Philosophen und Philologen festzustellen sich be-
7641müht. Unterscheiden wir so an den Bedingungen der Fehl—
7642 und Symptomhandlung das unbewußte Motiv von den ihm ent-
7643gegenkommenden physiologischen und psychophysischen Relationen,
7644 so bleibt die Frage offen, ob es innerhalb der Breite der Gesund-
7645heit noch andere Momente gibt, welche, wie das unbewußte Motiv
7646 und an Stelle desselben, auf dem Wege dieser Relationen die
7647 F ehl- und Symptomhandlungen zu erzeugen vermögen. Es ist
7648 nicht meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten.
7649

§ 1229

VI. Seit den Erörterungen über das Versprechen haben wir
7650 uns begnügt zu beweisen, daß die Fehlleistungen eine verborgene
7651 Motivierung haben, und uns mit dem Hilfsmittel der Psycho—
7652 analyse den Weg zur Kenntnis dieser Motivierung gebahnt. Die
7653 allgemeine Natur und die Besonderheiten der in den F ehlleistungen
7654 zum Ausdruck gebrachten psychischen Faktoren haben wir bisher
7655 fast ohne Berücksichtigung gelassen, jedenfalls noch nicht ver-
7656sucht, dieselben näher zu bestimmen und auf ihre Gesetzmäßig-
7657keit zu prüfen. Wir werden auch jetzt keine gründliche Erledigung
7658 des Gegenstandes versuchen, denn die ersten Schritte werden uns
7659 bald belehrt haben, daß man in dies Gebiet besser von anderer
7660 Seite einzudringen vermag. Man kann sich hier mehrere Fragen
7661 vorlegen, die ich wenigstens anführen und in ihrem Umfang um—
7662 schreiben will. 1. Welches Inhalts und welcher Herkunft sind
7663 die Gedanken und Begungen, die sich durch die F ehl- und Zufalls-
7664handlungen andeuten? 2. Welches sind die Bedingungen dafür,
7665 _daß ein Gedanke oder eine Regung genötigt und in den Stand
7666 gesetzt werde, sich dieser Vorfälle als Ausdrucksmittel zu be-
7667dienen? 8. Lassen sich konstante und eindeutige Beziehungen
7668 zwischen der Art der Fehlhandlungen und den Qualitäten des
7669 durch sie zum Ausdruck Gébrachten nachweisen ?
7670

§ 1230

Ich beginne damit, einiges Material zur Beantwortung der
7671 letzten Frage zusammenzutragen. Bei der Erörterung der Beispiele'
7672 von Versprechen haben wir es für nötig gefunden, über den
7673

§ 1231

7674

§ 1232

—-I92——
7675

§ 1233

Inhalt der intendierten Rede hinauszugehen, und haben die Ursache
7676 der Redestörung außerhalb der Intention suchen müssen. Die-
7677selbe lag dann in einer Reihe von Fällen nahe und war dem
7678 Bewußtsein des Sprechenden bekannt. In den scheinbar ein-
7679fachsten und durchsichtigsten Beispielen war es eine gleichberechtigt
7680 klingende, andere Fassung desselben Gedankens, die dessen Aus-
7681druck störte, ohne daß man hätte angeben können, warum die
7682 eine unterlegen, die andere durchgedrungen war (Kontaminationen
7683 von Meringer und Meyer). In einer zweiten Gruppe von Fällen
7684 war das Unterliegen der einen Fassung motiviert durch eine
7685 Rücksicht, die sich aber nicht stark genug zur völligen Zurück-
7686haltung erwies („zum Vorschwein gekommen“). Auch die zurück-
7687.gehaltene Fassung war klar bewußt. Von der dritten Gruppe erst
7688 kann man ohne Einschränkung behaupten, daß hier der störende
7689 Gedanke von dem intendierten verschieden war, und kann hier
7690 eine, wie es scheint, wesentliche Unterscheidung aufstellen. Der
7691 störende Gedanke ist entweder mit dem gestörten durch Gedanken-
7692.assoziation.verbunden (Störung durch inneren Widerspruch), oder
7693 er ist ihm wesensfremd, und durch eine befremdende äußerliche
7694 Assoziation ist gerade das gestörte Wort mit dem störenden Ge—
7695 danken, der oft unbewußt ist, verknüpft. In den Beispielen, die
7696 ich aus meinen Psychoanalysen gebracht habe, steht die ganze
7697 ,Rede unter dem Einfluß gleichzeitig aktiv gewordener, aber völlig
7698 unbewußter Gedanken, die sich entweder durch die Störung selbst
7699 verraten (Klapperschlange —— Kleopatra) oder einen indirekten
7700 Einfluß äußern, indem sie ermöglichen, daß die einzelnen Teile
7701 der bewußt intendierten Rede einander stören (Ase natmen: wo
7702 Hasenauerstraße, Reminiszenzen an eine Französin dahinter—
7703 stehen). Die zurückgehaltenen oder unbewußten Gedanken, von
7704 denen die Sprechstörung ausgeht, sind von der mannigfaltigsten
7705 Herkunft. Eine Allgemeinheit enthüllt uns diese Überschau also
7706 nach keiner Richtung.
7707

§ 1234

Die vergleichende Prüfung der Beispiele von Verlesen und
7708 Verschreiben führt zu den „nämlichen Ergebnissen. Einzelne Fälle
7709 scheinen wie beim Versprechen einer weiter nicht motivierten
7710 Verdichtungsarbeit ihr Entstehen zu danken (z. B.: der Apie).
7711 Man möchte aber gern erfahren, ob nicht doch besondere Be-
7712dingungen erfüllt sein müssen, damit eine solche Verdichtung, die
7713

§ 1235

7714

§ 1236

—-193——
7715

§ 1237

in der Traumarbeit regelrecht, in unserem wachen Denken fehler-
7716haft ist, Platz greife, und bekommt hierüber aus den Beispielen
7717 selbst keinen Aufschluß. Ich würde es aber ablehnen, hieraus
7718 den Schluß zu ziehen, es gebe keine solchen Bedingungen als
7719 etwa den Nachlaß der bewußten Aufmerksamkeit, da ich von
7720 anderswoher weiß, daß sich gerade automatische Vorrichtungen
7721 durch Korrektheit und Verläßlichkcit auszeichnen. Ich möchte
7722 eher betonen, daß hier, wie so häufig in der Biologie, die nor-
7723malen oder dem normalen angenäherten Verhältnisse ungünstigere
7724 Objekte der Forschung sind als die pathologischen. Was beider
7725 Erklärung dieser leichtesten Störungen dunkel bleibt, wird nach
7726 meiner Erwartung durch die Aufklärung schwererer Störungen Licht -
7727empfangen.
7728

§ 1238

Auch beim Verlesen und Verschreiben fehlt es nicht an Bei- _
7729 spielen, welche eine entferntere und kompliziertere Motivierung
7730 erkennen lassen. „Im Faß durch Europa“ ist eine Lesestörung, die
7731 sich durch den Einfluß eines entlegenen, wesensfremden Gedankens
7732 aufklärt, welcher einer verdrängten Regung von Eifersucht und
7733 Ehrgeiz entspringt, und den „Wechsel“ des Wortes „Beförderung“
7734 zur Verknüpfung mit dem gleichgültigen und harmlosen Thema,
7735 das gelesen wurde, benützt. Im Falle Burckhard ist der Name
7736 selbst ein solcher „Wechsel“.
7737

§ 1239

Es ist unverkennbar, daß die Störungen der Sprechfunktioncn
7738 leichter zustande kommen und weniger Anforderungen an die
7739 störenden Kräfte stellen als die anderer psychischer Leistungen.
7740

§ 1240

Auf anderem Boden steht man bei der Prüfung des Vergessens
7741 im eigentlichen Sinne, (1. h. des Vergessens von vergangenen Er-
7742lebnissen (das Vergessen von Eigennamen und Fremdworten, wie
7743 in den Abschnitten land II, könnte man als „Entfallen“, das von
7744 Vorsätzen als „Unterlassen“ von diesem Vergessen sensu strictiori
7745 absondern). Die Grundbedingungen des normalen Vorgangs beim
7746 Vergessen sind unbekannt 1). Man wird auch daran gemahnt, daß
7747

§ 1241

1) Über den Mechanismus des eigentlichen Vergessens kann ich etwa
7748 folgende Andeutungen geben. Das Erinnerungsmaterial unterliegt im all-
7749gemeinen zwei Einflüssen, dcr Verdichtung und der Entstellung. Die Ent-
7750stellung ist das Werk der im Seelenlcben herrschenden Tendenzen und
7751 wendet sich vor allem gegen die afiektwirksam gebliebenen Erinnerungs—
7752 sparen, die sich gegen die Verdichtung resistenter verhalten. Die indifi'ereut
7753

§ 1242

“ " F r 9 u d , Psychopathologie des Autagslebens. 1 3
7754

§ 1243

7755

§ 1244

—194——
7756

§ 1245

nicht alles vergessen ist, was man dafür hält. Unsere Erklärung
7757 hat es hier nur mit jenen Fällen zu tun, in denen das Vergessen
7758 bei uns ein Befremden erweckt, insofern es die Regel verletzt,
7759 daß Unwichtiges vergessen, Wichtiges aber vom Gedächtnis bewahrt
7760 wird. Die Analyse der Beispiele von Vergessen, die uns nach
7761 einer besonderen Aufklärung zu verlangen scheinen, ergibt als
7762 Motiv des Vergessens jedesmal eine Unlust, etwas zu erinnern,
7763 was peinliche Empfindungen erwecken kann. Wir gelangen zur
7764 Vermutung, daß dieses Motiv im psychischen Leben sich ganz
7765 allgemein zu äußern strebt, aber durch andere gegenwirkende
7766 Kräfte verhindert wird, sich irgendwie regelmäßig durchzusetzen.
7767 Umfang und Bedeutung dieser Erinnerungsunlust gegen peinliche
7768 Eindrücke scheinen der sorgfältigsten psychologischen Prüfung wert
7769 zu sein; auch die Frage, Welche besonderen Bedingungen das
7770 allgemein angestrebte Vergessen in einzelnen Fällen ermöglichen,
7771 ist aus diesem weiteren Zusammenhange nicht zu lösen.
7772

§ 1246

Beim Vergessen von Vorsätzen tritt ein anderes Moment in
7773 den Vordergrund; der beim Verdrängen des peinlich zu Erinnernden
7774 nur vermutete Konflikt wird hier greifbar, und man erkennt bei
7775 . der Analyse der Beispiele regelmäßig einen Gegenwillen, der sich
7776 dem Vorsatze widersetzt, ohne ihn aufzuheben. Wie bei früher
7777

§ 1247

gewordenen Spuren verfallen dem Verdichtungsvorgang ohne Gegenwehr,
7778 doch kann man beobachten, daß überdies Entstellungstendenzen sich an dem
7779 indifferenten Material sättigen, welche dort, wo sie sich äußern wollten,
7780 unbefriedigt' geblieben sind. Da. diese Prozesse der Verdichtung und Ent-
7781stellung sich über lange Zeiten hinziehen, während welcher alle frischen
7782 Erlebnisse auf die Umgestaltung des Gedäehtnisinhaltes einwirken, meinen
7783 wir, es sei die" Zeit, welche die Erinnerungen unsicher und undeutlich
7784 macht. Sehr wahrstcheinlich ist beim Vergessen von einer direkten Funktion
7785 der Zeit überhaupt nicht die Rede. —— An den verdrängten Erinnerungs-
7786Spuren kann man konstatieren, daß sie durch die längste Zeitdauer keine
7787 Veränderung erfahren haben. Das Unbewußte ist überhaupt zeitlos. Der
7788 wichtigste und auch befremdendste Charakter der psychischen Fixierung ist
7789 der, daß alle Eindrücke einerseits in der nämlichen Art erhalten sind, wie
7790 sie aufgenommen wurden, und überdies noch in all den Formen, die sie bei
7791 den weiteren Entwicklungen angenommen haben, ein Verhältnis, welches
7792 sich durch keinen Vergleich aus einer anderen Sphäre erläutern läßt. Der
7793 Theorie zufolge ließe sich also jeder frühere Zustand des Gedächtnisinhaltes
7794 Wieder für die Erinnerung herstellen, auch wenn dessen Elemente alle
7795 ursprünglichen Beziehungen längst gegen neuere eingeteüscht haben.
7796

§ 1248

7797

§ 1249

——195-——-
7798

§ 1250

besmochenen Fehlleistungen erkennt man auch hier zwei Typen des
7799 psychischen Vorgangs: der Gegenwille kehrt sich entweder direkt
7800 gegen den Vorsatz (bei Absichten von einigem Belang), oder er
7801 ist dem Vorsatz selbst wesensfremd und stellt seine Verbindung
7802 mit ihm durch eine äußerliche Assoziation her (bei fast in—
7803 differenten Vorsätzen). '
7804

§ 1251

Derselbe Konflikt beherrscht die Phänomene des Vergreifens.
7805 Der Impuls, der sich in der Störung der Handlung äußert, ist
7806 häufig ein Gegenimpuls, doch noch öfter ein überhaupt fremder,
7807 der nur die Gelegenheit benützt, sich bei der Ausführung der
7808 Handlung durch eine Störung derselben zum Ausdruck zu bringen.
7809 Die Fälle, in denen die Störung durch einen inneren Widerspruch
7810 erfolgt, sind die bedeutsameren und betreffen auch die wichtigeren
7811 Verrichtungen. .
7812

§ 1252

Der innere Konflikt tritt dann bei den Zufalls- oder Symptom-
7813handlungen immer mehr zurück. Diese vom Bewußtsein gering
7814 geschätzten oder ganz übersehenen motorischen Äußerungen dienen
7815 so mannigfachen unbewußten oder zurückgehaltenen Regungen
7816 zum Ausdruck; sie stellen meist Phantasien oder Wünsche sym-
7817bolisch dar. —
7818

§ 1253

Zur ersten Frage, welcher Herkunft die Gedanken und Re—
7819 gungen seien, die sich in den Fehlleistungen zum Ausdruck bringen,
7820 läßt sich sagen, daß in einer Reihe von Fällen die Herkunft der
7821 störenden Gedanken von unterdrückten Regungen des Seelenlebens
7822 leicht nachzuweisen ist. Egoistische, eifersüchtige, feindselige Ge-
7823fühle und Impulse, auf denen der Druck der moralischen Erziehung
7824 lastet, bedienen sich bei Gesunden nicht selten des Weges der
7825 Fehlleistungen, um ihre unleugbar vorhandene, aber von höheren
7826 seelischen Instanzen nicht anerkannte Macht irgendwie zu äußern.
7827 Das Gewährenlassen dieser Fehl- und Zufallshandlungen entspricht
7828 zum guten Teil einer bequemen Duldung des Unmoralischen.
7829 Unter diesen unterdrückten Regungen spielen die mannigfachen
7830 sexuellen Strömungen keine geringfügige Rolle. Es ist ein Zufall
7831 des Materials, wenn gerade ,_ sie so selten unter den durch die
7832 Analyse aufgedeckten Gedanken in meinen Beispielen erscheinen.
7833 Da ich vorwiegend Beispiele aus meinem eigenen Seelenleben der_
7834 Analyse unterzogen habe, so war die Auswahl von vornherein
7835 parteiisch und auf den Ausschluß des Sexuellen gerichtet. Andere
7836

§ 1254

13*
7837

§ 1255

7838

§ 1256

——196———
7839

§ 1257

Male scheinen es höchst harmlose Einwendungen und Rücksichten
7840 zu sein, aus denen die störenden Gedanken entspringen.
7841

§ 1258

‘ Wir stehen nun vor der Beantwortung der zweiten Frage,
7842 welche psychologischen Bedingungen dafür gelten, daß ein Gedanke
7843 seinen Ausdruck nicht in voller Form, sondern in gleichsam parasi-
7844tärer, als Modifikation und Störung eines anderen suchen müsse.
7845 Es liegt nach den auffälligsten Beispielen von Fehlhandlung nahe,
7846 diese Bedingung in einer Beziehung zur Bewußtseinsfähigkeit zu
7847 suchen, in dem mehr oder minder entschieden ausgeprägten Cha-
7848rakter des „Verdrängten“. Aber die Verfolgung durch die Reihe
7849 der Beispiele löst diesen Charakter in immer mehr verschwommene
7850 Andeutungen auf. Die Neigung, über etwas als zeitraubend hinweg-
7851

§ 1259

zukommen, — die Erwägung, daß der betreffende Gedanke nicht
7852 eigentlich zur intendierten Sache gehört, — scheinen als Motive
7853

§ 1260

für die Zurückdrängung eines Gedankens, der dann auf den Aus-
7854druck durch Störung eines anderen angewiesen ist, dieselbe Rolle
7855 zu spielen wie die moralische Verurteilung einer unbotmäßigen
7856 Gefühlsregung oder die Abkunft von völlig unbewußten Gedanken-
7857zügen. Eine Einsicht in die allgemeine Natur der Bedingtheit
7858 von Fehl— und Zufallsleistungen läßt sich auf diese Weise nicht
7859 gewinnen. Einer einzigen bedeutsamen Tatsache wird man bei
7860 diesen Untersuchungen habhaft; je harmloser die Motivierung der
7861 Fehlleistung ist, je weniger anstößig und. darum weniger bewußt-
7862seinsunfähig der Gedanke ist, der sich in ihr zum Ausdruck bringt,
7863 desto leichter wird auch die Auflösung des Phänomens, wenn man
7864 ihm seine Aufmerksamkeit zugewendet hat; die leichtesten Fälle
7865 des Versprechens werden sofort bemerkt und spontan korrigiert.
7866 Wo es sich um Motivierung durch wirklich verdrängte Regungen
7867 handelt, da bedarf es zur Lösung einer sorgfältigen Analyse, die
7868 selbst zeitweise auf Schwierigkeiten stoßen oder mißlingen kann.
7869

§ 1261

Es ist also wohl berechtigt, das Ergebnis dieser letzten Unter—
7870 suchung als einen Hinweis darauf zu nehmen, daß die befriedigende
7871 Aufklärung für die psychologischen Bedingungen der Fehl- und
7872 Zufallshandlungen auf einem anderen Wege und von anderer Seite
7873 her zu gewinnen ist. Der nachsichtige Leser möge daher in diesen
7874 Auseinandersetzungen den Nachweis der Bruchflächen sehen, an
7875

§ 1262

denen dieses Thema ziemlich künstlich aus einem größeren Zu-
7876sammenbange herausgelöst wurde.
7877

§ 1263

7878

§ 1264

_ 197 _;
7879

§ 1265

Vll. Einige Worte sollen zum mindesten die Richtung nach
7880 diesem weiteren Zusammenhange andeuten. Der Mechanismus der
7881 Fehl- und Zufallshandlungen, wie wir ihn durch die Anwendung
7882 der Analyse kennen gelernt haben, zeigt in den wesentlichsten
7883 Punkten eine Übereinstimmung mit dem Mechanismus der Traum-
7884bildung, den ich in dem Abschnitt „Traumarbeit“ meines Buches
7885 über die Traumdeutung auseinandergesetzt habe. Die Ver-
7886dichtungen und Kompromißbildungen (Kontaminationen) findet
7887 man hier wie dort; die Situation ist die nämliche, daß unbewußte
7888 Gedanken sich auf ungewöhnlichen Wegen, über äußere Asso-
7889ziationen, als Modifikation von anderen Gedanken zum Ausdruck
7890 bringen. Die Ungereimtheiten, Absarditäten und Irrtümer des
7891 Trauminhaltes, denen zufolge der Traum kaum als Produkt
7892 psychischer Leistung anerkannt wird, entstehen auf dieselbe
7893 Weise, freilich mit freierer Benützung der vorhandenen Mittel,
7894 wie die gemeinen Fehler unseres Alltagslebens; hier wie
7895 dort löst sich der Anschein inkorrekter Funktion
7896 durch die eigentümliche Interferenz zweier oder
7897 mehrerer korrekter Leistungen. Aus diesem Zusammen-
7898treffen ist ein wichtiger Schluß zu ziehen: Die eigentümliche
7899 Arbeitsweise, deren auffälligste Leistung wir im Trauminhalt er-
7900kennen, dari nicht auf den Schlafzustand des Seelenlebens zurück—
7901 geführt werden, wenn wir in den Fehlhandlungen so reichliche
7902 Zeugnisse für ihre Wirksamkeit während des wachen Lebens be-
7903sitzen. Derselbe Zusammenhang verbietet uns auch, tiefgreifenden
7904 Zerfall der Seelent'altigkeit, krankhafte Zustände der Funktion als
7905

§ 1266

die Bedingung dieser uns abnorm und fremdartig erscheinenden
7906 psychischen Vorgänge anzusehen 1).
7907

§ 1267

Die richtige Beurteilung der sonderbaren psychischen Arbeit,
7908 welche die Fehlhandlung wie die Traumbilder entstehen läßt,
7909 wird uns erst ermöglicht, wenn wir erfahren haben, daß die psycho-
7910neurotischen Symptome, speziell die psychischen Bildungen der
7911 Hysterie und der Zwangneurose, in ihrem Mechanismus alle wesent-
7912lichen Züge dieser Arbeitsweise wiederholen. An dieser Stelle
7913 schlösse sich also die Forsetzung unserer Untersuchungen an. Für
7914 uns hat es aber noch ein besonderes Interesse, die Fehl-, Zufalls-
7915

§ 1268

1) Vgl. hierzu „Traumdeutung“ S. 362. (3. Aufl. S. 406.)
7916

§ 1269

7917

§ 1270

——-198——-
7918

§ 1271

und Symptomhandlungen in dem Lichte dieser letzten Analogie
7919 zu betrachten. Wenn wir sie den Leistungen der Psychoneurosen,
7920 den neurotischen Symptomen, gleichstellen, gewinnen zwei oft
7921 wiederkehrende Behauptungen, daß die Grenze zwischen nervöser
7922 Norm und Abnormität eine fließende, und daß wir alle ein wenig
7923 nervös seien, Sinn und Unterlage. Man kann sich vor aller
7924 ärztlicher Erfahrung verschiedene Typen von solcher bloß ange-
7925deuteter Nervosität — von formes frustes der Neurosen —— kon-
7926struieren: Fälle, in denen nur wenige Symptome, oder diese selten
7927 oder nicht heftig auftreten, die Abschwächung also in die Zahl,
7928 in die Intensität, in die zeitliche Ausbreitung der krankhaften Er—
7929 scheinungen verlegen; vielleicht würde man aber gerade den Typus
7930 nicht erraten, welcher als der häufigste den Übergang zwischen
7931 Gesundheit und Krankheit zu vermitteln scheint. Der uns vor-
7932liegende Typus, dessen Krankheitsäußerungen die Fehl- und Symptom-
7933handlungen sind, zeichnet sich nämlich dadurch aus, daß die
7934 Symptome in die mindest wichtigen psychischen Leistungen ver-
7935legt sind, während alles, was höheren psychischen Wert bean-
7936spruchen kann, frei von Störung vor sich geht. Die gegenteilige
7937 Unterbringung der Symptome, ihr Hervortreten an den wichtigsten
7938 individuellen und sozialen Leistungen, so daß sie Nahrungsauf-
7939nahme und Sexualverkehr, Berufsarbeit und Geselligkeit zu stören
7940 vermögen, kommt den schweren Fällen von Neurose zu und
7941 charakterisiert diese besser als etwa die Mannigfaltigkeit oder
7942 die Lebhaitigkeit der Krankheitsäußerungen.
7943

§ 1272

Der gemeinsame Charakter aber der leichtesten wie der
7944 schwersten Fälle, an dem auch die Fehl— und Zufallshandlunge—n
7945 Anteil haben, liegt in der Rückführbarkeit der Phänomene
7946 auf unvollkommen unterdrücktes psychisches Material,
7947 das, vom Bewußtsein ab gedrängt, doch nicht jeder Fähig-
7948keit, sich zu äußern, beraubt worden ist.
7949

§ 1273

7950

§ 1274

Inhaltsangabe.
7951

§ 1275

I. Vergessen von Eigennimen.
7952

§ 1276

IL Vbrgessen von fremdspraehigeu Worten
7953

§ 1277

m. Vergessen von Namen und Wartiolgen
7954

§ 1278

rv. Über Kinäheits- und Deukerinnemugen
7955

§ 1279

V. DnaVex-sprechen , . . . . . _ .
7956

§ 1280

VI. Verlegen und Versehreihen . . . .
7957 vu Vergessen von Eindrücken und Vor (zen .
7958 VIII DasVe1-greifeu . . . .
7959 IX. Symptom und anallshandlnngen . . . .
7960

§ 1281

x.1mm„ .
7961

§ 1282

XI. Kombinierte Fehllnistunge-n
7962

§ 1283

XII. Demminismns. — Zuful\s- nnd Aberglm'l'hen. 7 Gesichtapunkte
7963

§ 1284

_ ——€
7964

§ 1285

3103
7965

§ 1286

—«w®
7966 CO 341
7967

§ 1287

p.;
7968 (
7969

§ 1288

sum
7970

§ 1289

11
7971 18
7972 34
7973 41
7974 75
7975 87
7976 112
7977 133
7978 151
7979 159
7980 165
7981

§ 1290

7982